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Vom Beherrschen und Selbstbeherrschen zum Staunen

Himmlische Klänge ließen Sir John Eliot Gardiner und unter seiner Leitung die von ihm gegründeten Ensembles, der Monteverdi Choir und die English Baroque Soloists, in der Berliner Philharmonie erklingen. Im Rahmen des Berliner Musikfest 2021 traf hier am 3. September 2021 Georg Friedrich Händel auf Johann Sebastian Bach, konkreter drei Kantaten, die zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten, in unterschiedlichen Zusammenhängen und zu unterschiedlichen Zwecken komponiert wurden:

Händel verfasste seine eindrucksvolle Psalmvertonung für Soli, Chor und Orchester „Dixit Dominus“ während seiner vier Jahr währenden Italienreise, vermutlich begann er sie in Venedig und stellte sie 1707 und zwar im April in Rom fertig, so dass sie, ohne dabei einem Auftrag gefolgt zu sein, in der Kirche Santa Maria in Monte Santo, in Rom, im Juli 1707 uraufgeführt wurde. „Donna, che in ciel di tanta luce splendi“ war anschließend eine Auftragsarbeit von Papst Clemens XI. Die Kantante für Sopran, Chor und Orchester mit einem feierlichen Chorfinale schrieb Händel während seines Romaufenthaltes 1707/08 und wurde hier in Santa Maria in Ara Coeli im Februar 1708 uraufgeführt. Bachs frühe Choralkantate für Soli, Chor und Orchester „Christ lag in Todes Banden“, die Vertonung des gleichnamigen Osterliedes von Martin Luther aus dem Jahr 1524, entstand vermutlich während Bachs Aufenthalt in Mühlhausen 1707/08, wo er sich in der Blasiuskirche auf die vakante Organistenstelle vorstellte und wohl auch als Komponist empfehlen wollte.

„Donna, che in ciel di tanta luce splendi“: Herrin, die du voll Glanz im Himmel prangst

© Astrid Ackermann / Musikfest Berlin.

Es mag an einer vorangehenden Lektüre Michel Foucaults und an Gesprächen zu Foucaults Governementalitätsstudien („gouverner“ + „mentalité“), also zu Formen von Regierungen, Machtausübungen und Vermachtungen gelegen haben, dass hier im Folgenden statt einer Konzertrezension ein Essay entstanden ist, der sich an Ideenhistoriker*innen, Musik- und Kunstwissenschaftler*innen und ästhetische Philosoph*innen wendet:

Denn inmitten dieses Konzertes verschmolzen die von Foucault analysierte Pastoralmacht der christlich-religiösen Konzeption, die die Beziehung zwischen Hirt und Herde organisiert, mit derjenigen Macht, die sich zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert in weitere Bereiche des Regierens und zwar auf alle denkbaren Aktivitäten und Handlungen ausweiten sollte.

„Dixit Dominus“: Der Herr sprach 

© Astrid Ackermann / Musikfest Berlin.

Zu Beginn der Neuzeit entsteht eine neue Form der Pastoralmacht, die sich als Totalisierungs- und Individualisierungstendenz moderner Staatlichkeit und moderne Subjektivität zeigt. Statt Seelen werden nun, so Foucault, Menschen regiert, weder die Gesetze Gottes noch die Interessen eines irdischen Herrschers würden sich nun mehr artikulieren, sondern eine Governementalität, die den modernen Menschen herausbilden lässt. An diesem Punkt weiten sich die innerhalb des Christentums entwickelten Führungstechniken (durch Beichte und Gehorsam) aus, erfahren eine Säkularisierung und entwickelten sich zu Mechanismen und Technologien der Disziplin. Christi Himmelreich ging bekannterweise in den Aufbau von geopolitischen Territorial- und Kolonialreichen über. 

In genau diesen konzeptionellen Zwischenraum fallen Händel und Bach mit ihren Kompositionen von 1707/1708: Sie sind noch christlich pastorale und schon politische Machttechniken, die Regierungskünste sind zu diesem Zeitpunkt, so die These dieser Überlegungen, heterogen und diskontinuierlich, sie sind nicht mit religiösen oder staatlichen Institutionen identisch noch auf ein politisches System beschränkt, sondern sie zeigen sich in einer vielfältigen und doch eindeutigen Weise der Lenkung, Kontrolle und Leitung. Hier verknüpfen sich Herrschaftstechniken mit den Technologien des Selbst, Staatsformierung mit Subjektivierung. Fremdführung fällt mit Selbstführung, Beherrschung mit Selbstbeherrschung zusammen, und das umfasst sowohl die Instrumente, die Notensysteme, die Generalbassschrift, die Harmonien und Akkorde wie auch die Körper und Blicke, die Emotionen und Affekte, sowohl auf Seiten der Musizierenden als auch auf Seiten der Rezipierenden – mit einem akustischen und visuellen Ergebnis, das wahrlich zum Staunen bringt: „Halleluja“. So wird ansichtig, dass Macht keine einseitige Angelegenheit und das sich hierin entwickelnde (produ- wie rezipierende) „Subjekt“ auch nicht ohne Zwei- oder Mehrdeutigkeit zu haben ist.

„Gloria Patri“: Ehre sei dem Vater 

Ann Hallenberg, Mezzosopran. © Astrid Ackermann / Musikfest Berlin.

Zeitlich nur knapp bevor das moderne, ästhetische Regime der Künste und dessen Betriebssystem in seinen Normativen der Präsenz, des Geniehaften und des Autonomen begründet und von einer Funktionslosigkeit befreit wurde, demnach Entregelungsprozesse in Gang gesetzt wurden, versetzen Händel und Bach beide Seiten des musikalischen Ereignisses in eine transitorische Lage. Mag hier die Ursache liegen, dass der Gründungsmoment des ästhetischen Regimes im 18. Jahrhundert noch von der Pastoralmacht überlagert war, so dass im ästhetischen Regime noch knapp die Dimensionen des Glaubens, der Wahrheit, der Schönheit, der Tugend und des Gehorsams eingenäht sind, so dass hier Versprechen (etwa ein Versprechen auf Freiheiten in Unabhängigkeit vom Regierungshandeln und damit ein machtfreies Areal) in Aussicht gestellt werden (können), die nicht einlösbar sind? Wurden so und zu dem Zeitpunkt die Bedingungen organisiert, unter denen beispielsweise die Freiheiten für die Kunst und Künste nicht produziert, sondern lediglich fabriziert werden? Und welche konstitutive (politische, historische) Rolle spielt innerhalb dieser Überlegungen die Generalbasspraxis (Basso continuo), die die polyphone Vokalmusik der vorangegehenden Epochen ablösten und auf eine Monodie umstellte? Deuten sich mit und in dem Basso continuo dieser Zeit bereits die im 18. Jahrhundert aufkommenden Sicherheitsmechanismen an, die dann zu der wichtigsten Aufgabe der Regierungsrationalität führen?

Hier wären Musik-, Kunst- und Kulturarchäologen aufgefordert, sich noch einmal mit dem 18. Jahrhundert auseinanderzusetzen und dessen Schichten freizulegen, an denen sowohl Bach und Händel, aber auch David Hume und Immanuel Kant beteiligt waren.

Literaturempfehlungen:

Foucault, Michel: Die Gouvernementalität, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/Main 2000, S. 41–67.

Lemke, Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg/Berlin 1997.

Hörempfehlungen:

Aufzeichnung auf Musikfest Berlin on Demand, bis 14.09.2021, 16 Uhr: https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/on-demand/2021/musikfest-berlin/english-baroque-soloists.html

oder:

https://youtu.be/dS65-ZvUSSM

Sun&Sea (Marina), diesmal klimaneutral

Zwei Vorbedingungen waren nahezu perfekt, um die preisgekrönte Performance-Oper der Biennale in Venedig 2019 Sun&Sea (Marina) nach Luckenwalde in Brandenburg, 80 Kilometer südlich von Berlin, zu holen:

Erstens ist in Luckenwald 1928 ein von Hans Hertlein projektiertes Stadtbad errichtet worden, mit Wannen- und Duschbädern, Saunen und Massageräumen, mit einer überdachten Schwimmhalle und einer erhöhten, umlaufenden Galerie. Sun&Sea fand 2019 auf der Venedig Biennale in einer künstlichen Indoor-Beach-Kulisse in einem historischen Gebäude des Arsenale statt, hierfür wurden 30 Tonnen Sand nach Venedig transportiert. In Luckenwalde konnte Sun&Sea in einem tatsächlichen, noch dazu seit 15 Jahren verlassenen und zunehmend vom Verfall bedrohten Stadtbad stattfinden, so wie es sich die drei Initiatorinnen Rugile Barzdžiukaite, Vaiva Grainyte und Lina Lapelyte bei ihren Plänen für Sun&Sea ursprünglich gewünscht hatten.

Zweitens konnte der Strom des denkmalgeschützten Stadtbads für die Kunstproduktion durch die Abwärme des benachbarten Kraftwerks, gebaut 1913, generiert werden: Das frühere Kohlekraftwerk wurde 2019 als ein „Kraftwerk & Kunstzentrum“ reaktiviert, das seinen Strom durch Holzgasifizierung von Fichtenholz aus den brandenburgischen Wäldern herstellt und als sogenannten „Kunststrom“ in ein überregionales Netz einspeist. Sun&Sea, der Biennale-Erfolg von 2019, thematisiert den anthropogenen Klimawandel und die drohenden, vom Menschen verursachten Umweltkatastrophen – so zumindest die einstimmige Lesweise der Rezeption –, allerdings ohne das Thema auch nur ein einziges Mal explizit zu erwähnen. Eine gemeinnützige und zirkulierende Einspeisungsskulptur in Form des zusammengekoppelten „Kraftwerks und Kunstzentrums“ Luckenwalde bietet beispielhaft eine gegenwärtig-visionäre Gegenerzählung zu dem, was Sun&Sea künstlerisch performiert. 

