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Tanzhermeneutisches – danke an die Trisha Brown Dance Company

  • Positionen zu halten, ist anstrengend.
  • Positionen im Raum zu finden, gibt der Raum vor.
  • Positionen zueinander einzunehmen, ist keine alleinige Entscheidung.
  • Narration ist 1. nicht gegeben, umfasst 2. eine Anzahl von Elementen und 3. kombiniert diese.
  • Nicht gesehen zu werden, bedeutet nicht, nicht zu existieren.
  • Imagination findet genauso außerhalb des Rahmens statt.
  • Serialität vermehrt (manchmal auch nur scheinbar).
  • Abstände sind Mittel, Instrumente.
  • Brüche steigern die Möglichkeiten.
  • Geschwindigkeit ist relational.
  • Gegenläufigkeit unterbricht.
  • Widerstehen ist mindestens ein Zeitvektor.
  • Erinnern ist auch ein interrelationaler Akt, durch Bezüge, Referenzen, Echo.
  • Gleich ist höchstens ähnlich.
  • Kombination ist nicht Komposition. 
  • Auch 1 ist eine Konstellation.
  • Trägheit ist Schrägheit.
  • Unwahrscheinliches ist nicht unwahrscheinlich, ebenso nicht Unvorhersagbares.
  • Fallen ist auch eine Figur.
  • Kontext potenziert.
  • Choreografie verhandelt und überbrückt Prekäres.
  • Ausdauer! Immer noch und wieder neu.

Dieses Beobachtungen entstanden im Anschluss an die Aufführungen „Glacial Decoy / In the Fall / Working Title“ der Trisha Brown Dance Company in Zusammenarbeit mit Noé Soulier, die im Rahmen der Performing Arts Season 2024/25 am Berliner Festspielhaus aufgeführt wurden. Die drei Choreografien entstanden in den Jahren 1979, 2023 und 1985. Während „Glacial Decoy“ und „Working Title“ von der US-amerikanischen Tänzerin, Choreografin und documenta-Teilnehmerin Trisha Brown (1936-2017) stammen, choreografierte „In the Fall“ der französische Tänzer und Choreograf Noé Soulier (geboren 1987) auf Einladung der Trisha Brown Dance Company in Auseinandersetzung mit ihrem Werk.

2 Ikonen, 4 Fotografien, 4 Tänzerinnen, 4 Wände

„Glacial Decoy“ von 1979 ist Trisha Browns erste Arbeit für die Theaterbühne mit ihrer nur einen offenen Wand zum Publikum. An der hinteren Wand sind die Projektionen von vier raumhohen Schwarz-Weiss-Fotografien mit abgerundeten Ecken von Robert Rauschenberg zu sehen. Die Motive, die in der nüchtern dokumentarischen Bildsprache der Neuen Sachlichkeit ästhetisiert wurden, wandern alle 5 Sekunden von links um eine Position nach rechts, um links ein nächstes Stilleben in die Vierer-Reihung aufzunehmen: ein aufgewickeltes Kabel, ein Möbeldetail, ein Baum, eine offene Tür, ein parkendes Auto, ein Verkehrsschild, eine Häuserwand, Wäsche auf der Leine, eine Uhr. Der kontinuierliche Fortlauf der insgesamt 159 Bilder – zwischen ihnen ein geringer weißer Abstand – wird mit dem Klickgeräusch eines Diaprojektors kombiniert, ansonsten herrscht (wie in den Stilleben) Stille auf der Bühne und das Licht leuchtet die Bühne (ebenfalls wie in den Stillleben) scharf aus. In 25 Minuten finden 4 Tänzerinnen in diaphan weißen, weichen, flüchtig körperumspielenden Kleidern, die an antike Karyatiden erinnern (ebenfalls von Rauschenberg), die unterschiedlichsten Positionen und Proportionen zueinander und im Raum. Wie die Fassadengliederung antiker Gebäude nehmen sie geometrisch die ganze Breite der Bühne ein, verschwinden dabei auch in die Seitengasse, um sich seriell auf der anderen Seite der Bühne wieder aufzufüllen und damit auch ein Nebengeschehen außerhalb der Bühne zu suggerieren. Mal eine, mal zwei, mal drei, mal vier Tänzerinnen – sie hüpfen, springen, kippen, gehen, laufen, rutschen, stürzen, schlittern, galoppieren in je unterschiedlichen Kombinationen, Tempi und Qualitäten. Und manchmal verursachen sie auf dem Bühnenboden Geräusche. 

