Ein narrativer Ton, technisch (und institutionell) zu einer plastischen Ambient-Installation geformt
I. Mittwoch, 12.9.2018, Galerie Weisser Elefant, Auguststr. 21, Berlin: Der De-Konzept-Künstler und Theoretiker Stefan Römer geht mit seiner Performance „Six Gun Shots / Sechs Schüsse“ ins akustische Innere von sechs Schüssen. Im abgedunkelten Galerieraum in der ersten Etage eines Altbaus in Berlin Mitte sitzt Römer, von einer Projektion in seinem Rücken angeleuchtet, frontal zum Publikum an einem Tisch, vor ihm einige wenige, miteinander verkabelte und verschaltete, beim Einsatz blinkende Synthesizer der Marke Moog, die Römer während der Performance über Regler steuert. Eingangs erklingen sechs Töne, sechs Schüsse, wie ein kurzer Text schwarz auf weiss auf die Galeriewand projiziert und schon der Titel der Performance informiert hat. Sechs Schüsse, die Römer an einem frühen Morgen im Winter 2006 in München weckten und die zwei Personen töteten – ob von Römer beobachtet, später erfahren oder erdacht, bleibt hier (ohne weitere Informationen) im Unbestimmten. Die kurze textliche Information zur Münchner Story wird angereichert mit kunst- bzw. soundhistorischen Referenzen auf den US-amerikanischen Komponisten La Monte Young und den US-amerikanischen Künstler John Cage sowie mit kunst- und medientheoretischen Fragen wie: „What does the interior of a shot sound like?“
Römer nimmt jeden einzelnen der sechs unterschiedlich klingenden Schüsse, genauer der sechs Töne als Audiosignal und erzeugt mit den Synthesizern eine akustische und hieraus folgend auch eine räumliche Situation von jeweils 5 Minuten: Mit Oszillatoren und Filtern der Hardware formt Römer Klangeffekte, die verstimmt, verformt, gedehnt und verzerrt wirken, die oszillieren, vibrieren und rauschen, die als Vibrato und in unterschiedlichen Frequenzhöhen auftreten, unwiederholbar, da nicht speicherbar sind und garantiert sechs unterschiedliche „interiors“ kreieren. Als Forschungsobjekt („What does the interior of a shot sound like?“) erhält jeder der sechs Töne eine temporäre und performative Originalität und Einzigartigkeit, denen die auf dem Boden sitzenden, lauschenden, kontemplativ versunkenden ZuhörerInnen und ZuschauerInnen nachsinnen. Ob sie wissen, dass die sechs, die Komposition referenzierenden Schüsse eine Frau und einen Mann töteten, eine vierjährige Tochter einen Lungendurchschuss überlebte und Römer mit der Performance versucht, der Frage nachzugehen, ob und wie Schüsse (etwa mit einer Reverse-Schaltung) akustisch rückgängig gemacht werden können und welchen Anteil hieran insbesondere der Nachhall hat? Eine für trauma- bzw. psychotherapeutische Arbeitsverfahren überaus wertvolle und förderliche Überlegung.
Der wenige projizierte Text wird in einer Dauerschleife von fünf, sechs Folien wie ein Sample als Loop wiederholt und ist mit einer eigenen Zeitdauer ausgestattet, so dass die Zeitachse Bild und Ton nicht synchron zueinander abgestimmt sind, sich aus den Unterschieden verschiedene und einander vorandrängende Zeiten formen. Römer, schwarz gekleidet und von Lautsprecherboxen gerahmt, steuert dazu konzentriert, aber nicht extrovertiert die Technik, die zwischen ihm und dem Publikum aufgebaut ist. Im Habitus und Understatement eines Tonmeisters performiert er eine Audiosituation, generiert aber im Zusammenspiel mit dem Frame der bildenden Kunst eine dreißigminütige Plastik, vielleicht auch eher eine plastische Ambient-Installation, wenn er auditiv sechs Schüsse hintereinander auf akustische Einzelbestandteile dekonstruiert.
