Sun&Sea (Marina), diesmal klimaneutral

Zwei Vorbedingungen waren nahezu perfekt, um die preisgekrönte Performance-Oper der Biennale in Venedig 2019 Sun&Sea (Marina) nach Luckenwalde in Brandenburg, 80 Kilometer südlich von Berlin, zu holen:

Erstens ist in Luckenwald 1928 ein von Hans Hertlein projektiertes Stadtbad errichtet worden, mit Wannen- und Duschbädern, Saunen und Massageräumen, mit einer überdachten Schwimmhalle und einer erhöhten, umlaufenden Galerie. Sun&Sea fand 2019 auf der Venedig Biennale in einer künstlichen Indoor-Beach-Kulisse in einem historischen Gebäude des Arsenale statt, hierfür wurden 30 Tonnen Sand nach Venedig transportiert. In Luckenwalde konnte Sun&Sea in einem tatsächlichen, noch dazu seit 15 Jahren verlassenen und zunehmend vom Verfall bedrohten Stadtbad stattfinden, so wie es sich die drei Initiatorinnen Rugile Barzdžiukaite, Vaiva Grainyte und Lina Lapelyte bei ihren Plänen für Sun&Sea ursprünglich gewünscht hatten.

Zweitens konnte der Strom des denkmalgeschützten Stadtbads für die Kunstproduktion durch die Abwärme des benachbarten Kraftwerks, gebaut 1913, generiert werden: Das frühere Kohlekraftwerk wurde 2019 als ein „Kraftwerk & Kunstzentrum“ reaktiviert, das seinen Strom durch Holzgasifizierung von Fichtenholz aus den brandenburgischen Wäldern herstellt und als sogenannten „Kunststrom“ in ein überregionales Netz einspeist. Sun&Sea, der Biennale-Erfolg von 2019, thematisiert den anthropogenen Klimawandel und die drohenden, vom Menschen verursachten Umweltkatastrophen – so zumindest die einstimmige Lesweise der Rezeption –, allerdings ohne das Thema auch nur ein einziges Mal explizit zu erwähnen. Eine gemeinnützige und zirkulierende Einspeisungsskulptur in Form des zusammengekoppelten „Kraftwerks und Kunstzentrums“ Luckenwalde bietet beispielhaft eine gegenwärtig-visionäre Gegenerzählung zu dem, was Sun&Sea künstlerisch performiert. 

Das leerstehende Bauhaus-Stadtbad als Bühne und Kulisse und das E-Werk Luckenwalde „Kraftwerk & Kunstzentrum“ als Gastgeber und Stromversorger von und für Sun&Sea liefern damit weitere, nicht unwesentliche Bedeutungsebenen, zum Beispiel eine bis auf die Anreise und die Unterbringungen nahezu 100-prozentige CO2-neutrale Energieerzeugung, wie Pablo Wendel auf der Eröffnungsfeier betont. Dies dürfte die Inszenierung der Produktion an dem Wochenende 17. und 18. Juli 2021 wesentlich von allen anderen Stationen ihrer bisherigen und künftigen Tour unterscheiden, denn Sun&Sea wurde bereits 2017 in der Vilnius’ National Gallery of Arts uraufgeführt und war seit der Biennale 2019 in Venedig an verschiedenen Orten (Bergen/Norwegen, Zürich, Kopenhagen) zu erleben. Der Kontext des verlassenen Stadtbads potenziert die dystopische Dimension der Performance-Oper; in dem Kontext des E-Werks Luckenwalde wird der Klimawandel nicht nur implizit thematisiert, sondern hier werden in Berücksichtigung der Produktionsbedingungen alternative Energiebedingungen hergestellt. Damit handelt es sich um ein prototypisches Beispiel, wie der Kontext der Produktionsbedingungen die Bedeutungsbildungsprozesse künstlerischer Arbeiten und damit ihre Glaubhaftigkeit und Visionsfähigkeit und zwar im besten Sinne der hier angelegten ökologischen Themen beeinflusst. Hinzu kommt der Ort Luckenwalde selbst, den die Besucher*innen, ob mit der Bahn oder dem Auto angereist, auf ihrem Weg zum Kunstereignis passieren: Ein erodierender Ort, welche Gründe auch immer sich hier treffen …

