I. Sprechtheater
Noch bevor die 10 Stunden Antike „Dionysos Stadt“ in der Regie von Christopher Rüping auf der Bühne des Berliner Festspielhauses starten, entfaltet Nils Kahnwald im Prolog der Stückmontage ein zu befürchtendes Ausmaß der nächsten 10 Stunden:
In den hell erleuchteten Zuschauerraum, die 4. Wand durchbrechend, referiert er über den zu erwartenden Ablauf, die 3 einkalkulierten Pausen, die englischen Untertitel an den Wänden, die zwingend anzuratende Toilettennutzung in der 2. Pause, sein bald stattfindendes Stagediving, für das er die Beteiligung des Publikums benötige, die zu antizipierenden Körperbeschwerden in Rücken, Augen und Gelenken, die Raucherampel, die bei grün Raucher auf die Bühne einlädt, szenisch zu rauchen, die zwei Tauben, die gegen das Scheinwerferlicht fliegen werden und damit ihrem Leben selbst ein Ende setzen, den Verdienstausfall eines angesprochenen Studierenden im Publikum, den er mit euro 50,- ausgleichen will, wenn dieser durchhält. Nach 10 Stunden sei dann alles vorbei, das Publikum hätte Demut gelernt, um zu überleben, in jedem Fall war im Prolog ein wohlwollendes Publikum kreiert – und so landet Kahnwald übergangslos inmitten des ersten Teils des Antikenprojekts, das von den Münchner Kammerspielen zum Theatertreffen 2019 nach Berlin eingeladen wurde und analog der antiken Aufführungspraxis mehrere Einzelstücke, drei Tragödien und ein Satyrspiel über mehrere Stunden hinweg kombiniert:
Auch „Prometheus“, so Kahnwald, sei in Kenntnis und in Gebundenheit seines Schicksals gewesen, vom mächtigsten Gotte Zeus bestraft, durchbohrt und angekettet worden. Prometheus, der Vorherdenkende oder Vorbedenker, kooperiert in Kenntnis von Zeus späterem Untergang mit den Menschen, bringt ihnen etwas Glut und mit dem Feuer die Grundlage für die Erfindung des Menschen – inklusive der Fähigkeit, „eine Bombe zu bauen“. Ob es denn eine gute Entscheidung gewesen sei, fragt Zeus (Majd Feddah) Prometheus (Benjamin Radjaipour) immer und immer wieder, auf arabisch, englisch, drängt, fleht und bleibt unverstanden – und wartet in sich ausdehnender Realzeit und Gegenwärtigkeit, inmitten eines Stimmen- und Schriftgewirrs auf die Antwort, die nie gegeben werden wird. Stattdessen leidet Prometheus, in den Lüften hängend, für Jahrtausende an den Kaukasus gefesselt, vom Kot der Greifvögel übergossen, der die Freiheit mehr fürchtet als Zeus’ Adler, der jeden Tag erneut von Prometheus Leber frisst. So die antike Vorlage, deren Aufführung sich an Heiner Müllers Text orientiert und in der Befreiung Prometheus’, dem Stifter des freien Willens, die vollendete Emanzipation des Menschen bzw. den endgültigen Fall der Götter sieht.
Prometheus habe allerdings mit den Menschen nicht nur ein neues Geschlecht erfunden, er gab auch dem Wahn eine eigene Größe, der im Trojanischen Krieg (s)eine erste Geschichte fand:
II. Elektropop
Nach 40 Minuten Pause wird zur zweite Tragödie des Abends, zu „Troja. Der erste Krieg“ weitergereicht und damit vom Sprechtheater des 1. Stückes zum Pop-Ereignis übergeleitet: Unter Verwendung des Versepos „Ilias“ von Homer (wahrscheinlich 8. Jhd. v. Chr.) wird die Materialschlacht der Schiffe, Soldaten, Städte, Kämpfer und Verbündeten etc. um Troja über Mikrofone rezitiert und der tobend-kriegerische Druck durch Elektro-Beats (Jonas Holle), Live-Schlagzeug (Matze Pröllochs), projizierten Visuals aus Text und Bild verdeutlicht: Das technoide Gerangel von Bild und Ton, inmitten von Landschaftsaufnahmen, 3-D-Animationen, Zeichnungen und Farbfeldrauschen, vorgetragen von beschrifteten Schauspielerkörpern kulminiert in einer zertrümmerten Projektionsfläche – Troja liegt nach erzählten 10 Jahren Krieg, mehrfach veränderten Frontverläufen, Tricks und List in Schutt und Asche, während unmittelbar nach der Eroberung der Stadt Königin Hekabe, ihre Schwiegertochter Andromache, ihre Tochter Kassandra und Helena (Maja Beckmann, Gro Swantje Kohlhof, Wiebke Mollenhauer) noch einen feministischen Blick auf die wechselseitigen Entführungen der fürstlichen Frauen und damit auf eine Dimension der Sinnlosigkeiten des Krieges werfen.
Wie in einem Konzert von Kraftwerk verbindet der Elektrosound die visuellen Ereignisse auf der Bühne (Jonathan Mertz) mit der uniformen Kleidung der DarstellerInnen, den Flows der Visuals, der Life-Performance an den Reglern und am Schlagzeug (Matze Pröllochs) und den gleißenden, minimalistischen Leuchtstoffröhren horizontal entlang der Empore und vertikal hängend von der Decke.
© Julian Baumann, 2019.