Das leerstehende Bauhaus-Stadtbad als Bühne und Kulisse und das E-Werk Luckenwalde „Kraftwerk & Kunstzentrum“ als Gastgeber und Stromversorger von und für Sun&Sea liefern damit weitere, nicht unwesentliche Bedeutungsebenen, zum Beispiel eine bis auf die Anreise und die Unterbringungen nahezu 100-prozentige CO2-neutrale Energieerzeugung, wie Pablo Wendel auf der Eröffnungsfeier betont. Dies dürfte die Inszenierung der Produktion an dem Wochenende 17. und 18. Juli 2021 wesentlich von allen anderen Stationen ihrer bisherigen und künftigen Tour unterscheiden, denn Sun&Sea wurde bereits 2017 in der Vilnius’ National Gallery of Arts uraufgeführt und war seit der Biennale 2019 in Venedig an verschiedenen Orten (Bergen/Norwegen, Zürich, Kopenhagen) zu erleben. Der Kontext des verlassenen Stadtbads potenziert die dystopische Dimension der Performance-Oper; in dem Kontext des E-Werks Luckenwalde wird der Klimawandel nicht nur implizit thematisiert, sondern hier werden in Berücksichtigung der Produktionsbedingungen alternative Energiebedingungen hergestellt. Damit handelt es sich um ein prototypisches Beispiel, wie der Kontext der Produktionsbedingungen die Bedeutungsbildungsprozesse künstlerischer Arbeiten und damit ihre Glaubhaftigkeit und Visionsfähigkeit und zwar im besten Sinne der hier angelegten ökologischen Themen beeinflusst. Hinzu kommt der Ort Luckenwalde selbst, den die Besucher*innen, ob mit der Bahn oder dem Auto angereist, auf ihrem Weg zum Kunstereignis passieren: Ein erodierender Ort, welche Gründe auch immer sich hier treffen …

Daher dürfte es den künstlerischen Leiter*innen Helen Turner und Pablo Wendel, die vor einigen Jahren das E-Werk erworben und reaktiviert haben, nicht schwer gefallen sein, das Team von Sun&Sea um die Filmemacherin Barzdžiukait?, die Schriftstellerin Grainyt? und die Komponistin, Musikerin und Performancekünstlerin Lapelyt? sowie die Kuratorin Lucia Pietroiusti (verantwortlich für das Programm General Ecology der Serpentine in London) zu überzeugen, dass sich das Stadtbad Luckenwalde und das nachbarschaftliche E-Werk hervorragend als Produzent eigne, um Sun&Sea an genau diesem Ort ein weiteres Mal zu inszenieren. Nachdem durch die Covid-19-Pandemie die Produktion drei (oder vier?) Mal verschoben werden musste, wurde sie nun gerade an einem Wochenende aufgeführt, an dem hohe Temperaturen mit sehr hoher Luftfeuchtigkeit herrschten und im Westen der Republik viele Menschen gegen ein Jahrhunderthochwasser ankämpften. Auch diese Kontextbedingungen hinterlassen ihre Spuren im Rezeptionsvorgang von Sun&Sea

Wie schon 2019 auf der Biennale in Venedig standen die Besucher*innen der Performance getrennt von dem Performance-Geschehen auf einer umlaufenden Empore, um aus erhöhter Position auf die annähernd einstündigen Ereignisse einige Meter unter ihnen hinabzublicken: auf ein älteres Paar, das sich gegenseitig ihre Körper eincremte, ein schwules junges Paar, das sich nicht von der Hand ließ, ein Teenager-Zwillingspaar mit langen dicken Zöpfen, Ball oder Frisbee spielende Kinder, eine Yoga-Sonnengruß praktizierende junge Frau, eine strickende ältere Dame… Instantan und synchron entstanden so viele kleine, fraktale, montierte Mieses en Scène, manche von ihnen kamen innerhalb des dramaturgischen Gesamtnarrativs miteinander in Kontakt. Die Besucher*innen blieben Zuhörer*innen und Zuschauer*innen, allerdings in einer trotz ihrer physischer Anwesenheit eigenwilligen Abwesenheit. Denn trotz ihres eindimensional gerichteten, voyeristischen, die Szenerie überwachenden, hierarchischen Blicks von oben nach unten stießen sie auf die undurchbrochene vierte Wand des Theaters, blieben von den Performer*innen von unten nach oben ungesehen und wurden zwischen unterschiedlichen (mit Gérard Genette extra-, intra- und metadiegetischer) Zeitlichkeiten der Erzählhandlung und der Eigenwelt gehalten.

Von den gut 30 Performer*innen sangen etwa die Hälfte, auf ihren Handtüchern oder ihren Strandstühlen liegend, jede/r Opernsänger/in zunächst ganz für sich in seinen/ihren Gedanken sinnierend: über Ferien am Great Barrier Reef, über das schöne Leben („Oh la Vida“) und das „Liegen am Strand“, aber auch über ihre sichtbaren Hautveränderungen, das Korallensterben, die Euthropierung der Meere, über unvorhergesagte Vulkanausbrüche, Ertrunkene in Meeresströmungen, Panikattacken, Überhitzungs- und Müdigkeitssymptome:

„… gib hier noch Creme / auf meine Beine / Sonst Schälen sie sich noch / Werden rissig / Komm, ich crem dich auch ein… / Rot wie ein Krebs wirst du dich sonst (noch) …“

„Es empfiehlt sich, am Ufer zu bleiben, Kinder nicht unbeaufsichtigt Sandburgen bauen zu lassen und Steinchen und Muscheln, Bernstein und Zähnchen sammeln zu lassen! …“

„Der Vulkanausbruch war plötzlich eingetreten. Alle Diagramme und Tabellen null und nichtig. Die Kliamforscher hatten dieses Szenario gar nicht vorhergesehen.“

Die, in die „Performance-Oper“ eingestreuten, apokalyptischen Themen kollidierten mit dem Sichtbaren und waren nur aus dem auf Papier verteilten Libretto herauszulesen, vereinzelt aus dissonanten Kompositionen herauszuhören oder durch bedrohliche Soundübersteuerungen der Synthesizer zu interpretieren: „Die Krisen der Gegenwart entfalten sich leicht und leise – wie ein Popsong am allerletzten Tag der Erde“, heißt es im Begleittext der Veranstaltung und thematisiert damit eine bedrohliche Trivialität, wie sie auch in etlichen Bildungsromanen vor gut 100 Jahren erzählt wurde. Hier knarrt und keucht eine erschöpfte Erde, schreibt die Kuratorin Pietroiusti und Sätze wie solche geben klar den Bedeutungskontext und -zusammenhang vor. Die Einzelstimmen, die in englischer Sprache Soloparts wie die „Arie der Sirene“, das „Lied des Wetterchaos“ oder den „Überhitzungschanson“ sangen, wurden zwischendurch immer mal wieder in einem viel- und mehrstimmigen „Urlauberchor“ zusammengeführt und hierin entweder vokal belassen oder durch einen minimalistisch reduzierten Synthesizer-Sound begleitet. Das Stadtbad verstärkte seinerseits durch Echobildungen im Raum. 

Sichtbar war eine unaufgeregte und harmlose Ferien- und Strandszenerie mit allen erwartbaren und unschuldig wirkenden Sommer- und Strandutensilien: Sonnencreme und Wasserflaschen, Flip Flops und Strandtaschen, Bücher und Handys, Sonnenschirme und Strandmatten, so dass hier statt von einer (von den Initiatorinnen so bezeichneten) Performance-Oper vielleicht doch besser von einer theatral/kinematografisch performativen Installation die Rede sein und damit auch das ‚in between‘ prononziert werden könnte. Wie die Gattungszuweisungen untereinander standen auch Szenographie und Performance in Diskrepanz zu Musik und Libretto. Die Patina der historischen, vom Verfall bedrohten Architektur drängte zu der Annahme, dass es sich hier um mehr als um die sichtbare Oberfläche handeln könnte, dass hier ein Mosaik von visuellen, akustischen, räumlichen, gefühlten, erzählten, imaginierten … Bedeutungen aufgeschichtet wird, die sich nach meinem Eindruck zu einer noch fragileren und dysfunktionaleren Szenerie und zwar einer Kakophonie vieler Stimmen (nicht) hätte vereinen können, statt in dieser Balance gehalten zu werden. Mag das damit zu tun haben, dass seit der Uraufführung bereits vier Jahre vergangen sind und sich die Umweltzerstörungen auch sichtbar zeigen? Oder hat sich die Lesweise der künstlerischen Arbeit mittlerweile eindimensioniert auf die ökologische Dimension reduziert? Die inhaltliche Dimension jedenfalls findet sich auch in der formalen Entscheidung wieder, die Performance über mehrere Stunden hinweg als einen repetetiven Loop ohne Anfang und Ende, ohne Ein- und (tröstlichen) Ausstieg aufzuführen und damit die Besucher*innen in between in die performierte Illusionsbrüchigkeit einzufangen.

