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„For The Phoenix To Find Its Form In Us.“

„Damit der Phönix seine Form in uns findet“, ist der Titel der aktuellen Ausstellung im Berliner Kunstraum SAVVY Contemporary

In den Räumen eines brutalistischen Gebäudes aus den 1970er Jahren, in denen zuvor ein Supermarkt, ein Casino und Firmen aus den Bereichen Film-, Fotografie- und Musikproduktionen untergebracht waren, eröffnete im September 2020 das „Laboratory of Form-Idea“. SAVVY wurde 2009 von dem promovierten Biochemiker Bonaventure Soh Bejeng Ndikung als „Kunstraum, diskursive Plattform, Ort für gutes Essen und gute Getränke, Njangi-Haus und Raum für Gastlichkeit“ gegründet und positioniert sich heute nach mehreren Ortswechseln innerhalb Berlins als SAVVY Contemporary „an der Schwelle zwischen Vorstellungen und Konstrukten des Westens und des Nicht-Westens“. SAVVY will/soll nach Vorstellung der Initiator*innen ein Raum sein, der die Forderung des portugiesischen Soziologen Boaventura de Sousa Santos, dass ein anderes Wissen möglich sei, verkörpert und herausschreit. Verkörpern und Schreien gelingt allein durch die Architektur und die Lage des Hauses, an der prominenten Weddinger Kreuzung Reinikendorfer/Gerichtstr., gegenüber dem Nettelbeckplatz, inmitten des noch jungen Quartiers Pankstr. , in der Nähe der S- und U-Bahn-Station Wedding. An der brutalistischen Fassade flattern und formen nun größerformatige Pailletten den Namen des Kunstraums und können durch die eingefangenen Lichtreflektionen kaum übersehen werden. Um „die Kolonialitäten von Macht“ (Anibal Quijano) zu reflektieren und „darüber nachzudenken, wie diese Geschichtsschreibungen, Geographien, Gender und Ethnizität beeinflussen“, kommen hier Formate wie Ausstellungen, Workshops, Publikationen, Residenzen und Performances zum Einsatz. 

Ndikung, 2020 vom Land Berlin mit einem Verdienstorden ausgezeichnet, ist jüngst zum neuen Intendanten des Berliner Hauses der Kulturen der Welt ab 2023 berufen worden. Parallel zu SAVVY war er 2015 als Curator-at-Large Teil des kuratorischen Teams der documenta 14, zuvor und im Anschluss verantwortete er verschiedene Ausstellungen in Algier, Dakar und Sonsbeek, 2019 kuratierte er zusammen mit dem Miracle Workers Collective den finnischen Pavillon auf der Venedig Biennale. Ndikung ist Initiator und Chefredakteur der Zeitschrift SAVVY art.contemporary.african, im Untertitel „critical texts on contemporary art“, und veröffentlichte im März den Essayband „The Delusions of Care„, in dem Ndikung sich mit dem Begriff der Fürsorge (care) auseinandersetzt, dabei sowohl die Fallstricke des korrumpierten Begriffs in den Blick nimmt, als auch versucht, Wege zur Rehabilitation, Wiederherstellung und Wiedergutmachung „durch einen nicht selbstsüchtigen Geist der Fürsorge“ zu denken.

Zweien dieser drei Substantive, „rehabilitation“ und „restitution“, widmet sich auch die aktuelle Ausstellung im SAVVY (23.6. bis 22.8.2021) und reichert sie mit einem dritten an, mit „reparation“. Gemeinsam mit den Kuratorinnen Elena Agudio und Arlette-Louise Ndakoze stellt Ndikung hier künstlerische Positionen von 20 Künstler*innen* aus, um die aktuelle Restitutionsdebatte, die sich auf den Teilbereich der Rückgabe konzentriert, anzureichern beziehungsweise, wie Ndikung formuliert, zu verkomplizieren. Rückgabe ginge von einer „Vorstellung von Raum und Zeit des Fortgangs“ aus und berücksichtige nicht die Wunden, die Gewalt, die Entbehrungen und Zerstörungen, die mit den Enteignungen einher gehen. „Wie können wir über Restitution in einem Kontext nachdenken, in dem sich Zeit und Raum nicht nur verändert haben, sondern noch prekärer geworden sind und die Grausamkeit der Kolonialität andere Formen angenommen hat?“

Mit dem Ausstellungsprojekt „For The Phoenix To Find Its Form In Us. On Restitution, Rehabilitation, and Reparation“, das in Kooperation mit der ifa Gallery Berlin** und dem Jameel Arts Centre in Dubai stattfindet und u. a. durch die Kulturstiftung des Bundes finanziert wird, widmet sich SAVVY den Bereichen Restitution, Rehabilitation und Entschädigung als Möglichkeiten, über die bloße Rückgabe von Objekten hinauszugehen. Für den Titel leiht sich das Kurator*innenteam eine Zeile aus einem Gedicht des palästinensischen Schriftstellers Mahmoud Darwisch: „Tuesday: The Phoenix. It is enough that you pass by words. For the phoenix to find its form in us …“ Die Mythologie des Phönix‚, der am Ende seines Lebenszyklus‘ verbrennt, um aus seiner Asche wieder neu zu erstehen, soll für die Ausstellung das Narrativ einer Wiederherstellung, Rehabilitierung und Wiedergewinnung jener Subjekte/Objekte/Wesen/Technologien erzählbar machen, die durch europäische Institutionen und ethnografische Museen, durch Menschen, Länder und Kulturen „in den Klauen des kolonialen Unternehmens weltweit“ waren – und sind.