Episches Bewegtbild, unter Kronleuchtern durch (Neue) Musik verfremdet
II. Freitag, 14.9.2018, Konzerthaus Berlin, Gendarmenmarkt: Das Rundfunk-Sinfonieorchester unter Leitung von Frank Strobel spielt vor großer Kulissen unter opulenten Kronleuchtern des Schinkelbaus zu dem Stummfilm „J’accuse“ („Ich klage an“) von Abel Gance (1919) die Filmvertonung von Philippe Schoeller für großes Orchester und Live-Elektronik aus dem Jahr 2014 . „J’accuse“ erzählt eine Dreiecksgeschichte, die durch den Ersten Weltkrieg in einen politischen Frame gesetzt wird: Die zunächst klare Pro- und Antagonistenanordnung der Vorkriegszeit (der gute, friedfertige Poet Jean, der böse, gewalttätige Jäger Francoise, die heilige, passiv geduldige Ehefrau Edith) wandelt sich im Verlauf der (bei 19 fsc) 166 Minuten und 3525 Meter Schwarz-Weiss-Film (mit blau-, grün-, violett-, gelb-, orange- und rot-gefärbten Einzelszenen, die durch fünf, zur Rekonstruktion herangezogenen Kopien zu erklären sind). Durch moralische Verwicklungen und Verstrickungen, einer an der Front geschlossenen Männerfreundschaft, Charakterveränderungen, einer psychischen Erkrankung und Schuldheftigkeiten entsteht eine komplexere und weniger plakative Schwarz-Weiss-Konstellation, die alle Beteiligten zu geständigen Komplizen oder reflektierten Schuldigen werden lässt, aber dennoch im melodramatischen Desaster eines jüngsten Gerichts enden. Das Mäandernde der Handlung mag damit zu tun haben, dass es sich wohl zunächst um einen Rekrutierungsfilm für die französische Armee gehandelt haben soll, die Geschichte dann 1922 gekürzt und 1938 mit einer Tonversion erneut umgeschnitten wurde, so dass heute von dem „ersten Anti-Kriegsfilm“ die Rede ist.
Abels Film ist in Aufbau und Zielsetzung ein episches Theater (ein Begriff, der erst 1926 von Bertolt Brecht verwendet werden sollte): Durch Verfremdungen, Desillusionierungen, Störungen, Ein- und Überblendungen sollen offensichtlich Lerneffekte beim Publikum in Gang gesetzt werden. Der Plot wird regelmäßig durch eine direkte bildliche Ansprache an das Publikum („J’accuse“ als Kreideschrift, „J’accuse“ in Jugendstilbuchstabe aus gefesselten, nackten Frauenkörpern geformt, „J’accuse“ formiert aus Soldatenkörpern auf dem Schlachtfeld, …), durch schriftliche Zitate aus Soldatenbriefen oder bildliche Allegorien unterbrochen. Es klagen an: der pazifistische und sich später kriegsverpflichtende Poet, das unschuldige, in einer Vergewaltigung gezeugte Kleinkind, Untote des Krieges, die keinen Sinn in ihrem Tod finden, reigentanzende Skelette im Totentanz. Die cineastische Vertonung des französischen Komponisten Philippe Schoeller (Jhg. 1957) durch ein großes Sinfonieorchester mit Live-Elektronik setzt kontrastierend zu den moralischen Schwarz-Weiss-Bildern (und analog zum Konzept des epischen Theaters) Zersplitterungen auf klanglicher, harmonischer, melodischer und rhythmischer Ebene dagegen. Ihr gelingt, das Expressive, Surrealistische und Dadaistische der Bilder durch Bildmotive, Bildkompositionen, kontrastreiche Beleuchtungen, Schauspiel, Licht- und Schattenbildungen (aus 1919) vornehmlich mit Mitteln der Neuen Musik (aus 2014) herauszuarbeiten. Mit orchestral-sinfonischer Begleitung, elektronischen Effekten und Zusatzgeräuschen eines virtuellen Chors (Gilbert Nouno an den Reglern) wird das tonale System nicht selten bis zur Atonalität aufgelöst, es entstehen mitunter extreme Tonlagen, dynamische Gegensätze, freie Rhythmen und neuartige Instrumentationen (allein acht Percussionisten spielen die Pauken und das sehr differenzierte Schlagwerk). Der Ton hier wird durch Variationen der Erweiterung in seinen Einzelbestandteilen Lautstärke, Dauer, Frequenz, Spannung und Instrumentation situativ hergestellt. Die Formschemata sind dabei nicht an die Bilder und deren Schnitte gebunden, sondern stellen Asymmetrien zwischen Bild und Ton her. Die Asymmetrien im Ton laufen gegen die Vielzahl der Symmetrien im Bild (Kreuzigungsposen, Triptychen, Altarbilder, Totentanz …) und bleiben in nicht moralisierendem oder kommentierendem, respektvollem Abstand zum Film.