Daher dürfte es den künstlerischen Leiter*innen Helen Turner und Pablo Wendel, die vor einigen Jahren das E-Werk erworben und reaktiviert haben, nicht schwer gefallen sein, das Team von Sun&Sea um die Filmemacherin Barzdžiukait?, die Schriftstellerin Grainyt? und die Komponistin, Musikerin und Performancekünstlerin Lapelyt? sowie die Kuratorin Lucia Pietroiusti (verantwortlich für das Programm General Ecology der Serpentine in London) zu überzeugen, dass sich das Stadtbad Luckenwalde und das nachbarschaftliche E-Werk hervorragend als Produzent eigne, um Sun&Sea an genau diesem Ort ein weiteres Mal zu inszenieren. Nachdem durch die Covid-19-Pandemie die Produktion drei (oder vier?) Mal verschoben werden musste, wurde sie nun gerade an einem Wochenende aufgeführt, an dem hohe Temperaturen mit sehr hoher Luftfeuchtigkeit herrschten und im Westen der Republik viele Menschen gegen ein Jahrhunderthochwasser ankämpften. Auch diese Kontextbedingungen hinterlassen ihre Spuren im Rezeptionsvorgang von Sun&Sea

Wie schon 2019 auf der Biennale in Venedig standen die Besucher*innen der Performance getrennt von dem Performance-Geschehen auf einer umlaufenden Empore, um aus erhöhter Position auf die annähernd einstündigen Ereignisse einige Meter unter ihnen hinabzublicken: auf ein älteres Paar, das sich gegenseitig ihre Körper eincremte, ein schwules junges Paar, das sich nicht von der Hand ließ, ein Teenager-Zwillingspaar mit langen dicken Zöpfen, Ball oder Frisbee spielende Kinder, eine Yoga-Sonnengruß praktizierende junge Frau, eine strickende ältere Dame… Instantan und synchron entstanden so viele kleine, fraktale, montierte Mieses en Scène, manche von ihnen kamen innerhalb des dramaturgischen Gesamtnarrativs miteinander in Kontakt. Die Besucher*innen blieben Zuhörer*innen und Zuschauer*innen, allerdings in einer trotz ihrer physischer Anwesenheit eigenwilligen Abwesenheit. Denn trotz ihres eindimensional gerichteten, voyeristischen, die Szenerie überwachenden, hierarchischen Blicks von oben nach unten stießen sie auf die undurchbrochene vierte Wand des Theaters, blieben von den Performer*innen von unten nach oben ungesehen und wurden zwischen unterschiedlichen (mit Gérard Genette extra-, intra- und metadiegetischer) Zeitlichkeiten der Erzählhandlung und der Eigenwelt gehalten.

Von den gut 30 Performer*innen sangen etwa die Hälfte, auf ihren Handtüchern oder ihren Strandstühlen liegend, jede/r Opernsänger/in zunächst ganz für sich in seinen/ihren Gedanken sinnierend: über Ferien am Great Barrier Reef, über das schöne Leben („Oh la Vida“) und das „Liegen am Strand“, aber auch über ihre sichtbaren Hautveränderungen, das Korallensterben, die Euthropierung der Meere, über unvorhergesagte Vulkanausbrüche, Ertrunkene in Meeresströmungen, Panikattacken, Überhitzungs- und Müdigkeitssymptome:

„… gib hier noch Creme / auf meine Beine / Sonst Schälen sie sich noch / Werden rissig / Komm, ich crem dich auch ein… / Rot wie ein Krebs wirst du dich sonst (noch) …“

„Es empfiehlt sich, am Ufer zu bleiben, Kinder nicht unbeaufsichtigt Sandburgen bauen zu lassen und Steinchen und Muscheln, Bernstein und Zähnchen sammeln zu lassen! …“

„Der Vulkanausbruch war plötzlich eingetreten. Alle Diagramme und Tabellen null und nichtig. Die Kliamforscher hatten dieses Szenario gar nicht vorhergesehen.“

Die, in die „Performance-Oper“ eingestreuten, apokalyptischen Themen kollidierten mit dem Sichtbaren und waren nur aus dem auf Papier verteilten Libretto herauszulesen, vereinzelt aus dissonanten Kompositionen herauszuhören oder durch bedrohliche Soundübersteuerungen der Synthesizer zu interpretieren: „Die Krisen der Gegenwart entfalten sich leicht und leise – wie ein Popsong am allerletzten Tag der Erde“, heißt es im Begleittext der Veranstaltung und thematisiert damit eine bedrohliche Trivialität, wie sie auch in etlichen Bildungsromanen vor gut 100 Jahren erzählt wurde. Hier knarrt und keucht eine erschöpfte Erde, schreibt die Kuratorin Pietroiusti und Sätze wie solche geben klar den Bedeutungskontext und -zusammenhang vor. Die Einzelstimmen, die in englischer Sprache Soloparts wie die „Arie der Sirene“, das „Lied des Wetterchaos“ oder den „Überhitzungschanson“ sangen, wurden zwischendurch immer mal wieder in einem viel- und mehrstimmigen „Urlauberchor“ zusammengeführt und hierin entweder vokal belassen oder durch einen minimalistisch reduzierten Synthesizer-Sound begleitet. Das Stadtbad verstärkte seinerseits durch Echobildungen im Raum. 