70 Tonnen Sand wurden hierfür aus einer 200 Meter entfernten Sandgrube in das Stadtbad transportiert, von Hand gesiebt und auf 500 Holzpaletten verteilt, um das Höhenniveau und die Schräge des leeren Schwimmbeckens zu überwinden. Ein unter dem Sand verlaufender Feuerwehrschlauch trocknete und wärmte den feuchten Sand mit der Abwärme des benachbarten E-Werks. Zusammen mit den umliegenden Scheinwerfern als falsche Sonnen, die das Farbspektrum der Szenerie überbelichteten, heizte sich das Strandbad zu einem feucht-warmen Raum auf, in dem sich die Besucher*innen, mit Corona-Schutzmasken ausgestattet und am Geländer lehnend, mit dem Librettopapier Luft zufächelten. Um diesen Kraftakt zu finanzieren, initiierten Turner und Wendel zusammen mit ihrem Team neben der finanziellen Unterstützung etwa durch die Neustarthilfe der Bundeskulturbeauftragten und private Stiftungen eine Crowdfunding-Kampagne auf kickstarter.com, die 43.044 € einwarb und damit ein Drittel der Kosten abdeckte. „E-WERK Luckenwalde is an example of an institution that thinks ecologically across all levels of its programming and infrastructure“, sagt die Kuratorin Lucia Pietroiusti. Damit könnte sie auch meinen, dass der in Luckenwalde im E-Werk produzierte „Kunststrom“ in ein überregionales Netz eingespeist wird und jederzeit zur eigenen Energieversorgung genutzt werden kann . Darüber hinaus werden 100 Prozent der Einnahmen wiederum in Kunst und Nachhaltigkeit der gemeinnützigen Organisation investiert.

Weitere Stationen 2021: Athen, Malmö

For further reading in English please see the bachelor thesis by Sandrina Welte 2020: The Lithuanian Pavilion of the 58th Venice Biennale: Sun & Sea (Marina), A Cacophonous Beach Humming with the Artistic Rhetoric of Performative Reflection, Studiengang Kunstgeschichte, Department Kunstwissenschaften, Ludwig-Maximilians-Universität München

„For The Phoenix To Find Its Form In Us.“

„Damit der Phönix seine Form in uns findet“, ist der Titel der aktuellen Ausstellung im Berliner Kunstraum SAVVY Contemporary

In den Räumen eines brutalistischen Gebäudes aus den 1970er Jahren, in denen zuvor ein Supermarkt, ein Casino und Firmen aus den Bereichen Film-, Fotografie- und Musikproduktionen untergebracht waren, eröffnete im September 2020 das „Laboratory of Form-Idea“. SAVVY wurde 2009 von dem promovierten Biochemiker Bonaventure Soh Bejeng Ndikung als „Kunstraum, diskursive Plattform, Ort für gutes Essen und gute Getränke, Njangi-Haus und Raum für Gastlichkeit“ gegründet und positioniert sich heute nach mehreren Ortswechseln innerhalb Berlins als SAVVY Contemporary „an der Schwelle zwischen Vorstellungen und Konstrukten des Westens und des Nicht-Westens“. SAVVY will/soll nach Vorstellung der Initiator*innen ein Raum sein, der die Forderung des portugiesischen Soziologen Boaventura de Sousa Santos, dass ein anderes Wissen möglich sei, verkörpert und herausschreit. Verkörpern und Schreien gelingt allein durch die Architektur und die Lage des Hauses, an der prominenten Weddinger Kreuzung Reinikendorfer/Gerichtstr., gegenüber dem Nettelbeckplatz, inmitten des noch jungen Quartiers Pankstr. , in der Nähe der S- und U-Bahn-Station Wedding. An der brutalistischen Fassade flattern und formen nun größerformatige Pailletten den Namen des Kunstraums und können durch die eingefangenen Lichtreflektionen kaum übersehen werden. Um „die Kolonialitäten von Macht“ (Anibal Quijano) zu reflektieren und „darüber nachzudenken, wie diese Geschichtsschreibungen, Geographien, Gender und Ethnizität beeinflussen“, kommen hier Formate wie Ausstellungen, Workshops, Publikationen, Residenzen und Performances zum Einsatz. 

Ndikung, 2020 vom Land Berlin mit einem Verdienstorden ausgezeichnet, ist jüngst zum neuen Intendanten des Berliner Hauses der Kulturen der Welt ab 2023 berufen worden. Parallel zu SAVVY war er 2015 als Curator-at-Large Teil des kuratorischen Teams der documenta 14, zuvor und im Anschluss verantwortete er verschiedene Ausstellungen in Algier, Dakar und Sonsbeek, 2019 kuratierte er zusammen mit dem Miracle Workers Collective den finnischen Pavillon auf der Venedig Biennale. Ndikung ist Initiator und Chefredakteur der Zeitschrift SAVVY art.contemporary.african, im Untertitel „critical texts on contemporary art“, und veröffentlichte im März den Essayband „The Delusions of Care„, in dem Ndikung sich mit dem Begriff der Fürsorge (care) auseinandersetzt, dabei sowohl die Fallstricke des korrumpierten Begriffs in den Blick nimmt, als auch versucht, Wege zur Rehabilitation, Wiederherstellung und Wiedergutmachung „durch einen nicht selbstsüchtigen Geist der Fürsorge“ zu denken.

Zweien dieser drei Substantive, „rehabilitation“ und „restitution“, widmet sich auch die aktuelle Ausstellung im SAVVY (23.6. bis 22.8.2021) und reichert sie mit einem dritten an, mit „reparation“. Gemeinsam mit den Kuratorinnen Elena Agudio und Arlette-Louise Ndakoze stellt Ndikung hier künstlerische Positionen von 20 Künstler*innen* aus, um die aktuelle Restitutionsdebatte, die sich auf den Teilbereich der Rückgabe konzentriert, anzureichern beziehungsweise, wie Ndikung formuliert, zu verkomplizieren. Rückgabe ginge von einer „Vorstellung von Raum und Zeit des Fortgangs“ aus und berücksichtige nicht die Wunden, die Gewalt, die Entbehrungen und Zerstörungen, die mit den Enteignungen einher gehen. „Wie können wir über Restitution in einem Kontext nachdenken, in dem sich Zeit und Raum nicht nur verändert haben, sondern noch prekärer geworden sind und die Grausamkeit der Kolonialität andere Formen angenommen hat?“

Mit dem Ausstellungsprojekt „For The Phoenix To Find Its Form In Us. On Restitution, Rehabilitation, and Reparation“, das in Kooperation mit der ifa Gallery Berlin** und dem Jameel Arts Centre in Dubai stattfindet und u. a. durch die Kulturstiftung des Bundes finanziert wird, widmet sich SAVVY den Bereichen Restitution, Rehabilitation und Entschädigung als Möglichkeiten, über die bloße Rückgabe von Objekten hinauszugehen. Für den Titel leiht sich das Kurator*innenteam eine Zeile aus einem Gedicht des palästinensischen Schriftstellers Mahmoud Darwisch: „Tuesday: The Phoenix. It is enough that you pass by words. For the phoenix to find its form in us …“ Die Mythologie des Phönix‚, der am Ende seines Lebenszyklus‘ verbrennt, um aus seiner Asche wieder neu zu erstehen, soll für die Ausstellung das Narrativ einer Wiederherstellung, Rehabilitierung und Wiedergewinnung jener Subjekte/Objekte/Wesen/Technologien erzählbar machen, die durch europäische Institutionen und ethnografische Museen, durch Menschen, Länder und Kulturen „in den Klauen des kolonialen Unternehmens weltweit“ waren – und sind.

Mit Fotografien, Videos, Audios, Objekten, Installationen, Zeichnungen, Performances, Vorträgen und Workshops sowie lokalen Laboratorien in Kamerun, Nigeria, Ruanda, Palästina, Kolumbien, Philippinen und den Vereinigten Arabischen Emiraten versucht das künstlerische Konzept, die trennende Unterscheidung von Objekten und Subjekten aufzuheben. Denn viele der sogenannten Objekte, die in westlichen Museen und Institutionen ausgestellt werden, waren/sind keine Objekte, auch keine Kunstobjekte, sondern Rituale, spirutelle Wesen, kulturelle Entitäten und Essenzen, so dass zunächst die deklarierten Objekte von ihrer Objekthaftigkeit befreit werden müssen. Dafür wären, so das Ausstellungskonzept, drastische Verschiebungen im westlichen Verständnis von Kunst, Autorschaft und Gesellschaft notwendig. 

Diese drastischen Verschiebungen umfasst auch das Sprechen und Schreiben dessen, was zu sehen und zu hören, was nicht zu sehen und nicht zu hören ist. Zwar sind Autor*innen namentlich im ausliegenden Konzepttext genannt, finden aber im Ausstellungsraum selbst keine Erwähnung. Auch ist die Zuordnung zu den genannten Medien und Gattungen nicht so eindeutig und zweifelsfrei, wie es scheint: Ist die Grünpflanze im Eingangsbereich ein Exponat, ein Ausstellungsdisplay, eine Designposition, eine solidarische Gemeinschaft zwischen Non-Humans and Humans im Urban Space oder ein urbaner Agent? Gleiches gilt für verschiedene Einzelobjekte im Raum. Außerdem: Welcher Sound gehört zu welcher Visualisierung? Ist er überhaupt einer Visualisierung zugeordnet? Sind Objektaus- bzw. überleuchtungen oder Verdunklungen kuratorische Entscheidungen oder Bestandteil des künstlerischen Konzepts? Sind Blickverweigerungen kuratorische Entscheidungen, Resultat räumlicher Vorgaben, Bestandteil des künstlerischen Konzepts oder strategische Regimesichtbarmachungen? Und sind Überblendungen durch Sonneneinstrahlung auf Computerdisplays oder verblasste Farbfotografien in den Schaufenstern Kollateralschäden oder intendierte und implementierte Bedeutungsebenen? Das „Haus der Weißen Herren“ steht hier nicht mehr nur zur Diskussion und Disposition, sondern wird bereits im Ansatz affektuell, emotional und rezeptiv angegangen. Ich zitiere anonym: „SAVVY trifft als nicht-weiße Institution einen Nerv mit seinem Ansatz multi-direktionaler Erinnerung. Die haben kritisches Potenzial …“ und mache den Vorschlag, den hier verhandelten Komplex durch weitere drei R’s auszudifferenzieren und zwar durch Repatriation, Redress und Reconciliation.