Glacial Decoy / Working Title / In the Fall @ Maria Baranova

Die Serialität der Tänzerinnen suggeriert ihre Unendlichkeit, wenngleich die Tänzerinnen schon allein durch die beweglichen Kleider nicht stereotypisiert wurden, sondern auch über Frisuren, Körperproportionen und Hautfarben individualisiert werden. Ihre Bewegungsstudien reflektieren körperliche Verfasstheiten ebenso wie Zuordnungen und Abläufe: kontradiktorische Bewegungen, gleiche, gleitende, wiederholende, versetzte, symmetrische, spiegelbildliche Bewegungen, parallele, aus dem Takt geratene, unterbrechende, unerwartete, unvorhersagbare, unwahrscheinliche, sich berührende, einander wegstoßende Bewegungen, als Solo, im Duett, im Terzett, im Quartett. Wie die stark kontrastierten Fotografien von Alltagsmotiven im Hintergrund werden hier sowohl alltägliche Bewegungen (ohne in private oder öffentliche, intime oder distanzierte Bewegungen zu differenzieren), als auch Proportionen, Zuordnungen und Geschwindigkeit streng konzeptionell, ja beinahe systematisch in ihrem Optionsspektrum ausgeleuchtet. Die selbst leuchtenden Fotografien im Hintergrund und ihre alle 5 Sekunden stattfindende kontinuierliche Bewegung von links nach rechts laufend deuten intermedial auf den Film hin. Wie ein verzögerter Experimentalfilm (die Bildfrequenz lag in der Anfangszeit der bewegten Bilder bei 16 Bilder pro Sekunde) montiert „Glacial Decoy“ (Gletschertäuschung) nicht nur kinematografisch zweidimensionale Bilder, sondern mit den Ereignissen auf der Bühne drei- und vierdimensionale, kompositorische Figurationen, die, so scheint es, sich während des Stücks dynamisieren und beschleunigen, um zum Ende wieder in einen langsameren Rhythmus zurückzufallen. Die halbrunden Ecken der Schwarz-Weiss-Fotografien bringt noch ein weiteres mediales Element in das Gefüge und aktualisiert „Glacial Decoy“ um die Materialität von Smartphones-Displays.

Glacial Decoy / Working Title / In the Fall @ Maria Baranova

Weiteres bei Interesse:

Browns Echo-Studien werden bei Soulier zu EchoHochVier (Brown, Newman, Malewitsch).

„In the Fall“ choreografierte Noé Soulier 2023 auf Einladung der Trisha Brown Dance Company in Auseinandersetzung mit Browns Werk. Ebenfalls in 25 Minuten tanzen die vier vorherigen Tänzerinnen, erweitert um 4 weitere Tänzer*innen, nun in Hosenanzügen in den Grundfarben rot, gelb und blau. Das Bewegungsrepertoire Browns wird von Soulier dialogisch aufgenommen und in seinen Bezügen, Regeln und Aufbauten verstärkt. Indem Soulier seine choreografischen Prinzipien wie ein Layer über Trisha Browns Tanzstil legt, faltet er ihre Grammatik auf. Auch hier werden Pas de deux getanzt, Balancen und Drehungen in verschiedenen Posen gezeigt, die Tänzer*innen werden gehalten, gehoben, geführt, sie drehen sich und (in-)einander, sie springen allein, zu zweit … zu acht, sie beschleunigen und verkomplizieren. Auch hier wird der Raum vermessen, diesmal kombiniert mit einer Farbausleuchtung durch die Scheinwerfer und einem kontinuierlichen Grillengeräusch, das später mit Percussion zu einem breiteren Sound angereichert wird. Auch hier finden die verschiedensten Konstellationen und Kombinationen unter den Tänzer*innen, zum und im Raum statt. Wie Figuren aus einem suprematistischen Bild von Kasimir Malewitsch springen sie aus der Bildfläche in den Bühnenraum und wirbeln, schleudern, strecken, kippen und wippen. Stärker aber noch als bei Trisha Brown werden hier die Interaktionen, Resonanzen und Referentialitäten thematisiert sowie die Bewegungen durch Ausdehnungen, Gleichgewichte und Verzögerungen reflektiert und dezentriert. Elemente aus dem Yoga, Tai Chi und Aikido scheinen integriert zu sein. Anstrengungen, Kraft und Konzentration dringen in die Bewegungen ein. Die Tänzer*innenkörper werden in eine Aushandlung mit Trägheit und Schwerkraft gebracht. 