Sichtbar war eine unaufgeregte und harmlose Ferien- und Strandszenerie mit allen erwartbaren und unschuldig wirkenden Sommer- und Strandutensilien: Sonnencreme und Wasserflaschen, Flip Flops und Strandtaschen, Bücher und Handys, Sonnenschirme und Strandmatten, so dass hier statt von einer (von den Initiatorinnen so bezeichneten) Performance-Oper vielleicht doch besser von einer theatral/kinematografisch performativen Installation die Rede sein und damit auch das ‚in between‘ prononziert werden könnte. Wie die Gattungszuweisungen untereinander standen auch Szenographie und Performance in Diskrepanz zu Musik und Libretto. Die Patina der historischen, vom Verfall bedrohten Architektur drängte zu der Annahme, dass es sich hier um mehr als um die sichtbare Oberfläche handeln könnte, dass hier ein Mosaik von visuellen, akustischen, räumlichen, gefühlten, erzählten, imaginierten … Bedeutungen aufgeschichtet wird, die sich nach meinem Eindruck zu einer noch fragileren und dysfunktionaleren Szenerie und zwar einer Kakophonie vieler Stimmen (nicht) hätte vereinen können, statt in dieser Balance gehalten zu werden. Mag das damit zu tun haben, dass seit der Uraufführung bereits vier Jahre vergangen sind und sich die Umweltzerstörungen auch sichtbar zeigen? Oder hat sich die Lesweise der künstlerischen Arbeit mittlerweile eindimensioniert auf die ökologische Dimension reduziert? Die inhaltliche Dimension jedenfalls findet sich auch in der formalen Entscheidung wieder, die Performance über mehrere Stunden hinweg als einen repetetiven Loop ohne Anfang und Ende, ohne Ein- und (tröstlichen) Ausstieg aufzuführen und damit die Besucher*innen in between in die performierte Illusionsbrüchigkeit einzufangen.

70 Tonnen Sand wurden hierfür aus einer 200 Meter entfernten Sandgrube in das Stadtbad transportiert, von Hand gesiebt und auf 500 Holzpaletten verteilt, um das Höhenniveau und die Schräge des leeren Schwimmbeckens zu überwinden. Ein unter dem Sand verlaufender Feuerwehrschlauch trocknete und wärmte den feuchten Sand mit der Abwärme des benachbarten E-Werks. Zusammen mit den umliegenden Scheinwerfern als falsche Sonnen, die das Farbspektrum der Szenerie überbelichteten, heizte sich das Strandbad zu einem feucht-warmen Raum auf, in dem sich die Besucher*innen, mit Corona-Schutzmasken ausgestattet und am Geländer lehnend, mit dem Librettopapier Luft zufächelten. Um diesen Kraftakt zu finanzieren, initiierten Turner und Wendel zusammen mit ihrem Team neben der finanziellen Unterstützung etwa durch die Neustarthilfe der Bundeskulturbeauftragten und private Stiftungen eine Crowdfunding-Kampagne auf kickstarter.com, die 43.044 € einwarb und damit ein Drittel der Kosten abdeckte. „E-WERK Luckenwalde is an example of an institution that thinks ecologically across all levels of its programming and infrastructure“, sagt die Kuratorin Lucia Pietroiusti. Damit könnte sie auch meinen, dass der in Luckenwalde im E-Werk produzierte „Kunststrom“ in ein überregionales Netz eingespeist wird und jederzeit zur eigenen Energieversorgung genutzt werden kann . Darüber hinaus werden 100 Prozent der Einnahmen wiederum in Kunst und Nachhaltigkeit der gemeinnützigen Organisation investiert.

Weitere Stationen 2021: Athen, Malmö

For further reading in English please see the bachelor thesis by Sandrina Welte 2020: The Lithuanian Pavilion of the 58th Venice Biennale: Sun & Sea (Marina), A Cacophonous Beach Humming with the Artistic Rhetoric of Performative Reflection, Studiengang Kunstgeschichte, Department Kunstwissenschaften, Ludwig-Maximilians-Universität München