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Selma Selmans veränderte Repräsentationspolitiken

Immer wieder unterbricht Selma Selman, tritt ans Mikrofon in die vorderste Reihe, verliest ihre Sätze, platziert auf einem Notenständer, wird rechts und links hinter sich von einer Cellistin und einem Sounddesigner begleitet. Sie startet langsam, bedächtig, verständlich, in unterschiedlichen Sprachen, wird lauter, agressiver, schreit irgendwann in das Mikrofon, „They say that gipsies steal.“, der Sounddesigner verstärkt ihre Stimme, verzerrt den Gehalt des Gesprochenen, die Cellistin verschärft mit quietschenden Tönen.

„Who can speak?“ fragen postkoloniale Theorieansätze, Selman schreit – und wechselt in ihrem Text von der 3. in die 1. Person Singular:

She is not lost, she is not going to be found. She is walking now, she is moving, and moving, and it looks like she is fighting the time, she is ahead, she is almost at the time.

She is holding herself still and she is Nike, she is about to fly without her head on her.

God, make me so famous, so I can escape this place.“

Nach der Zäsur schreitet sie in ihrem weißen, körperbetonten Kleid, durch grau abgesetzte Nähte in perfekter Passform, zurück in den Hintergrund, setzt sich eine schwarze Arbeitsbrille auf, zieht ihre weissen Gummihandschuhe über ihre Hände und fügt sich farblich perfekt ein hinter einem Arbeitstisch und zwischen ihrem Vater, in schwarzer Hose und weißem Hemd und ihrem Cousin, ebenfalls in schwarzer Hose und weißem Hemd. Auch sie sind ausgestattet mit einer schwarzen Arbeitsbrille und weißen Handschuhen. Der Bruder ist krank geworden, sonst hätten sie zu viert im Berliner Gropiusbau mit Äxten Elektroschrott zertrümmert, mit Akkuschraubern aufgeschraubt, von Plastikumschalungen befreit, in Einzelteile zerlegt und von einem Stapel auf den anderen sortiert, immer wieder unterbrochen von Selmas Vortragssequenzen.

Währenddessen spielt die Cellistin zu den Klängen des Verschrottens auf ihrem Cello (wer denkt dabei nicht an Charlotte Moormans Cellospiel während der Fluxus-Bewegung?). Der Sounddesigner (wie die Cellistin ebenfalls schwarz-weiß gekleidet) sitzt hinter dem Display seines Notebooks und kreiert Electronic Industrial(sound) in den Raum, der grell erleuchtet und von ca. 70 wechselnden Performancebesucher*innen gefüllt ist. Weitere etwa 200 stehen vor der Glastür und warten auf Einlass.

Selma Selmans Perfomance „Motherboard“ findet parallel zu ihrer Einzelausstellung „her0“ in der 1. Etage des Berliner Gropiusbaus statt. „Motherboard“ legt das Motherboard, die Hauptplatine von Personal Computern frei, auf der die operativen Einzelteile des Rechners wie der Hauptprozessor, der Arbeitsspeicher, die PC-Firmware oder andere Erweiterungskarten (z.B. Netzwerkkarten, Grafikkarten, Soundkarten, TV-Karten,  Modemkarten etc.) montiert sind. Unter „Trivia“ heißt es in der Wikipedia, dass die Hauptplatine genderunsensibel „Motherboard“ genannt wurde – für Selma Selman eine semantische Vorlage, sich gemeinsam mit ihren männlichen Familienmitgliedern des Motherboards anzunehmen und es lautstark, kühl, technoid, industriell, aggressiv, schwitzend, in grellem Licht und unter Anwesenheit eines großen Publikums im Gropiusbau freizulegen. Es staubt, es splittert, es funkt, es riecht nach Metallischem, für die Besucher*innen werden optional Schutzbrillen und Ohrenstöpsel ausgegeben.

Dabei handelt es sich nicht um die erste dieser Performances: Im April diesen Jahres zertrümmerte Selman „Motherboards“ auf Kampnagel, im Rahmen von „Krass Festival 11: Roma City Hamburg“, ein Jahr zuvor ebenfalls auf Kampnagel in „Mercedes Matrix“ an 4 Terminen einen Mercedes-Benz. Im vergangenen Jahr war sie documenta-15-Teilnehmerin und stellte zurückgebliebende Videos und Skulpturen ihrer Performances im Zwehrenturm im Fridericianum aus. 2017 schrie sie auf der Vernissage des 3. Berliner Herbstsalons bis zur Erschöpfung „You have no idea!