*SAVVY Contemporary, 24.06.-22.08.2021, Do-So 14-19h. Mit Basel Abbas & Ruanne Abou-Rahme, Rand Abdul Jabbar, Tanya Aguiñiga, Nora Al-Badri, Daniela Zambrano Almidón & Pablo Santacana López, Memory Biwa, Benji Boyadgian, Hamze Bytyçi, Nora Chipaumire, Julien Creuzet, Ndidi Dike, Gladys Kalichini, Maurice Mboa, Senzeni Mthwakazi Marasela, Noara Quintana, Michael Rakowitz, Gabriel Rossell Santillán, Akram Zaatari.

**ifa-Galerie Berlin, 24.06.-29.08.2021, Di-So 14-18h. Mit Pio Abad, Samia Henni, Jumana Manna, Oumar Mbengue Atakosso, Bhavisha Panchia, Michael Rakowitz

Piper goes basic. Bildung als Demokratievoraussetzung.

Kleiner gleich 15 zu 1 lautet die magische Formel, die Adrian Piper in ihrem jüngsten Kunstprojekt in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stellt. Diese Formel bezeichnet das maximale Verhältnis zwischen Studierenden und Lehrenden, damit Bildung – ob in Schulen, Universitäten oder Berufsschulen – wirksam sein kann. „Jedes Kind und jede*r Studierende verdient diese Bildungsbedingungen.“ Nun setzt die Kausalkette ein: Ohne Bildung, so Piper, wären die Chancen eingeschränkt, das Leben selbst zu bestimmen und beispielsweise für die drängenden Probleme wie Armut, Klimawandel, Extremismus kluge Lösungen zu finden. Das wiederum führe dazu, dass die Wahlbedingungen, auch die politischen Wahlbedingungen eingeschränkt seien, denn: „Um wirksam zu wählen, müssen die Meinungen rational und ausführlich informiert sein.“ Ein gut informierte Meinung und die hieraus resultierende Wahl (auch die politische Wahl) setze eine gute Bildung voraus. Piper notiert ihre Argumentationskette demnach als linearen Dreierschritt: Ohne Bildung —> keine Chance —> keine Wahl. und baut dabei noch eine semantische Doppeldeutigkeit ein: „The German word Wahl means both ‘choice’ and ‘vote’“.

Kindern, Studierenden und Auszubildenden „sollte es möglich sein, umfangreich die Fakten zu erforschen, sie kritisch zu anaylsieren, ihre Folgen rational zu berechnen, alternative Möglichkeiten kreativ vorzustellen und sie fachkompetent auszudrücken und zu verwirklichen“. Die in New York geborene Adrian Piper, die seit 2005 in Berlin lebt und arbeitet, ist promovierte Philosophin, hat über 30 Jahre an sechs verschiedenen Universitäten gelehrt, ist emeritierte Professorin der American Philosophical Association und wurde als Konzeptkünstlerin mehrfach prämiert, u. a. mit dem Goldenen Löwen der 56. Biennale in Venedig 2015, dem Käthe Kollwitz-Preis 2018 und 2021 dem Goslaer Kaiserring. Ihre Arbeit „Wahlkampagne“ fordert ein Schüler-Lehrer-Verhältnis von nicht mehr als 15 Schüler*innen pro Klasse, in Deutschland befände sich der Schnitt zwischen 13 und 33. Während dieses Anliegen zunächst wie eine bildungspolitische Kampagne in Wahlkampfzeiten anmutet, handelt es sich um eine, schon seit 2019 stattfindende Substantiierung, Formuntersuchung und Kausalitätsbegründung von Demokratie, deren „wichtigster Teil nach der Bundestagswahl“ beginnen würde, nämlich die kontinuierliche, nachhaltige und dringliche Betreuung dieser Forderung.  Beabsichtigt ist eine langfristige Politisierung, Selbstermächtigung und Demokratisierung. 

„Wahlkampagne“ ist das Ergebnis Pipers biografischen Erfahrungen, auch ihrer Negativerfahrungen mit dem Bildungssystem, das sie aus ihrem akademischen Weg herausschleuderte: „[…] my professional route through the field of academic philosophy, which branched onto a rocky detour in graduate school, followed by a short but steep ascent, followed next by a much steeper, sustained descent off that road, into the ravine, down in flames, and out of the profession.“ Piper: „Ich [wurde] letztlich aus der Akademie vertrieben“, und so kommt Piper nach gut siebzig Jahren eigenen Lernens und Lehrens zu dem Schluss, dass mehr als 15 Studierenden in einer Ausbildungsklasse zu einem „überfüllten Kinotheater“ führten, in welchem sich jede*r lediglich passiv entspannen würde.

Soweit der konzeptionelle Unterbau: Mit schwarz-weissen Sandwichboards vor dem Bauch und hinter dem Rücken (in 10er Auflage), die sowohl über die Formel kleiner gleich 15 zu 1 als auch die Kausalkette informieren, begaben sich Piper und einige Mitstreiter*innen am 15. Mai 2021 im Rahmen einer angemeldeten Demonstration vor den Bundestag, um mit Passant*innen ins Gespräch zu kommen und Handouts zu verteilen, in denen das Projekt „Wahlkampagne“ textlich vermittelt wurde. Das Handout informiert, dass es sich hierbei um den 3. Teil der von der APRA Foundation Berlin urheberrechtlich geschützten und finanzierten Aktion handelt: „Standardgröße, Auflage von 10 Schichtentafeln, in der Nähe des Bundestags auf der Staße mindestens einmal für eine Stunde zwischen 10 und 18 Uhr in der Öffentlichkeit zu tragen und dabei den Anstecker kostenlos zu verteilen.“

Die nächste Demonstration findet am Dienstag, 22. Juni 2021, zwischen 12 und 14 Uhr, wieder vor dem Bundestag statt. Teil 1 und 2 von „Wahlkampagne“ umfassen die Installation von Schildern an den Fassaden öffentlicher Berliner Gebäude und die kostenlose Verteilung von 15:1-Ansteckern in der Größe 3,5 x 4,5 cm, in unbegrenzter Auflage. Plakate von Argumentationskette und Formel sind zur DIY-Anfertigung downzuloaden – damit wird die ästhetische Tradition künstlerischer „giveaways“ fortgesetzt, allerdings ohne aus dem Öffentlichen zu verschwinden. Die Kosten für Platzierung und Befestigung der Schilder, bevorzugt an Fassaden in der Nähe des Bundestags, übernimmt die APRA Foundation Berlin.

Rirkrit, Ernst und die Balkone

Teil 2 von „Die Balkone“ startete am gestrigen Freitag, 30.4.2021. Nachdem dieses Format 2020, wenige Woche nach dem Beginn der COVID-19-Pandemie, von den beiden Public Art-Kuratorinnen Övül Ö. Durmusoglu und Joanna Warsza ohne Budget ins Leben gerufen wurde, findet „Die Balkone“ nun schon das 2. Mal und in ähnlicher personeller Beteiligung statt – diesmal aber zeitlich parallel zum Berliner Gallery Weekend und vom Hauptstadtkulturfonds unterstützt. Währenddessen wird das Leben noch immer von der Pandemie bestimmt und die Ausnahme ist längst zur Regel geworden. 

Durmusoglu und Warsza entdeckten während des 1. Lockdowns die Balkone als zugleich private wie öffentliche Orte, als Schwellen und „Terrassen der Offenheit und Hoffnung“, um genau hier und hierdurch kuratorische Begegnungen zu initieren. Sie luden im Prenzlauer Berg lebende Künstler*innen, Kurator*innen, Schriftsteller*innen, Architekt*innen und Choreograph*innen ein, um in ihrer Nachbarschaft erstens Gemeinschaftlichkeit und zweitens Öffentlichkeit herzustellen – beides drohte durch die isolierenden Lockdown-Maßnahmen abhanden zu kommen.