Souliers „In the Fall“ operiert wie ein zeitgenössisches Echo auf Brown, die Reflexionen von Bewegung und Raum werden daher um eine nächste Reflexionsebene erweitert, nämlich die eines historisch kanonisierten Tanzstils. Aber nicht nur das, reflektiert wird auch eine weitere kunsthistorische Ikone: Das übergroße Ölgemälde „Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue“ von Barnett Newman Ende der 1960er Jahre verhandelt in seinen Versionen I bis IV die Verhältnisse der Farbflächen zueinander. Während Newman die drei Grundfarben und die senkrechte Gliederung durch die Farbfelder in seinen Gemälden beibehält, die Verhältnisse der Farbflächen zueinander verändert, indem er ihre Reihenfolge und Breite variiert, changiert Soulier nicht nur die Farben in ihrer Anzahl und Kombinatorik der Tänzer*innen, sondern lässt auch die senkrechte Gliederung in den Gemälden durch die Farbfelder in die Waagerechten und Schrägen kippen. Während Newman Gleichgewicht auslotet, Browns „Glacial Decoy“ eine Kontrolle über das Gleichgewicht vortäuscht, liegt Souliers Interesse bei „In the Fall“, dem Titel zu urteilen, im Fallen. Die Tänzer*innen dehnen ihre Körperposition sowohl physisch als auch zeitlich bis zu dem prekären Moment, in dem es kein Halten mehr gibt, sie aber nicht fallen, sondern mit einer Bewegung zu einer nächsten Körperposition gelangen. Dieser Moment, in dem die Kontrolle zu verlieren droht, wird von der Choreografie überbrückt. 

Glacial Decoy / Working Title / In the Fall © Delphine Perrin

Erzählen und Erinnern als Kombinatorik

Hier hätte der Abend enden können, nach einer Pause folgt „Working Title“ von Trisha Brown aus dem Jahr 1985. Die acht Tänzer*innen bewegen sich nun in matt farbenen Patchworkanzügen zu einer experimentellen, improvisiert scheinenden Musik, bestehend aus Blasinstrumenten und Percussion, angereichert um Alltagsklänge wie Pusten, Klopfen und Rauschen, ohne dass sie durch einen Rhythmus vereinheitlicht werden und damit eine Komposition hätte erkenntlich werden können. Nur das heitere und muntere Klangbild wirkt und verbindet sich (scheinbar) mit den Bewegungen der Tänzer*innen in ihren bunten Kostümen und dem bunten, den Raum transformierenden Licht. Das gleiche Bewegungsvokabular wie in „Glacial Decoy“ und die gleiche ausbuchstabierte Bewegungsgrammatik in „In the Fall“ wirken nun, kontextualisiert durch Licht, Farbe, Kostüme und Klänge, freudig, lebenslustig, vergnügt, fröhlich und launig – also in einer Stimmung. Auf einmal scheint etwas erzählt, statt nüchtern analysiert zu werden. Auf einmal scheint die vierte offene Wand zum Publikum durchstoßen zu sein. Und auf einmal dominiert nicht die Erinnerungsleistung der Choreografie durch die Tänzer*innen, denn hier scheinen sie in einer Geschichte aufgehoben zu sein, die sie durch die 25 Minuten des Stücks leiten könnte. All das aber irrtümlich, denn die experimentelle Komposition ist exponentiell eine Herausforderung, denn statt zu verbinden, zerteilt sie die Bewegungen, den Raum und sich scheinbar andeutetende Muster. Athletik und Ausdauer werden von den Tänzer*innen gefordert. „Working Title“ zeigt sich im Einsatz dieser beiden Anforderungen als ein optimistischer work-in-progress, in den 1980er Jahren in den USA wissentlich anders als heute 2025 zu bewerten.

Glacial Decoy / Working Title / In the Fall © Delphine Perrin

Daraus ergaben sich aber weitere Einsichten: 

  • Positionen zu halten, ist anstrengend.
  • Positionen im Raum zu finden, gibt der Raum vor.
  • Positionen zueinander einzunehmen, ist keine alleinige Entscheidung.
  • Narration ist 1. nicht gegeben, umfasst 2. eine Anzahl von Elementen und 3. kombiniert diese.
  • Nicht gesehen zu werden, bedeutet nicht, nicht zu existieren.
  • Imagination findet genauso außerhalb des Rahmens statt.
  • Serialität vermehrt (manchmal auch nur scheinbar).
  • Abstände sind Mittel, Instrumente.
  • Brüche steigern die Möglichkeiten.
  • Geschwindigkeit ist relational.
  • Gegenläufigkeit unterbricht.
  • Widerstehen ist mindestens ein Zeitvektor.
  • Erinnern ist auch ein interrelationaler Akt, durch Bezüge, Referenzen, Echo.
  • Gleich ist höchstens ähnlich.
  • Kombination ist nicht Komposition. 
  • Auch 1 ist eine Konstellation.
  • Trägheit ist Schrägheit.
  • Unwahrscheinliches ist nicht unwahrscheinlich, ebenso nicht Unvorhersagbares.
  • Fallen ist auch eine Figur.
  • Kontext potenziert.
  • Choreografie verhandelt und überbrückt Prekäres.
  • Ausdauer! Immer noch und wieder neu.

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