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Vom Beherrschen und Selbstbeherrschen zum Staunen

Himmlische Klänge ließen Sir John Eliot Gardiner und unter seiner Leitung die von ihm gegründeten Ensembles, der Monteverdi Choir und die English Baroque Soloists, in der Berliner Philharmonie erklingen. Im Rahmen des Berliner Musikfest 2021 traf hier am 3. September 2021 Georg Friedrich Händel auf Johann Sebastian Bach, konkreter drei Kantaten, die zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten, in unterschiedlichen Zusammenhängen und zu unterschiedlichen Zwecken komponiert wurden:

Händel verfasste seine eindrucksvolle Psalmvertonung für Soli, Chor und Orchester „Dixit Dominus“ während seiner vier Jahr währenden Italienreise, vermutlich begann er sie in Venedig und stellte sie 1707 und zwar im April in Rom fertig, so dass sie, ohne dabei einem Auftrag gefolgt zu sein, in der Kirche Santa Maria in Monte Santo, in Rom, im Juli 1707 uraufgeführt wurde. „Donna, che in ciel di tanta luce splendi“ war anschließend eine Auftragsarbeit von Papst Clemens XI. Die Kantante für Sopran, Chor und Orchester mit einem feierlichen Chorfinale schrieb Händel während seines Romaufenthaltes 1707/08 und wurde hier in Santa Maria in Ara Coeli im Februar 1708 uraufgeführt. Bachs frühe Choralkantate für Soli, Chor und Orchester „Christ lag in Todes Banden“, die Vertonung des gleichnamigen Osterliedes von Martin Luther aus dem Jahr 1524, entstand vermutlich während Bachs Aufenthalt in Mühlhausen 1707/08, wo er sich in der Blasiuskirche auf die vakante Organistenstelle vorstellte und wohl auch als Komponist empfehlen wollte.

„Donna, che in ciel di tanta luce splendi“: Herrin, die du voll Glanz im Himmel prangst

© Astrid Ackermann / Musikfest Berlin.

Es mag an einer vorangehenden Lektüre Michel Foucaults und an Gesprächen zu Foucaults Governementalitätsstudien („gouverner“ + „mentalité“), also zu Formen von Regierungen, Machtausübungen und Vermachtungen gelegen haben, dass hier im Folgenden statt einer Konzertrezension ein Essay entstanden ist, der sich an Ideenhistoriker*innen, Musik- und Kunstwissenschaftler*innen und ästhetische Philosoph*innen wendet:

Denn inmitten dieses Konzertes verschmolzen die von Foucault analysierte Pastoralmacht der christlich-religiösen Konzeption, die die Beziehung zwischen Hirt und Herde organisiert, mit derjenigen Macht, die sich zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert in weitere Bereiche des Regierens und zwar auf alle denkbaren Aktivitäten und Handlungen ausweiten sollte.

„Dixit Dominus“: Der Herr sprach 

© Astrid Ackermann / Musikfest Berlin.

Zu Beginn der Neuzeit entsteht eine neue Form der Pastoralmacht, die sich als Totalisierungs- und Individualisierungstendenz moderner Staatlichkeit und moderne Subjektivität zeigt. Statt Seelen werden nun, so Foucault, Menschen regiert, weder die Gesetze Gottes noch die Interessen eines irdischen Herrschers würden sich nun mehr artikulieren, sondern eine Governementalität, die den modernen Menschen herausbilden lässt. An diesem Punkt weiten sich die innerhalb des Christentums entwickelten Führungstechniken (durch Beichte und Gehorsam) aus, erfahren eine Säkularisierung und entwickelten sich zu Mechanismen und Technologien der Disziplin. Christi Himmelreich ging bekannterweise in den Aufbau von geopolitischen Territorial- und Kolonialreichen über. 

