1 + 1 + 1 + 1 (+ x) = 100. Komplexitätsprovokationen durch Duchamp.

Zur Ausstellung „Duchamp. 100 Fragen. 100 Antworten“ in der Stuttgarter Staatsgalerie

Wie ein Schichtensystem von Gründen, Bedeutungen und Rezeptionsebenen baut sich die aktuelle Duchamp-Ausstellung in der Stuttgarter Staatsgalerie auf. Wer aufgrund ihres Titels annehmen könnte, hier ginge es um Duchamp, irrt: Es geht auch um Duchamp, aber es geht auch um Joseph Kosuth, um Serge Stauffer, um die Sammlung der Stuttgarter Staatsgalerie und um Faktoren, die sich nicht auf den ersten und vermutlich auch nicht auf den zweiten Blick erschließen. Daher ist auch unbestimmt zu formulieren: „… + x“.*

Über diese Formel wie auch über die Eingangssituation der Ausstellung hätte sich der französisch-amerikanische Konzeptkünstler und Readymade-Erfinder Marcel Duchamp sicher gefreut: Entlang der Eingangstüren zu den Damen- und Herrentoiletten stoßen die Ausstellungsbesucher auf eine vergrößerte, an die räumliche Vor-Ort-Situation angepasste Version seiner „Schlägerei von Austerlitz“ (1920), links und rechts daneben eine schwarz verkleidete und als solche disfunktional bezeichnete „Eingang“s- sowie „Ausgang“stür. Denn warum sollte im Eingangsbereich eine Tür (und zwar nicht spiegelbildlich) als Ausgang markiert sein? Duchamps Fensterobjekt „Schlägerei von Austerlitz“, das eine verkleinerte Version einer gemalten hochformatigen Ziegelwand und ein blindes doppelflügeliges Fenster auf einen Sockel stellt und in Doppelansichtigkeit zu umwandern ist, erhält hier eine ortsspezifische und installative Dimension. Links und rechts ist materialtechnisch das Zitat eines weiteren Fensterobjekts von Duchamp aufgerufen: Die Fensterscheiben eines verkleinerten französischen Fensters stattete Duchamp mit schwarzem, hochglänzendem Leder aus, ließ das Leder beharrlich polieren und nannte es „Fresh Widow“ („Frische Witwe“, 1920). Ein ähnliches Material verdeckt nun die Scheiben der großen Türen zum Ausstellungssaal und erinnert damit in seiner raumhohen Gesamtwirkung auch an Duchamps Diorama-ähnliches Raumobjekt „Gegeben sei“ (1946–1966), einer alten Holztür, hinter der sich Ungeheuerliches verbirgt. Hier geben aber nicht zwei Löcher einen Blick frei, sondern eine als solche ausgewiesene Eingangstür kann geöffnet werden, die allerdings so massiv ist und offenbar auch verhakt, dass das Aufsichtspersonal als Türöffner behilflich sein muss, um in die Ausstellung eintreten zu können.

Marcel Duchamp, La Bagarre d’Austerlitz (Die Schlägerei von Austerlitz), 1921, Öl auf Holz, Glas, Objekt: 62,8 × 28,7 × 6,3; Holzsockel: 5 × 33 × 20,2; Gesamthöhe: 67,8 cm, Staatsgalerie Stuttgart, © Association Marcel Duchamp / VG Bild-Kunst, Bonn 2018 

Diese mindestens drei (wenn nicht sogar mit der Anrufung des „Urinoirs“ von 1917 vier) künstlerischen Arbeiten Duchamps emergierende Rauminstallation plus wortspielerischer Pointe stammt von dem US-amerikanischen Konzept-Künstler Joseph Kosuth, der sich in seiner künstlerischen Arbeit von Duchamp beeinflusst ausweist, da auch er kanonische Regularien des Kunstsystems verweigert und sich bevorzugt zu Definitionsfragen von Kunst mitteilt. Kosuth, der zwischen 1991 und 1997 an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart lehrte, wird damit zu einem ersten Duchamp-Begleiter der Ausstellung, wenngleich er namentlich erst knapp außerhalb, in dem letzten Raum der Ausstellung erwähnt und hier diese Eingangsinstallation als „Wandgestaltung“ bezeichnet wird. Das „man“ sich mit diesen Gattungszuordnungen immer eher auf Glatteis bewegt, hatte Duchamp selbst vorgeführt: Duchamp „gestaltete“ das Display von Gruppenausstellungen (wie die Exposition Internationale du Surréalisme in der Pariser Galerie des Beaux Arts 1938 und die First Papers of Surrealism im New Yorker Whitelaw Reid Manison, die er mit Breton 1942 kuratiert hatte), Buchcover und Ausstellungsplakate, seine Rotorreliefs, die er auf Amateurerfindermessen in Paris präsentierte, seine „grüne Schachtel“ (La Boite Verte) wie auch seine „Schachtel im Koffer“ (La Boite en Valise). Kosuth hier als „Gestalter“ (und das auch nur am räumlichen Rand) zu bezeichnen, scheint beinahe strategisch als ein Wiederholungsmotiv der Biografie Duchamps eingesetzt worden zu sein. Allerdings sind seither beinahe 100 Jahre vergangen und in dieser Zeit fand der Aufstieg des Kurators, der Installation, des Ausstellungsdisplays, des Rahmens und des Kontextes statt. Daher wirkt diese performative Geste des An-den-Rand-Setzens vielmehr wie eine nicht dekonstruierte Hierarchisierung und Ausgrenzung.