„J’accuse“ ist vermutlich einer der ersten Filme, der mit Dokumentaraufnahmen ausgestattet ist: Zu sehen sind eine Siegesparade am Pariser Arc de Triomphe, Dreharbeiten fanden zwischen August 1918 bis März 1919 der 28. Division der amerikanischen Armee auf den Schlachtfeldern von St. Michiel und Hatton-Chatel nahe Verdun statt. Mit 2 000 Soldaten, die etwas später in der Schlacht ihr Leben lassen sollten, drehte Gance Jeans finale Vision von der Wiederauferstehung der Toten und ihrer Konfrontation der Überlebenden mit der eindringlichen Frage, welchen Sinn ihr Tod haben wird. Die Filmmusik, die zum 100. Jahrestag des Ausbruch des Ersten Weltkriegs von ZDF/ARTE in Auftrag gegeben wurde, wird nun zum 100. Jahrestag der Beendigung des Ersten Weltkriegs in einem der französischen Revolutionsarchitektur verwandten klassizistischen Haus in Berlin einem Publikum präsentiert, das nicht gemahnt oder überzeugt werden muss. Der Ort der preußischen Aufklärung erweitert dabei das akustische und cinematografische Werk um eine szenische, theatrale und politisch-installative Dimension und kontextualisiert zusammen mit dem Anlass des 100. Jahrestages des Ende des Ersten Weltkriegs den Film unmissverständlich als einen Antikriegsfilm.
J’accuse, Rundfunk-Sinfonieorchester unter Leitung von Frank Strobel, 2018, © RSB.
J’accuse, Abel Gance, 1919, © Lobster Film.
Algorithmus für Ton und Bildübersetzung, ins Intermediäre und Interrelationale getunt
III. Dienstag, 18.9.2018, Philharmonie Berlin, Kulturforum: Das Orchester der Lucerne Festival Academy spielt unter Leitung von Peter Eötvös Karlheinz Stockhausens „INORI. Anbetungen für zwei Tänzermimen und großes Orchester“ aus 1973/74. Seinerzeit von den Donaueschinger Musiktagen in Auftrag gegeben liest sich die Partitur und Stockhausens Anweisungen wie ein Algorithmus: dass die ersten Spieler jeder Gruppe (also der Konzertmeister, die 1. Geiger der Violinen, der Celli, der Kontrabässe) am Bühnenrand zu sitzen haben, da sich damit die dynamischen Skalen im Raum entsprechend gestalten, dass 13 Tonhöhen, 13 Tempi (mit exakten Metronomangaben von MM 47.5 bis 101), 13 Lautstärken, 13 Klangfarben existieren, die ihrerseits von 13 Gebetsgesten von sog. Tänzermimen in einem ausdifferenzierten Bewegungsvokabular vorgetragen werden, dass das Werk durch 5 Abschnitte gegliedert ist, die 12, 15, 6, 9 und 18 Minuten, zusammengenommen also gut 60 Minuten dauern. Dabei startet das Werk mit dem Ton G (G wie Gott), der in der ersten Hälfte des Stücks dauerhaft wiederholt wird, um von da aus allmählich eine zarte Melodie aus 13 Tönen zu entwickeln und in den 5 Abschnitten durch den Rhythmus, die Lautstärke, die Melodie, die Harmonie und die Polyphonie zu führen.