III. Trash & Reality Soap
Die dritte Tragödie des Abends verbindet eine Mehrzahl textlicher Grundlagen: Aus „Elektra“, „Iphigenie“ und „Thyestes“ speist sich der Text, der hier als „Orestie. Verfall einer Familie“ zusammengefasst ist und nach der Übergabe des Feuers an die Menschen und dem im Feuer abgebrannten Troja das Feuer in der familiären Gewalt mündet. Nach Sprechtheater und Elektropop folgt nun auf üppiger Bühne eine trashige Reality Soap, medialisiert mit Videoprojektionen in HD (Susanne Steinmasse) – und entfernt sich inhaltlich immer weiter von der eingangs heroischen Verkündigung „Here I am and be the master of my fate“.
Denn hier wird eine Beziehungstragödie erzählt, die als ein Verhängnis aufgestellt ist, mit dem immer gleichen Ergebnis. Alle Versuche, der Gewalt zu entkommen und dem Untergang zu entgehen, scheitern: Der Rückkehrer aus dem Trojanischen Krieg Agamemnon wird von seiner Gattin Klytaimnestra und ihrem Geliebten Aigisthos erschlagen, Klytaimnestra rächt damit den Tod ihrer Tochter Iphigenie. Klytaimnestra wiederum wird von ihrem Sohn Orest und ihrer Tochter Elektra erschlagen, ebenso deren Geliebter Aigisthos. Atreus, Agamemnos Vater, wiederum, übt Rache an Thyestes, indem er ihm dessen Söhne zum vermeintlichen Versöhnungsmahl vorsetzt – eine undurchdringliche und beinahe unerzähl- und unaufstellbare Familiengeschichte.
Die familiäre Hochzeitsfeier (von Elektra und Pylades), im Rahmen derer alle Familienmitglieder im Hause der Atriden aufeinander treffen, wird bei griechischem Wein, bei Oliven und Musik auf den Trümmern Trojas inszeniert. Das Zusammentreffen wird zu einem Wahnspektakel aller Beteiligter, auch das Publikum wird in den Amoklauf und zuvor in die Party einbezogen. Bevor sich die Familie im Atridenfluch bei Udo Jürgens’ „Griechischer Wein“ gegenseitig ausmerzen wird, verkünden die Götter die Unterbrechung der menschlichen Rachespirale, die durch Emotionen und Affekte immer wieder gefüttert wird: Rache solle fortan zum Recht führen.
© Julian Baumann, 2019.
IV. Zidane
Im vierten Teil des Abends mit dem Titel „Was hat das mit Dionysos zu tun?“ kicken sieben der acht Darsteller des Abends (Maja Beckmann, Majd Feddah, Nils Kahnwald, Gro Swantje Kohlhof, Wiebke Mollenhauer, Jochen Noch und Benjamin Radjaipour) gemeinsam als Satyrne zu sphärischen Synthiepop-Klägen und Life-Percussion eine knappe halbe Stunde schweigend auf grünem Rasen. Denn, so die historische Referenz, im antiken Griechenland wurde nicht nur das Theater, sondern auch das Sportfest erfunden. Und obwohl beide Festivitäten ähnliche gesellschaftliche Funktionen wie die Herstellung von Öffentlichkeit oder das religiöse Zelebrieren hatten, zeigen diese Szenen, dass das Schauspiel zwar den Sport in Szene setzen kann, der Sport das Schauspiel aber außer Kraft setzt.
Parallel wird der Essay „La Mélancholie de Zidane“ des belgischen Schriftstellers Jean-Philippe Toussaint in deutscher Übersetzung (2006) rezitiert, der den Kopfstoß Zinédine Zidanes 2006 im Berliner Olympiastadion metaphysisch erhöht. Prosaisch, romanhaft, ambivalent sei der Moment gewesen, in dem Zidane im Endspiel der Fussballweltmeisterschaft gegen Italien seinen Gegenspieler Marco Materazzi in der 109. Minute nach einer angeblichen verbalen Provokation einen Kopfstoß verpasste. Zidane hätte nicht anders gekonnt, er sei überfordert gewesen, in seinem letzten Spiel den bereits angekündigten Abschied von seiner Karriere als Profi zu nehmen. Eine rote Karte verwies ihn nicht nur des Spiels, sondern wies ihn in die Schranken seines Schicksals. Schönheit und Schwärze, Gewalt und Leidenschaft seien in diesem ikonischen Moment aufeinander getroffen, Zidane, so der Text, hätte sich ganz als ein antiker Held ausgewiesen – übrigens als fünf Meter hohe, aus Bronze gefertigte Skulptur von Adel Abdessemed (2012) im Arabischen Museum für Moderne Kunst in Doha zu sehen.
„Es scheint, als gäbe es diese Sehnsucht nach Hilfe von außen oder oben noch immer“, heißt es ernüchternd im Programmheft – und das Ensemble sitzt gemeinsam mit dem Publikum und bewundert das Schlussbild der aufgehenden Sonne, die, wie wir seit Galileo Galilei wissen, niemals auf- oder untergeht… Was also hat es eigentlich auf sich mit der immer wieder beschworenen Selbstermächtigung des Menschen?
Nachtrag
Das Festspielhaus bzw. das Theatertreffen bietet ein offenes WLAN an. Wie der Bachmann-Bewerb in Klagenfurt verfügt das Festspielhaus nun über einen sommerlich möblierten Garten-Bereich. Die TheaterbesucherInnen können unter Sonnenschirmen auf weißen Gartenbänken sitzen und in den Programmheften als begleitendem Medium lesen. Und: Zu viele Pausen (insgesamt 3 Stunden, zu wenig Spielzeit (insgesamt 7 Stunden), kein Marathon, sondern vergnügliche Beanspruchung in Form einer installativen Gattungsmontage. So hielt auch der Studierende schließlich mit 50 Euro belohnt bis zum Ende durch.
Weitere Besprechungen hier