In genau diesen konzeptionellen Zwischenraum fallen Händel und Bach mit ihren Kompositionen von 1707/1708: Sie sind noch christlich pastorale und schon politische Machttechniken, die Regierungskünste sind zu diesem Zeitpunkt, so die These dieser Überlegungen, heterogen und diskontinuierlich, sie sind nicht mit religiösen oder staatlichen Institutionen identisch noch auf ein politisches System beschränkt, sondern sie zeigen sich in einer vielfältigen und doch eindeutigen Weise der Lenkung, Kontrolle und Leitung. Hier verknüpfen sich Herrschaftstechniken mit den Technologien des Selbst, Staatsformierung mit Subjektivierung. Fremdführung fällt mit Selbstführung, Beherrschung mit Selbstbeherrschung zusammen, und das umfasst sowohl die Instrumente, die Notensysteme, die Generalbassschrift, die Harmonien und Akkorde wie auch die Körper und Blicke, die Emotionen und Affekte, sowohl auf Seiten der Musizierenden als auch auf Seiten der Rezipierenden – mit einem akustischen und visuellen Ergebnis, das wahrlich zum Staunen bringt: „Halleluja“. So wird ansichtig, dass Macht keine einseitige Angelegenheit und das sich hierin entwickelnde (produ- wie rezipierende) „Subjekt“ auch nicht ohne Zwei- oder Mehrdeutigkeit zu haben ist.

„Gloria Patri“: Ehre sei dem Vater 

Ann Hallenberg, Mezzosopran. © Astrid Ackermann / Musikfest Berlin.

Zeitlich nur knapp bevor das moderne, ästhetische Regime der Künste und dessen Betriebssystem in seinen Normativen der Präsenz, des Geniehaften und des Autonomen begründet und von einer Funktionslosigkeit befreit wurde, demnach Entregelungsprozesse in Gang gesetzt wurden, versetzen Händel und Bach beide Seiten des musikalischen Ereignisses in eine transitorische Lage. Mag hier die Ursache liegen, dass der Gründungsmoment des ästhetischen Regimes im 18. Jahrhundert noch von der Pastoralmacht überlagert war, so dass im ästhetischen Regime noch knapp die Dimensionen des Glaubens, der Wahrheit, der Schönheit, der Tugend und des Gehorsams eingenäht sind, so dass hier Versprechen (etwa ein Versprechen auf Freiheiten in Unabhängigkeit vom Regierungshandeln und damit ein machtfreies Areal) in Aussicht gestellt werden (können), die nicht einlösbar sind? Wurden so und zu dem Zeitpunkt die Bedingungen organisiert, unter denen beispielsweise die Freiheiten für die Kunst und Künste nicht produziert, sondern lediglich fabriziert werden? Und welche konstitutive (politische, historische) Rolle spielt innerhalb dieser Überlegungen die Generalbasspraxis (Basso continuo), die die polyphone Vokalmusik der vorangegehenden Epochen ablösten und auf eine Monodie umstellte? Deuten sich mit und in dem Basso continuo dieser Zeit bereits die im 18. Jahrhundert aufkommenden Sicherheitsmechanismen an, die dann zu der wichtigsten Aufgabe der Regierungsrationalität führen?

Hier wären Musik-, Kunst- und Kulturarchäologen aufgefordert, sich noch einmal mit dem 18. Jahrhundert auseinanderzusetzen und dessen Schichten freizulegen, an denen sowohl Bach und Händel, aber auch David Hume und Immanuel Kant beteiligt waren.

Literaturempfehlungen:

Foucault, Michel: Die Gouvernementalität, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/Main 2000, S. 41–67.

Lemke, Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg/Berlin 1997.

Hörempfehlungen:

Aufzeichnung auf Musikfest Berlin on Demand, bis 14.09.2021, 16 Uhr: https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/on-demand/2021/musikfest-berlin/english-baroque-soloists.html

oder:

https://youtu.be/dS65-ZvUSSM

Foucault, die Dritte: Die Ordnung der Kunst

1966 legt Michel Foucault seine Abhandlung zur „Ordnung der Dinge“ (Les Mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines) vor, in der er „das Wissen über Lebewesen, über die Gesetze der Sprache und über ökonomische Zusammenhänge“ von der Renaissance bis zur Gegenwart philosophisch und historisch untersucht. Er diagnostiziert in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts und um 1800 zwei Brüche, um dann im 19. Jahrhundert die Humanwissenschaften (Psychologie, Soziologie, Kultur-, Ideen- und Wissenschaftsgeschichte) und im 20. Jahrhundert mit der Linguistik, Ethnologie und Psychoanlyse weitere Wissensformen entstehen zu sehen.