Während Teil 1 der Kunstaktion im halb-öffentlichen, halb-privaten Bereich der Balkone noch zeitspezifisch mit „Life, art, pandemic, proximity in windows&balconies“ benannt wurde, lautet der Untertitel der diesjährigen Aktion „Scratching the Surface“. Diesmal geht es um Ortsspezifizitäten in Form von Gentrifizierungsprozessen im Prenzlauer Berg, von verteidigten Orte wie das Ernst-Thälmann-Denkmal und von (kunst-)historischen Orte wie die frühere Berliner Wohung des Performancekünstlers Rirkrit Tiravanija, die nun im Rahmen von „Die Balkone“ als Künstlerarchiv zu Be-/Deutung gelangen soll:

Tiravanija hatte hier zwischen 1998 und 2004 neben New York und Chiang Mai eine seiner nomadischen Residenzen, auch hier fanden in-situ einige seiner Essen und Treffen mit Künstlerkolleg*innen statt: Seit den 1990er Jahren besteht ein Teil seiner künstlerischen Arbeit darin, Besucher*innen seiner Austellungen zu bekochen und provisorische Situationen für ein gemeinsames Essen herzustellen. Während Tiravanija mit seinen „Food Pieces“ in Galerien und Ausstellungshäusern „Privates“ öffentlich performierte und damit auch den Disziplinierungsrahmen White Cube strapazierte, fügen die beiden Kuratorinnen mit einem „privaten“ Ort in der Greifswalder Straße, an dem Tiravanija seine legendäre Tom Kha Soup gekocht haben soll, der Tiravanija-Rezeption einen weiteren (deutungspotenten) Baustein hinzu. Ein 20-Liter-Topf auf dem Herd in der Küche soll Tiravanija in der Wohnung zurückgelassen haben, das Rezept der Tom Kha Soup wird den heutigen Besucher*innen als Schwarz-Weiss-Kopie überreicht.

Der am Erker-Fenster platzierte, digitalisierte 8mm Film „Greifswalder Strasse“ von Tiravanija zeigt größtenteils Schwarz-weiss-Aufnahmen des städtischen Lebens 1998 um das Ernst-Thälmann-Denkmal, das sich schräg gegenüber befindet. Hierdurch überschneiden sich kuratorisch klug positioniert die Blicke der Ausstellungsbesucher*innen heute einerseits mit Tiravanijas früheren Blicken, andererseits mit malerischen Rezeptionen des Denkmals von Timur Celik, der das Denkmal auf mattem Grau in hyperrealistisch, aber doch verschwommener Malweise auf ungerahmter Leinwand porträtiert und mit Stahlnägeln an die rauhe Wohnungswand geheftet hat.

Video, Denkmal, Leinwand, alles platziert in Tiravanijas ehemaliger Wohnung, nun zu einem (kunst-)öffentlichen Ort transformiert – für die Besucher*innen ergibt sich hiermit (und mit weiteren, selten oder nie gezeigten Arbeiten, die für „Die Balkone“ in der Wohnung installiert wurden, z.B. der Film „Eva and Ulrike“ (1998), der die Kunstrestauratorin Eva Wein, mit der Tiravanija die Wohnung teilte, und ihre Schwester Ulrike genius loci beim Kammerkonzert zeigt, ebenso Videos aus Tiravanijas Residenzen in NY und Chiang Mai) eine anregend zu dekonstruierende Überschneidung von Zeiten, Blicken, Orten, Ost/West, Bedeutungsschichten, Zuweisungen etc. Hier wird in Zusammenarbeit mit Jörn Schafaff, dem Leiter des Rirkrit-Tiravanija-Archivs in Berlin, installativ und kuratorisch die Wohnung als ein Archiv entfaltet. 

An dem sich schräg gegenüber befindlichen, öffentlichen und politisch prekären Denkmal Ernst Thälmanns, bei dem es sich seit 2014 unter Denkmalschutz gestellt um eines der wenigen erhaltenen DDR-Denkmäler handelt, fand gestern Nachmittag die Vernissage von „Die Balkone“ und der Start der laufenden Aktion „Complaints to Ernst, Ongoing“ von Sam Durant und Ana Prvacki statt: Bezogen auf die Idee der Seifenkiste oder des Zócalo als improvisierte Plateaus, die der öffentlichen Rede dienten, lädt „Complaints to Ernst, Ongoing“ ein, der Kolossalstatue Thälmanns mit Megaphonen seine/ihre Sorgen oder Beschwerden mitzuteilen. Aus einer öffentlichen Geste wird dabei unvermutet inmitten eines Publikums und am Rande der stark befahrenden Greifwalder Straße eine leise, intime Zweier-Situation zwischen dem/der Klagenden und dem Denkmal.

Südlich des Thälmann-Denkmals Richtung Mitte befinden sich um die Greifswalder Straße herum verteilt etwa 40 Balkone, nach denen das Gesamtprojekt benannt wurde. Manchmal existieren konkrete Hinweise auf die Autorenschaft, manchmal kann man* nicht sicher sein, ob es sich um eine Arbeit im Rahmen der Balkon-Ausstellung handelt und manchmal schärfen sie den Blick auf Graffitis oder andere Stellungnahmen im Stadtraum.

So pendelt aus einem Balkon ein Vogelkäfig, in dem Adam Broomberg mehrere Utensilien eingeschlossen hat: die Zähne seiner Großmutter, die den Holocaust überlebt hat, ein Knochen seines Hundes Olly aus Kindertagen, das geschenkte Skellett eines Seepferdchens, eine Armbanduhr mit dem Porträt von Sadam Hussein und eine Schachtel Antidepressiva, dazu ein Zettel, der diese Bestandteile auflistet. Eyse Erkmen hat mit „Lonesome George“ eine kleine Bronzeskulptur des letzten Exemplars der mittlerweile ausgestorbenen hawaiianischen Baumschnecke (Achatinella apexfulva) 1:1 gefertigt, die von Eva Scharrer an einem Baum in einem Hinterhof platziert wurde und von einer Studierenden der Weißensee Kunsthochschule bewacht wird. Daher heißt die Arbeit auch paradox formuliert „Lonesome George (with guard)“.

Pinar Ogrenci lässt einen scharz-weißen Stoffdruck mit dem Bild der Kommunalpolitikerin und Widerstandskämpferin Ella Kay von einem Balkon in der Winsstraße flattern, um daran zu erinnern, dass diese Straße vor 1933 nach Kay benannt war.

Christine Würmell montiert schwarz-weiss verschiedene Zeichen der Friedensbewegungen der 1980er Jahre sowohl in der DDR als auch in der BRD, von der Friedenstaube in unterschiedlichen Versionen über das Friedensbanner Stop the Arms Race hin zu Schwerter zu Pflugscharen.

David Rych referenziert mit „Untitled (Our Time)“ die Arbeit „Untitled (Perfect Lovers)“ von Félix González-Torres, mit dem dieser 1991 die noch verbleibende gemeinsame Lebenszeit mit seinem an AIDS erkrankten Partner Ross Laycock thematisierte. 2021 hängen jetzt die beiden Uhren, durch die Tektonik der Fassade vorgegeben, in (epidemischer) Distanz.

In jedem einzelnen Fall werden die Balkone durch die rezeptorischen Blicke eines sich hier nomadisch, fragmentarisch und mobil konstituierenden Kunstpublikums aus einer tendentiell privaten Zurückhaltung herausgerissen und sind damit Akteur potentieller Vergemeinschaftungsprozesse. Gleiches gilt für den öffentlichen Raum: Dieser weitet sich über die rezeptorischen Blicke des Kunstpublikums auf die Kunstwerke als Mittlungen in Privatheiten/Privates, zum Beispiel wer wo wie wohnt. Die Ausstellungsreihe „Die Balkone“, die mittlerweile auch an anderen Orten wie in Kreuzberg, in Paris, Stockholm, Santiago de Chile, São Paulo und Taipeh stattfindet, hat damit das Potential, zusammen mit den anderen Bausteinen der Ausstellung die Fragen zu verhandeln, was Privates/Privatheit/Privatisieren ist, wie Öffentlichkeit/en entstehen, was Kunst im öffentlichen Raum heute (auch im Vergleich zu früheren Konzepten) bedeutet und was Kunst als öffentlicher Raum in Gang zu setzen in der Lage ist.  

Zu sehen bis Sonntag, 2. Mai 2021, 19 Uhr.

Shifting Patterns | DönüŞen Paternler

Die Ausstellung Shifting Patterns | Dönüsen Paternler in der Galerie Nord | im Kunstverein Tiergarten zeigt bis zum 27.03.2021 ausgewählte künstlerische Positionen von sieben Bildhauerinnen „aus der Türkei in Deutschland“. Geboren zwischen 1932 (Yildiz Tüzün) und 1986 (Ekin Su Koç) teilen sie die Erfahrungen von Ortswechseln in verschiedenen Varianten: Einige der Künstlerinnen sind nach Deutschland immigiriert, andere haben zeitweise in Deutschlang gelebt oder wechseln zwischen den Ländern. 

Laut Konzeption der Kuratorinnen Veronika Witte und Ay?e Güngör geht es um die Frage, „ob und in welcher Weise die Erfahrungen von Aus- und Einwanderung die bilhauerischen Strategien von Künstlerinnen aus der Türkei im 20. und 21. Jahrhundert formal wie inhaltlich geprägt haben“. Perspektiviert wird also, ob und wie sich die Biografien der ausgestellten Künstlerinnen in ihre künstlerischen Strategien und ihren Umgang mit Materialien einschreiben.

Zu sehen sind Objekte, Skulpturen, Keramiken, Installationen, Videos und eine Animation, aus den 1990er Jahren und jüngster Zeit. Installiert an der Wand, auf Sockeln unterschiedlicher Höhe, am Boden oder im Raum hängend sind Werke von Burçak Bingöl, Gülsün Karamustafa, Evrim Kavcar, Ekin Su Koç, Azade Köker, Yasemin Özcan und Yildiz Tüzün zu sehen (bzw. corona-bedingt nicht zu sehen, da auch diese Kulturinstitution geschlossen ist). Allerdings sind die von außen einsehbaren Räume mit ihren großformatigen Fenstern dazu geeignet, einen großen Teil der Exponate von außen sehen zu können. Hinzu kommt in der Dämmerung ein Screening der Multi-Image-Arbeit von Evrim Kavcar „Odd Friends, They Are“ (2016) in den Fenstern der Galerie.