Neben der genauen Sitzanweisung für die 89 Musiker des großen Orchesters (so ist das Schlagwerk so angeordnet, dass hinten rechts die höchsten Metallinstrumente klingen, direkt vor dem Dirigenten diejenigen in der Mittellage und hinten links die der tiefen Lage, mit Klangplatten eingehaust) weist Stockhausen eine gestische Übersetzung von Tönen, Tempi, Lautstärken und Klangfarben coram publico an: „Eine Geste in der Herzgegend direkt vor der Brust mit geschlossenen Händen entspricht der mittleren Tonhöhe G, der Lautstärke pianissimo und der längsten Dauer.“ In der Philharmonie übernehmen zwei Mimen, eine weibliche, eine männliche, eine hell, eine dunkel gekleidete Person (Winnie Huang und Diego Vásquez) die Übersetzungsleistung der akustischen in eine visuelle Dimension – beide Figuren werden durch unterhalb angeordnete Scheinwerfer an der Decke der Philharmonie als Schatten zusätzlich vervierfacht. Auf einer über den japanischen RIN (Metalltassen, die in Tempelzeremonien eingesetzt werden) angeordneten schwebenden Plattform und in unmittelbarer Nähe zum Dirigenten falten sie – jede/r für sich und synchron zu den Klängen – die Hände, legen die Handflächen vor das Gesicht, berühren Daumen und Zeigefinger, kreuzen ihre Hände vor der Brust, legen eine Hand ans Ohr oder vor das Herz, verschränken die Arme vor dem Oberkörper.
Angereichert mit Blick-, Kopf-, Ober- und Unterkörperbewegungen entsteht ein dynamisches Codierungssystem zwischen videre und audire, von dem anhand der Partitur für die Orchester- wie auch für die Beterstimmen zunächst anzunehmen wäre, dass es ein zerklüftetes, sprödes, technokratisches und rezeptionsstörrisches Gesamtergebnis hervorbringe. Hinzu kommt die Überlieferung von MusikerInnen, dass die Einstudierung des Werks einige Zeit beanspruche und nicht sehr freudvoll sei. Stattdessen entsteht ein beinahe sinfonischer Flow, der Klang-Assoziationen (z. B. an Gustav Mahler) in Gang setzt, es deuten sich Opern-Fülle und Klang-Opulenz an, eine Raum-Performanz-Musik oder auch eine Musik-Raum-Performanz oder auch ein Musik-Performanz-Raum entstehen, die auf die Interrelationen zwischen den sich im Einsatz befindlichen Größen hindrängen. Darüber hinaus greift Stockhausen mit seiner Komposition in Zwischenräume und bringt das, was hier passiert, in eine Form. Hintergrund (akustischer, architektonischer, performativer, Licht-Raum), Zwischenraum (intermediär zwischen audio und video) und Rahmen (Algorithmus) werden hier zu einem Ereignis geclustert, das gleichermaßen die Einzelbestandteile wie etwa die Zusammensetzung eines Tons herausstellt. Diese Komposition steht in einem zeitlichen und konzeptionellen Konnex mit Werken der bildenden Kunst, die Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre etwa von John Cage, Yoko Ono, Sol LeWitt, Lawrence Weiner entstanden, oder auch mit dem Kalkül von George Spencer-Brown, der mit „Laws of Form“ 1969 eine Partitur vorlegte, wie eine Form herzustellen sei. Auch wenn „Inori“ nicht selten aufgrund dessen Übersetzung als „Gebet“ und der liturgischen und gestischen Elemente aus der Praxis verschiedener Religionen als eine „religiöse Komposition“ rezipiert wird, ist hier nicht weniger der Anteil der technischen Anweisungen zu registrieren, so dass Stockhausens Komposition doch vielmehr auf einen Inter- und im Folgenden auf einen Trans-Aspekt als Verfahren hinarbeitet und hinweist.
Drei Abend, zwei davon im Rahmen des diesjährigen Musikfests Berlin, kreieren verschiedene Ton-Bild-Relationskonzepte: Narrativ gehaltene, plastisch geformte Schüsse, unterschiedlich bildhafte „Ich klage an!“ in einem orchestral vertonten Stummfilm und einer Aufklärungsarchitektur, exakte Vergestlichung von Tönen und ihrer Tempi, Lautstärken und Klangfarben werden in actu und in situ hergestellt, hier wird geschossen, angeklagt und angebetet, obwohl nicht geschossen, angeklagt und angebetet wird. Sprechakttheorien, Repräsentationskritik, Performanz- und Medientheorien könnten im Weiteren die Unterschiede herausarbeiten und dabei die eingearbeiteten, je unterschiedlich ausfallenden Hierarchien oder Heterarchien zwischen Ton und Bild benennen.