Selma Selman ist Romni aus Bosnien-Herzegowina („Romani origin“) und thematisiert vor unseren Augen im Gropiusbau das ganze Spektrum dessen, was als „Identität“ bezeichnet wird. In „Who needs Identity“ bietet der britische Soziologe und Mitbegründer der Cultural Studies Stuart Hall 1996 eine erste Definition dessen, was er als ‚Identität‘ versteht: Identität sei die „Nahtstelle“ zwischen Diskursen und Praktiken einerseits und Subjektivierungsprozessen andererseits. An der Nahtstelle würde Identität hergestellt, sie sei etwas Veränderbares und auch Auflösbares. Die Nahtstelle überbrücke die Lücke zwischen den in sozialen Diskursen für Individuen vorgesehenen Subjektpositionen einerseits und den Prozessen, die sprechbare (!) Subjekte für sich herstellen. Andere Varianten für „Identität“ sind zum Beispiel Floya Anthias‚ „Erzählungen über Zugehörigkeit“ (2003). 

Selman kreiert und generiert ihre „Erzählung von Zugehörigkeit“ performativ, aus einer Schnittmenge von geschlechtsspezifischen und rassistischen Diskrimierungen, stereotypen Identitätszuweisungen, Kultur- und Überlebenspraktiken des Recyclings, Familienbeziehungen, neokolonialen und kapitalistischen Diskurs- und Lebensverhältnissen. Mit Stuart Hall wäre ihr Kleid, wären die grauen Nähte ihres Kleides, die ihren Körper formen, nachzeichnen und betonen, die sich absetzen auf dem strahlenden Weiß und in Differenz zu ihren Mitperformer*innen die bedeutungsbildenden symbolischen Formen ihrer „Identität“. Ich möchte daher der Kuratorin der Ausstellung im Gropiusbau Zippora Elders vorschlagen, als Ergebnis der Performance nicht einen goldenen Nagel zu installieren, mit dem das gewonnene Gold materialisiert werden soll, sondern (ebenfalls Titel und Thema „Motherboard“ unterstützend) das Kleid zu präsentieren. 

Das Kleid wäre nicht nur die Nahtstelle von Vorgesehenem und Selbsthergestelltem, von Diskursen, Praktiken und Subjektivierungsprozessen, sondern auch die gefüllte Repräsentationslücke von (kulturtheoretisch gesprochen) Subalternen, die nicht nur nicht sprechen, sondern daher auch von gesellschaftlicher Rrepräsentation ausgeschlossen sind. Denn inmitten des musealen Neorenaissancebaus mit seinen hier eingebauten zurichtenden White-Cube-Techniken, inmitten ihrer männlichen Familienmitglieder, denen sie vertraut wie auch bestimmt Anweisungen gibt und unter lautstarken Schreien wie „They say that gipsies steal.“ zertrümmert sie stereotype Narrative, zerlegt Logiken von Sprach- und Wertproduktionen und füllt Repräsentationsleerstellen. Sie praktiziert laut, grell und eindeutig die Emanzipation und Widerständigkeit des in ihrem Kleid unzweifelhaft weiblich zu lesenden Körpers, indem sie sich nicht in vorgegebene familiäre, geschlechtliche, strukturelle, semantische, kulturelle und kulturbetriebliche Hierarchien einfügt, sondern indem sie selbst performativ (Re)Präsentationen herstellt, die gängige Blickregime aushebeln. Für diese Anliegen unterstützt sie auch strukturell-nachhaltig, zum Beispiel mit der Gründung von „Get The Heck To School“ 2017, einer Stiftung für die Ausbildung von Romnja, aber auch mit verbal ermächtigenden Statements wie:

„Ich glaube, dass die Rom:nja im 21. Jahrhundert die sozialen, ökologischen und technologischen Avantgardist:innen dieses Planeten sind. Seit etwa 100 Jahren recyceln wir Abfälle, um uns als unterdrückte Minderheit in der westlichen Moderne selbst zu versorgen – die erst jetzt den moralischen, sozioökonomischen und ökologischen Wert dieser Praxis erkennt.“ >>