Danke an Lusin Reinsch für die Möglichkeit, die Ausstellung gesehen haben zu können!

30.?10.?2020?–?27.?3.?2021, Galerie Nord | Kunstverein Tiergarten, Berlin, Turmstraße 75, 10551 Berlin

Yildiz Tüzün: Agora, 1995/96 und o.T., 1993.
Burçak Bingöl: Plateau, 2017/20.
Azade Köker: Relikte der Stadt, 2018 und Invasion 2+5, 2018.
Ekin Su Koç: Altbau I-XII, 2020.
Azade Köker: Orthopädische Zustände, 2015.
Burçak Bingöl: Follower (1)-(6), 2017.
Burçak Bingöl.

Das Unbehagen der Geschichte(n), künstlerisch-investigativ er- und vermittelt

1950 beschrieb Hannah Arendt die Eindrücke ihres ersten Nachkriegsbesuches von Deutschland in ihrem Essay „Besuch in Deutschland. Die Nachwirkungen des Naziregimes“: Die Verwandlung von Tatsachen in Meinungen sei wohl der erschreckendste Aspekt einer deutschen Realitätsflucht, hier insbesondere die Haltung, „mit Tatsachen so umzugehen, als handle es sich um bloße Meinungen“. Eine Hinterlassenschaft des Naziregimes sei, so Arendt, „die Realität nicht mehr als Gesamtsumme harter, unausweichlicher Fakten wahrzunehmen, sondern als Konglomerat ständig wechselnder Ereignisse“.

Diese Verantwortungsflucht, dieses Empathievakuum, diese Erinnerungs- oder auch Moralleerstelle, kurz diese „Gleichgültigkeit“ und „Apathie“ (Hannah Arendt) mögen seither und zwar bis heute ursächlich für diejenigen Geschehnisse sein, die die Regisseurin, Schauspielerin und Politikwissenschaftlerin Christiane Mudra recherchiert, montiert und in einen szenischen Text überführt hat und dessen nüchtern-klarer Titel „Kein Kläger. NS-Juristen und ihre Nachkriegskarrieren“ unzweifelhaft die Stoßrichtung vorgibt.

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7+3 Stunden Antikenplot in installativer Gattungsmontage

I. Sprechtheater

Noch bevor die 10 Stunden Antike „Dionysos Stadt“  in der Regie von Christopher Rüping auf der Bühne des Berliner Festspielhauses starten, entfaltet Nils Kahnwald im Prolog der Stückmontage ein zu befürchtendes Ausmaß der nächsten 10 Stunden: 

In den hell erleuchteten Zuschauerraum, die 4. Wand durchbrechend, referiert er über den zu erwartenden Ablauf, die 3 einkalkulierten Pausen, die englischen Untertitel an den Wänden, die zwingend anzuratende Toilettennutzung in der 2. Pause, sein bald stattfindendes Stagediving, für das er die Beteiligung des Publikums benötige, die zu antizipierenden Körperbeschwerden in Rücken, Augen und Gelenken, die Raucherampel, die bei grün Raucher auf die Bühne einlädt, szenisch zu rauchen, die zwei Tauben, die gegen das Scheinwerferlicht fliegen werden und damit ihrem Leben selbst ein Ende setzen, den Verdienstausfall eines angesprochenen Studierenden im Publikum, den er mit euro 50,- ausgleichen will, wenn dieser durchhält. Nach 10 Stunden sei dann alles vorbei, das Publikum hätte Demut gelernt, um zu überleben, in jedem Fall war im Prolog ein wohlwollendes Publikum kreiert – und so landet Kahnwald übergangslos inmitten des ersten Teils des Antikenprojekts, das von den Münchner Kammerspielen zum Theatertreffen 2019 nach Berlin eingeladen wurde und analog der antiken Aufführungspraxis mehrere Einzelstücke, drei Tragödien und ein Satyrspiel über mehrere Stunden hinweg kombiniert: 

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An die Grenzen strenger Kausalität gestoßen. Zu Andreas Reckwitz „Singularisierungs-Spätmoderne“

Ob hier nicht eher eine paradoxale Logik vorliege und eben gerade nicht die lineare Ablösung einer Logik durch eine andere, fragte Jeanette Hofmann Andreas Reckwitz im Anschluss an seinen Vortrag zu seiner aktuellen Veröffentlichung „Die Gesellschaft der Singularisierung“ von 2017. Reckwitz hatte seine Thesen am 11.12.2018 im Rahmen der Redenreihe „Making Sense of the Digital Society“ vorgetragen, ein Kooperationsprojekt des Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft HIIG und der Bundeszentrale für politische Bildung. Dessen Direktor Thomas Krüger wiederum reagierte auf Reckwitz mit Einblicken in die Widersprüchlichkeiten der aktuellen Arbeit und der Herausforderungen der bpb: Politische Bildung habe gerade Hochkonjunktur, die bpb hätte aber keine Lösungen.

Mit dieser kurzen Frage und prägnanten Problembeschreibung brachten Hofmann und Krüger das Problem auf den Punkt: Ist die hier von Reckwitz eingesetzte Logik einer kohärenten und konsistenten großen Erzählung, ohne Widersprüche, Brüche und Paradoxien, mit einer strengen Kausalität zugeordneten Zahlen, Denkfiguren, Umbrüchen und Techniken bzw. Technologien tatsächlich angebracht, um die aktuellen Ereignisse zu beschreiben?

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1 + 1 + 1 + 1 (+ x) = 100. Komplexitätsprovokationen durch Duchamp.

Zur Ausstellung „Duchamp. 100 Fragen. 100 Antworten“ in der Stuttgarter Staatsgalerie

Wie ein Schichtensystem von Gründen, Bedeutungen und Rezeptionsebenen baut sich die aktuelle Duchamp-Ausstellung in der Stuttgarter Staatsgalerie auf. Wer aufgrund ihres Titels annehmen könnte, hier ginge es um Duchamp, irrt: Es geht auch um Duchamp, aber es geht auch um Joseph Kosuth, um Serge Stauffer, um die Sammlung der Stuttgarter Staatsgalerie und um Faktoren, die sich nicht auf den ersten und vermutlich auch nicht auf den zweiten Blick erschließen. Daher ist auch unbestimmt zu formulieren: „… + x“.*

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Drei Szenen einer Ton-Bild-Relation: Schüsse, Anklagen und Anbetungen

Ein narrativer Ton, technisch (und institutionell) zu einer plastischen Ambient-Installation geformt
I. Mittwoch, 12.9.2018, Galerie Weisser Elefant, Auguststr. 21, Berlin: Der De-Konzept-Künstler und Theoretiker Stefan Römer geht mit seiner Performance „Six Gun Shots / Sechs Schüsse“ ins akustische Innere von sechs Schüssen. Im abgedunkelten Galerieraum in der ersten Etage eines Altbaus in Berlin Mitte sitzt Römer, von einer Projektion in seinem Rücken angeleuchtet, frontal zum Publikum an einem Tisch, vor ihm einige wenige, miteinander verkabelte und verschaltete, beim Einsatz blinkende Synthesizer der Marke Moog, die Römer während der Performance über Regler steuert. Eingangs erklingen sechs Töne, sechs Schüsse, wie ein kurzer Text schwarz auf weiss auf die Galeriewand projiziert und schon der Titel der Performance informiert hat. Sechs Schüsse, die Römer an einem frühen Morgen im Winter 2006 in München weckten und die zwei Personen töteten – ob von Römer beobachtet, später erfahren oder erdacht, bleibt hier (ohne weitere Informationen) im Unbestimmten. Die kurze textliche Information zur Münchner Story wird angereichert mit kunst- bzw. soundhistorischen Referenzen auf den US-amerikanischen Komponisten La Monte Young und den US-amerikanischen Künstler John Cage sowie mit kunst- und medientheoretischen Fragen wie: „What does the interior of a shot sound like?“

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Kunstgeschichte – sezieren, aber nicht anfassen.

Zur Ausstellung „Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930“ im HKW Berlin.

Gleich einer der Einführungstexte in die Ausstellung „Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930“  im Berliner Haus der Kulturen der Welt, auf hohen Wandtafeln platziert, startete die Oszillation:

„Die Gegenwart um 1930 war weltweit geprägt von Grundlagenkrisen. Diese Krisen destabilisierten soziale Ordnungen ebenso wie überkommene Kategorien des Wissens. […] Politische und gesellschaftliche Konflikte nahmen globale Dimensionen an. […]“ Wer „Gegenwart“ gelesen und „1930“ überlesen hatte, hätte annehmen können, es ginge um eine aktuelle Bestandsbeschreibung: Grundlagenkrisen, Destabilisierungen sozialer Ordnungen und Wissenskategorien, Konflikte, globale Dimensionen. Eine Büchervitrine (A01) hätte vielleicht etwas irritiert, aber das heutige Krisenbewusstsein bestätigt: Die Krise der Psychologie, der Jugend, der bürgerlichen Kultur, unserer Zeit, der internationalen Arbeiterbewegung, der europäischen Wissenschaften …, eine weitere Publikation versprach – auch das heute üblich – „Wege aus der Krise“. Bei diesen Buchtiteln handelte es sich allerdings, durch das Layout sichtbar, nicht um heutige, sondern um Veröffentlichungen der späten 1920er und frühen 1930er Jahre.