Mit Fotografien, Videos, Audios, Objekten, Installationen, Zeichnungen, Performances, Vorträgen und Workshops sowie lokalen Laboratorien in Kamerun, Nigeria, Ruanda, Palästina, Kolumbien, Philippinen und den Vereinigten Arabischen Emiraten versucht das künstlerische Konzept, die trennende Unterscheidung von Objekten und Subjekten aufzuheben. Denn viele der sogenannten Objekte, die in westlichen Museen und Institutionen ausgestellt werden, waren/sind keine Objekte, auch keine Kunstobjekte, sondern Rituale, spirutelle Wesen, kulturelle Entitäten und Essenzen, so dass zunächst die deklarierten Objekte von ihrer Objekthaftigkeit befreit werden müssen. Dafür wären, so das Ausstellungskonzept, drastische Verschiebungen im westlichen Verständnis von Kunst, Autorschaft und Gesellschaft notwendig. 

Diese drastischen Verschiebungen umfasst auch das Sprechen und Schreiben dessen, was zu sehen und zu hören, was nicht zu sehen und nicht zu hören ist. Zwar sind Autor*innen namentlich im ausliegenden Konzepttext genannt, finden aber im Ausstellungsraum selbst keine Erwähnung. Auch ist die Zuordnung zu den genannten Medien und Gattungen nicht so eindeutig und zweifelsfrei, wie es scheint: Ist die Grünpflanze im Eingangsbereich ein Exponat, ein Ausstellungsdisplay, eine Designposition, eine solidarische Gemeinschaft zwischen Non-Humans and Humans im Urban Space oder ein urbaner Agent? Gleiches gilt für verschiedene Einzelobjekte im Raum. Außerdem: Welcher Sound gehört zu welcher Visualisierung? Ist er überhaupt einer Visualisierung zugeordnet? Sind Objektaus- bzw. überleuchtungen oder Verdunklungen kuratorische Entscheidungen oder Bestandteil des künstlerischen Konzepts? Sind Blickverweigerungen kuratorische Entscheidungen, Resultat räumlicher Vorgaben, Bestandteil des künstlerischen Konzepts oder strategische Regimesichtbarmachungen? Und sind Überblendungen durch Sonneneinstrahlung auf Computerdisplays oder verblasste Farbfotografien in den Schaufenstern Kollateralschäden oder intendierte und implementierte Bedeutungsebenen? Das „Haus der Weißen Herren“ steht hier nicht mehr nur zur Diskussion und Disposition, sondern wird bereits im Ansatz affektuell, emotional und rezeptiv angegangen. Ich zitiere anonym: „SAVVY trifft als nicht-weiße Institution einen Nerv mit seinem Ansatz multi-direktionaler Erinnerung. Die haben kritisches Potenzial …“ und mache den Vorschlag, den hier verhandelten Komplex durch weitere drei R’s auszudifferenzieren und zwar durch Repatriation, Redress und Reconciliation.

*SAVVY Contemporary, 24.06.-22.08.2021, Do-So 14-19h. Mit Basel Abbas & Ruanne Abou-Rahme, Rand Abdul Jabbar, Tanya Aguiñiga, Nora Al-Badri, Daniela Zambrano Almidón & Pablo Santacana López, Memory Biwa, Benji Boyadgian, Hamze Bytyçi, Nora Chipaumire, Julien Creuzet, Ndidi Dike, Gladys Kalichini, Maurice Mboa, Senzeni Mthwakazi Marasela, Noara Quintana, Michael Rakowitz, Gabriel Rossell Santillán, Akram Zaatari.

**ifa-Galerie Berlin, 24.06.-29.08.2021, Di-So 14-18h. Mit Pio Abad, Samia Henni, Jumana Manna, Oumar Mbengue Atakosso, Bhavisha Panchia, Michael Rakowitz

Kunstgeschichte – sezieren, aber nicht anfassen.

Zur Ausstellung „Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930“ im HKW Berlin.

Gleich einer der Einführungstexte in die Ausstellung „Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930“  im Berliner Haus der Kulturen der Welt, auf hohen Wandtafeln platziert, startete die Oszillation:

„Die Gegenwart um 1930 war weltweit geprägt von Grundlagenkrisen. Diese Krisen destabilisierten soziale Ordnungen ebenso wie überkommene Kategorien des Wissens. […] Politische und gesellschaftliche Konflikte nahmen globale Dimensionen an. […]“ Wer „Gegenwart“ gelesen und „1930“ überlesen hatte, hätte annehmen können, es ginge um eine aktuelle Bestandsbeschreibung: Grundlagenkrisen, Destabilisierungen sozialer Ordnungen und Wissenskategorien, Konflikte, globale Dimensionen. Eine Büchervitrine (A01) hätte vielleicht etwas irritiert, aber das heutige Krisenbewusstsein bestätigt: Die Krise der Psychologie, der Jugend, der bürgerlichen Kultur, unserer Zeit, der internationalen Arbeiterbewegung, der europäischen Wissenschaften …, eine weitere Publikation versprach – auch das heute üblich – „Wege aus der Krise“. Bei diesen Buchtiteln handelte es sich allerdings, durch das Layout sichtbar, nicht um heutige, sondern um Veröffentlichungen der späten 1920er und frühen 1930er Jahre.

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