1970 setzt Foucault in seiner Antrittsvorlesung zu seiner Berufung am Collège de France mit der „Ordnung des Diskurses“ (L’ordre du discours, 1971 veröffentlicht) sein Ordnungsmotiv fort, in der er diejenigen Prozeduren herausarbeitet, die den Diskurs kontrollieren, selektieren, organisieren und kanalisieren, um dessen „unberechenbares Ereignishaftes zu bannen“. Durch Ausschließungsprozeduren, durch interne Prozeduren (Klassifikation, Anordnung und Verteilung) sowie durch die Verknappung des Autors würden die Kräfte und Gefahren des Diskurses gebändigt.

2016 versucht sich nun die interdisziplinäre Veranstaltungsreihe mit dem Titel „Fearless Speech. Anschlüsse an Foucault“ mit einem Sprachspiel an einem dritten Teil, an der „Ordnung der Kunst„. Hierbei handelt es sich um nur einen Slot (am 17.4.2016), mit dem neben anderen wie „Foucault und der Neoliberalismus“ (16.3.2016) „Foucault 40 Jahre danach“ (22.6.2016) untersucht werden soll. Die Veranstaltungsreihe am Berliner HAU versucht sich also nach Eigenaussagen an einer Revitalisierung und Reaktualisierung Foucaults, die zunächst rhetorisch oder auch taktisch deklariert erscheint, da Foucault angesichts der Disziplinierungs-, Macht- und Wahrheitsrelevanzen (Stichwort Facebook, Bankenrettung und „Lügenpresse“) heutiger Debatten zumindest im Wissenschaftsmilieu keine Aktualität eingebüßt hat, man also durchaus von einer ungebrochenen Rezeption Foucaults sprechen kann. Genauer formuliert versucht die Veranstaltungsreihe eine „ästhetische Wende“ in der Rezeption Foucaults auszurufen (zu konstatieren? zu begleiten?), die der eingeladene Philosoph und Nachlassverwalter Foucaults (und GuattarisRoberto Nigro gegenwärtig im Anschluss an Foucaults zunächst politischer, dann moralischer Reflexion bzw. Rezeption beobachtet. Diese ästhetische Wende hätte, so Nigro, mit der Transformation des globalen Kapitalismus zu tun, die nun die Ästhetik in den Blick bringe und nehme. Der ebenfalls eingeladene Kunstsoziologe Ulf Wuggenig stützt diese These wenn auch aus methodologischer Perspektive, indem er den Poststrukturalismus als theoretischen Rahmen für die Kunst ohnehin geeigneter sieht als die Kritische Theorie. Ob es sich hier um rezeptionsrelevante, wissenschaftshistorische, politische oder gar hochschulpolitische Interessen handelt, die den Anlass zu der Veranstaltung gegeben haben, sei dahin gestellt, zumindest fällt sie zeitlich mit der Herausgabe weiterer Texte zum 90. Geburtstag von Foucault zusammen.

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Was ist Kritik?, Teil x+1

Mit dem Titel „Was ist Kritik?“ schließt das Internationale Symposium, das am 28.1.2016 mit einem Vortrag des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy im Berliner HAU startete, an prominente Vorläufer an:

Zunächst an Michel Foucaults Vortrag 1978 vor der Société française de philosophie, in dem Foucault die noch heute gängige Definition in Frageform vorschlägt: „Wie ist es möglich, dass man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird – dass man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird?“ (Foucault 1992, S. 11f.) Und weiter: „[…] schlage ich also die allgemeine Charakterisierung vor: die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden.“ (Ebd., S. 12) Seinen Vortrag setzte Foucault 1983 mit der Vorlesung „Was ist Aufklärung?“ fort, da sich bereits in seinem Vortrag zur Kritik abzeichnete, dass er einer „Verschickung“ des Unternehmens Aufklärung in das Projekt Kritik auf die Spur kam (S. 41) und zitierte mit dem Titel Kants Essay „Was ist Aufklärung?“ aus dem Jahr 1784, dessen Titel sich schon Kant aus Textvorläufern lieh.

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Nun also greift ein Internationales Symposium die Frage auf und will ihr in drei Einzelterminen auf den Grund gehen: mit Nancys Eingangsvortrag, mit einem Symposium am 6.2. und 7.2.2016 im Berliner n.b.k., sowie am 1. und 2.4.2016 im IFCAR (Institute for Contemporary Research) an der Zürcher Hochschule der Künste.

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