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Wiederholen, um zu unterscheiden

Zu Anta Helena Reckes „Mittelreich“ und der Einladung zum Theatertreffen 2018.

Beinahe bedauernswert schien in der jüngeren Vergangenheit der Zustand der bildenden Künste:

Im und um das Theater entwickelte sich mit dem sog. Geflüchtetentheater, der Blackfacing-Debatte, den Erfolgen des postmigrantischen Theaters (unter anderem im Berliner Ballhaus Naunynstraße und im Maxim Gorki Theater) und zuvorderst mit den Ereignissen rund um die Berliner Volksbühne und den um sie geführten ideologischen Kulturkämpfen eine außerordentlich vitale Debatte, so dass Dirk Baecker zuzustimmen war, dass es sich (nur) beim Theater um einen „Erprobungsraum für soziales Handeln“ handeln würde.

Die bildende Kunst gab derweil auf dem Berliner Gallery Weekend 2018 nicht nur symbolischen Raum an den Konsum ab: Temporäre Shops loggten sich für das Wochenende in das Galerieareal der Potsdamer Straße, stylische Marketingstände wandten sich an die Kunstflaneure, Pistazien doch nun besser in Designverhüllung zu kaufen. Zuvor hatte bereits Jeff Koons die Schaufenster der Louis-Vuitton-Shops in den Prachteinkaufsstraßen Deutschlands mit seinen Manet-, Gauguin-, Poussin- und Monet-geprinteten Taschenkollektionen „verschönert“. Hier wurde demonstrativ die (historische) Verbindung von (bildender) Kunst und Marktwirtschaft vorgetragen und der Unterschied zwischen dem flanierenden, posierenden und sich zeigenden Kunstbesucher in Gallerien und Ausstellungen und den meist im Dunkeln abtauchenden und stundenlang konzentrierten Theaterbesuchern deutlich.

© Judith Buss. Mittelreich: Damian Rebgetz, Jochen Noch, Steven Scharf, Thomas Hauser, Annette Paulmann, Stefan Merki (liegend)

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Realpolitik als Theater – Theater als Realpolitik

Zu Elfriede Jelineks Umgang mit Trump und Falk Richters Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus.

Auch nach 15 Monaten Donald Trump ist die Frage, wie mit ihm umzugehen ist, noch immer nicht geklärt. HistorikerInnen, PolitikwissenschaftlerInnen und PhilosophInnen beissen sich die Zähne aus, Trumps Wahlerfolg entweder in eine Verbindung mit dem Brexit, den Erfolgen des FN in Frankreich, der FPÖ in Österreich und der AfD in Deutschland oder aber mit dem Erstarken der Kakistokratie (Masha Gessen) bzw. von Tyranneien (Timothy Snyder: On Tyranny. Twenty Lessons from the 20th Century, 2017) zu bringen. Oder, eine nächste Variante: die Gründe werden in identitätspolitischem Feminismus, Antirassismus, Multikulturalismus und LGBTQ und ihren Niederschlägen in Form von Gendertheorie, Postmigration und Political Correctness gesehen (Mark Lilla, u. a. im New Yorker). Oder, ein weiterer Umgang: die Ereignisse von 1968 werden auf die Anwesenheit von Brutalität und Tragödie (Morde an Martin Luther King und Robert F. Kennedy) untersucht, um mit Trump nun die historische Linie eines Backlachs seit 1968 zu zeichnen. Und noch eine Erzählung: Clinton (sowohl Bill als auch Hillary) und Obama werden als Repräsentanten eines progressiven Neoliberalismus gedeutet, deren Bündnis von Emanzipationsbewegungen mit dem globalen Finanzkapitalismus (Wall Street, Silicon Valley, Medien- und Kulturindustrie) für den Wahlerfolg Trumps 2016 verantwortlich sei (Nancy Fraser: Vom Regen des progressiven Neoliberalismus in die Traufe des reaktionären Populismus, 2017). Und so wird Trump wahlweise auch als Geburtshelfer von #MeToo (Hedwig Richter), des Populismus (Bernd Stegemann) oder einer neuen erstarkten Linken (Eva Illouz) gedeutet.


© Arno Declair.

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Am Königsweg als Scheideweg. Zu Elfriede Jelineks Umgang mit Trump …

…und Stephan Kimmigs Inszenierung am Deutschen Theater Berlin.

Die Augäpfel entfernen, die Ohren durchstechen, das Gehirn absaugen und die Zunge rausschneiden lassen – kommt man dann besser durch dieses Leben?, fragt Elfriede Jelinek in ihren jüngsten Textkaskaden, mit denen sie, so lautet der Gründungsmythos, am Abend der letzten US-amerikanischen Präsidentschaftswahl im November 2016 begonnen habe. „Am Königsweg“ ist das Stück der Stunde, am Hamburger Schauspielhaus von Falk Richter, am Theater Heidelberg von Mirja Biel, am Frankfurter Schauspiel von Milos Lolic , am Schauspielhaus Zürich von Stefan Pucher, am Theater an der Ruhr von Philipp Preuss und nun am Deutschen Theater Berlin von Stephan Kimmig inszeniert.

Während die Medien noch Trumps Gezwitscher auf den Leim gehen und die Politik noch auf der Suche nach einem Umgang mit Trumps distributiver Verhandlungsführung einer Win-lose-Situation sucht, nähert sich Jelinek mit ihren sog. Textflächen (eine Bezeichnung, die Jelineks Durchlöcherungen und Wucherungen unterschlägt) dem Phänomen Trump, ohne ihn auch nur ein einziges Mal beim Namen zu nennen. „Feng Shui für den Kopf“ bewertet sie ihre Total-OP, um im Anschluss weder sehen noch hören, weder denken noch sprechen zu können/zu müssen, und das heißt für sie, um einen gesunden, fließenden, stimmigen Umgang mit der aktuellen Situation, mit dem Overkill an Spam, Fake News, Gossip und Bubbles, mit den Absurditäten, Obszönitäten und Banalitäten zu finden. In bekannter kompositorischer Schreibweise findet Jelinek ihren gedanklichen und sprachlichen Umgang, kombiniert Irrwitz, Komik und Trash mit klassischer Philologie und Gender Forschung, nimmt hierin Verschränkungen von Literatur, Musik, Theater, Popkultur und Alltagspraxis vor und verkettet die Themenkomplexe Antike Mythen (hier: Medea, Ödipus, Elektra), Rechtspopulismus, Kapitalismus, Globalisierung, Wahlen, Schuldenpraxis, Geschlecht, Gewalt und Führerbegeisterung.


Auf dem Bild: Linn Reusse, Anja Schneider, © Arno Declair.

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Übersetzungen von Poesie in Musik in Tanz in sozialen Raum

Was passiert, wenn Lyrik von Richard Dehmel (1), vertont von Schönberg, Strauss und Sibelius (2), kammermusikalisch (3) im Berliner Landgericht (4) zur Aufführung gebracht und in zeitgenössischen Tanz (5) übersetzt wird? Es entstehen Situationen (6), die an Tino Sehgals Perzeptionsexperimente erinnern, mit denen sich das Publikum den ihm zur Verfügung gestellten Zwischenraum (Landgericht, Aufführungsraum, Kunstraum) in einen sozialen Raum übersetzt. Im Detail:

„Ist denn Alles tot und trübe? Horch –: ein ferner Mund –: vom Dom – Glockenchöre … Nacht … Und Liebe …“. Die Lyrik des promovierten Wirtschaftswissenschaftlers Richard Dehmel (1863 bis 1920) ist von existentiellen Themen geprägt. Fasziniert von Liebe, Nacht, Tod, Sturm, Licht, Glut, Lust und Dunkelheit entstanden in der Zeit von 1891 bis zum Ersten Weltkrieg eine Vielzahl von Lyriksammlungen und Dramen, Kinderreimen und Kinderbüchern (gemeinsam mit Paula Oppenheimer-Dehmel) sowie ein Roman in Versen (Zwei Menschen, 1903). Neben der dramatischen Themenausrichtung, die insbesondere die expressionistische Dichtung beeinflussen sollte, regte das musikalische Prinzip seiner Lyrik, der innere Rhythmus, die Metrik, der Wortklang und die Silbendauer eine Vielzahl von Zeitgenossen an, Dehmels Poesien in Musik zu übersetzen. Richard Strauss, Frederick Delius, Max Reger, Jean Sibelius, Hermann Zilcher, Anton Webern, Hans Pfitzner, Arnold Bax, Karol Szymanowski – Zeitgenossen von Dehmel und in den 1860er, 1870er und 1880er Jahren geboren– vertonten Dehmels Lyrik zu Liedkompositionen, Arnold Schönberg wurde 1899 von Dehmels Epos „Zwei Menschen. Roman in Romanzen“ zu dem Streichsextett „Verklärte Nacht“ op. 4 angeregt und auch Philip Mayers, Pianist und künstlerischer Leiter des Abends, komponierte zu den Texten Dehmels (Am Ufer, Manche Nacht, Nächtliche Scheu, Aufglanz) unter dem Titel „Nächtens“ ein Arrangement für Sopran (Anja Petersen), Violine (Henja Semmler) und ein Violincello (Anna Carewe), das an diesem Abend zur Uraufführung kam.

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Bildpolitiken humanitärer Katastrophen einkreisen …

Zu Christian von Borries und Dieter Lesages „Bild der Rettung | Rettung des Bildes“ am Berliner Hebbel am Ufer.

Am Anfang, so wird das Setting erzählt, stand das Bild der Rettung:

Christian von Borries, Schweizer Musiker und Filmemacher,  nahm 2016 an einer Such- und Rettungsaktion (SAR) auf einem zivilen Rettungsschiff vor der Küste Libyens teil. Den mittlerweile perfiden europäischen Mythos des Mittelmeeres als einem romantischen Raum, so von Borries, erlebte er zusätzlich verfremdet, schockte ihn doch die dominierende, aufdringliche, penetrante Bildproduktion der auf dem Rettungsschiff anwesenden Medienteams des französischen und deutschen Fernsehens, von BBC und CNN.

© Christian von Borries, Dieter Lesage 2018.

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„Don’t use facebook, Google, YouTube and Credit cards!“ Manuel Castells in Berlin

Geben Sie nie Ihre Daten ab und nehmen Sie nicht an diesem Leben teil – empfahl Manuel Castells (katalanischer Soziologe, Professor Emeritus für Soziologie und Stadt- und Regionalplanung an der University of California, Berkeley, wo er nach eigenen Aussagen 50% seiner Lebenszeit verbringt, die anderen Zeit lebt er in Barcelona und arbeitet an der dortigen Offenen Universität Katalonien UOC) seinem Publikum in Berlin, der Stadt, die laut Kastells, zu den führenden Städten der europäischen Erneuerungsprozesse und der kulturellen Einflüsse gehört.

Castells hielt hier am 12.12.2017 auf Einladung des Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft (HIIG) im Berliner Kino International einen Vortrag und eröffnete damit eine Redereihe zur digitalen Gesellschaft, die das HIIG gemeinsam mit der Bundeszentrale für für politische Bildung (bpb) konzipiert hat und im nächsten Jahr mit weiteren RednerInnen wie Christoph Neuberger (30.1.2018) und José van Dijck fortgesetzt wird, um insbesondere, wie es die Forschungsdirektorin des HIIG Jeanette Hofmann in ihren Eröffnungsworten formulierte, europäische Denker und Denkerinnen zu digitalen Prozessen zu Wort kommen zu lassen – eine These, die Castells am Ende des Abends implodieren lässt, indem er dazu ausführt, dass kein Europa existiere. Der Brexit sei der Beginn des Zerfalls, es gäbe keine europäische Identität, lediglich eine desintegrative Lage ohne Solidaritätsmechanismen, eine Xenophobie und eine Kluft zwischen technologischen und moralischen Fähigkeiten – aber es würden auch zwei Gemeinsamkeiten existieren: erstens, dass die Vergangenheit von Kämpfen geprägt sei und dass zweitens das Internet genutzt würde.

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Koloniale Gegenwarten. Zu Milo Raus Kongo-Tribunal

Die Eingangssequenz des Filmes zeigt eine sattgrüne, üppige, wunderschön geomorphologisch geschwungene Hochebene aus der Vogelperspektive, ungeschnitten aufgenommen als extremely long shot (Panorama), wie sie ein Touristikwerbevideo nicht besser hätte in Szene setzen können. Mit dieser Master Szene, die gleichzeitig als Übersichtseinstellung (establishing shot) dient und in die alle weiteren Szenen hineingeschnitten sind, ist der Handlungsrahmen des Filmes und der Grundkonflikt des Gesamtprojektes „Das Kongo Tribunal“ benannt:

Wie ist es möglich, dass die Demokratische Republik Kongo, die zu den rohstoffreichsten Ländern der Welt gehört (Diamanten, Gold, Kupfer, Mangan, Blei, Zink und Zinn) und mit ihren Coltan-, Wolframit und Kassiterit-Vorkommen, die für die Produktion eines nahezu jeden elektronischen Gerätes benötigt werden und daher im Ostkongo seit etwa 20 Jahren zu einem Boom, manche schreiben sogar von einem Goldrausch, führten, zu den ärmsten Ländern der Welt gehört, das im Demokratieindex von 2014  auf Platz 162 von 167 lag und im Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen 2016  auf Platz 135 von 188? 7 Millionen Toten werden seit 1996 geschätzt, die Rede ist von jahrzehntelanger Ausbeutung, Korruption und Bürgerkriegen, Importwirtschaft, Staatsverschuldung, vernachlässigter Infrastruktur, mangelnder Informations- und Pressefreiheit… Der Mapping-Report der Vereinten Nationen zählte zwischen 1993 und 2003 über 600 Menschenrechtsverletzungen im Kongo, dazu zählten Massaker, systematische Tötungen und Genozide.

Spiegelung der Diskussionsteilnehmer im Anschluss an die Filmvorführung am 18.11.2017 an der Berliner Schaubühne.

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Reisenotizen zu Klang-Land-(Raum)schaften

Sonntag, 19. November 2017, 20 Uhr, Berliner Sopiensäle. „Der Einlass hat begonnen!“ Kopfhörer werden verteilt, man könne ihn sich einfach überziehen, Lautstärke reguliere sich von selbst. Der große Saal ist zergliedert, MDF-Platten, knapp 3 Meter hoch, knapp 1 Meter breit, sind an Aluminiumrahmen im U-Profil geschraubt. Kabinen, Sperrungen, Unterteilungen bilden sich, locker im Saal verteilt, in unterschiedlichen Figurationen. Auf einigen Aluminiumprofilen sind Smartphones angebracht. Die etwa 50 Besucher (Zuschauer/Zuhörer) tragen ihre Kopfhörer und streifen durch den Raum, erkunden ihn.

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Durch die Kunstgeschichte auf dem Ku’damm…

… große Meister, große Werke, große Männer, große Preise, große Labels, große Wertschöpfung, großer Glanz, große Erzählungen, große Bedeutungen, große Geschichten, große Wichtigkeit …

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Das Reenactment eines Enactments: Der Sturm auf den Reichstag 2017

Teil 2 des Gastspiels Milo Raus in Berlin startete am 7. November 2017 um 15 Uhr auf der Wiese vor dem Bundestag.

Nachdem vom 3. bis 5.11.2017 in der Berliner Schaubühne das „erste Weltparlament der Menschheitsgeschichte“ tagte, 70 Abgeordente aus 20 Ländern zu Kriegen, Sanktionen, Migration, Drohnen, Klimaschäden, Grenzregimen, Landgrabbing, Korruption, Genoziden, Kolonialfolgen, Überwachungssoftware, Gedächtnispolitiken, Naturparks, Freihandel, genveränderten Maissorten und Antinatalismus vortrugen und über 15 Anträge abstimmten, die Teil der „Charta für das 21. Jahrhundert“ werden sollen, sollte am 7. November 2017, 100 Jahre nach der Einnahme des Winterpalasts, Sitz der russischen Zaren in St. Petersburg, der „Sturm auf den Reichstag“ stattfinden.

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Die Dramatik kam im 5. Akt. Zu Milo Raus General Assembly an der Berliner Schaubühne

An den bekanntermaßen historisch ereignisreichen ersten Novembertagen (2007, 1989, 1974, 1938, 1923, 1918, 1917) fand in diesem Jahr an der Berliner Schaubühne am 3., 4. und 5. November 2017 die Gründungsveranstaltung des selbstinstituierten „ersten Weltparlaments der Menschheitsgeschichte“ statt.

Ausgangsmotiv für dessen Gründung war die Beobachtung, dass es neben den Lokalparlamenten auf globaler Ebene keine demokratischen Strukturen gebe, die den Weltmarkt regulieren, völkerrechtliche Verstöße sanktionieren oder ökologische Entwicklungen kanalisieren können. Diese „Leerstelle“, so der Initiator und Regisseur dieser Veranstaltung Milo Rau, müsse dringend gefüllt werden, um soziale, ökologische, technologische, kulturelle Fragen zu erörtern und mit politischen Entscheidungen zu koppeln. „Demokratie für alle und alles“, hiess somit auch einer der Untertitel der „General Assembly“, die, um die Ausstrahlungskraft des Unternehmens zu verdeutlichen und zu verstärken, an fünf weitere Orte, in das Brüsseler Théâtre National Wallonie, das Hamburger Thalia Theater, auf das Münchener SPIELART Festival, in das Pariser Théâtre Nanterre-Amandiers und in das Nationaltheater Gent (dessen Direktion Rau ab der nächsten Spielzeit übernehmen wird) per Livestream übertragen wurde.

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Berechtigte Angst vor Bildern

Am Abend des 15.10.2017 – drei Tage vor dem 30. Jahrestag der sogenannten Todesnacht von Stammheim  – strahlte die ARD in ihrem laufenden Programm den Tatort „Der rote Schatten“ aus. Der vom SWR produzierte Beitrag in der Regie von Dominik Graf spielt in Stuttgart, Ermittlerduo Lannert und Bootz (Richy Müller und Felix Klare) werden mit einer scheinbaren Beziehungstat konfrontiert, die sich zunächst zu einer innerfilmischen Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und dann zu einer medialen Auseinandersetzung in BILD, Spiegel Online und FAZ ausweitet.

Der Plot ist gerade aufgrund der wiederholten Verstrickungen von V-Leuten und staatlichen Behörden wie im Fall von Benno Ohnesorg , des NSU und jüngst von Anis Amri  brisant (ein seit den 1970er Jahren für den Verfassungsschutz gegen die RAF agierender V-Mann wird bis heute von Polizeibehörden und Staatsanwaltschaft trotz dringenden Mordverdachts geschützt), soll an dieser Stelle nicht interessieren.


Quelle: Bundesarchiv, Plak 006-001-058 / Grafiker: unbekannt >> .

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