Ob Duchamp mit dem Eingangshinweis der Staatsgalerie „Fotografieren für private Zwecke erlaubt. Ohne Stativ, Blitz und Selfie-Stick. Bitte beachten Sie, dass Soziale Medien öffentlich sind und nicht unter private Zwecke fallen“ einverstanden gewesen wäre, ist zu bezweifeln. Vielmehr hatte Duchamp seine Freude an unvermeidbaren Clashs, die kanonische Regularien nicht nur sichtbar gemacht, sondern im besten Falle zu unauflösbaren Paradoxien gebracht hätten – in diesem Fall hinsichtlich Urheberrechtsverletzungen, Zugangsbeschränkungen, Zweckgebundenheiten und Relevanzfragen. So wäre zu vermuten, dass Duchamp aus dieser Problemlage selbst eine Arbeit bzw. eine nächste Lage generiert hätte. Und wäre der Eingangshinweis nicht seitlich explizit von der Staatsgalerie gelabelt worden, wäre beinahe anzunehmen, dass sich hier ein dadaistisches Readymade (Was ist privat? Was ist öffentlich?) in bzw. vor die Ausstellung „ein“geschlichen hätte.

Der zweite Duchamp-Begleiter wird gleich hinter der Eingangstür präsentiert: Serge Stauffer, Schweizer Künstler und als solcher Kunst- und Duchamp-Forscher,  erhält wie auch sein Untersuchungsobjekt Duchamp in der Ausstellung einen eigenen biografischen Eintrag, der zu Duchamps Lebensverlauf und Lebensstationen parallel gestellt wird: Der eine 1887 geboren und 1968 gestorben, der andere auf halber Lebensstrecke Duchamps und zwar 1919 geboren und 1989 gestorben. Beide Zeitstrahlen enden allerdings nicht mit ihrem Tod, sondern mit dem Tod der Ehefrauen, Teeny Duchamp hier und Doris Stauffer dort, die sich für den Nachlass ihrer Männer einsetzten. Stauffer als Fotograf, Schriftsteller und eben auch Duchamp-Forscher und -Ausstellungsmacher wird so in dieser Ausstellung unauflösbar mit dem Leben und der Kunst Duchamps verstrickt und als eine Doppel- bzw. Alter-Ego-Biografie erzählt.

Hier im Eingangsbereich, in dem die ganze Ausstellung konzeptionell kulminiert, sind nicht nur Stauffers Forschungs- und Archivierungssystematiken auf 403 Karteikarten im Überblick auf deckenhohen Übersichtstafeln oder unter Plexiglas anzusehen, sondern auch 100 exegetische, detailversessene Fragen nach Einzelwerken, Übersetzungen und Lebenslauf Duchamps nachzuvollziehen, die Stauffer 1960 im Rahmen eines Publikationsprojektes an Duchamps richtete und die Duchamp nach nur wenigen Tagen beantwortet an Stauffer zurück schickte. Diese 100 Fragen sind für die Ausstellung titelgebend  (und nutzte Stauffer übrigens methodisch auch für andere Künstler wie Dieter Roth und Daniel Spoerri) und prägen die Ausstellungsarchitektur: Die Einzelstationen der Ausstellung sind statt mit Saalschildern und Erklärungstexten mit 100 Postkarten auf umweltfreundlichem Recyclingpapier ausgestattet, kreieren somit eine nächste Bedeutungsschicht und geben einen idealtypischen Parcour (1 bis 100) vor, dem nicht zwingend gefolgt werden muss. Das „Design der Postkarten“ stammt, so erfährt das Publikum im letzten Raum der Ausstellung, ebenfalls von Josef Kosuth, nicht jedoch die Fragen auf den Postkarten, die sich mit „Wie Stuttgart ist Marcel Duchamp?“, „Was sehen Sie durch das große Glas?“ und „Erkennen Sie den letzten Schatten?“ eindeutig als Vermittlungsfragen der Staatsgalerie an das Publikum ausweisen. Stauffers Fragen mit dem Motiv forschender Akribie, Quellentreue und Dialogorientierung werden in diesem kuratorischen Rahmen in ihrer Übersetzung also zur Publikumsansprache und zu einem rhetorisch eingesetzten Ersatzwerkzeug der Wissensübermittlung.

Zu der Begleitschaft der drei Männer (Duchamp, Stauffer und Kosuth) gesellt sich ein weiterer Faktor, nämlich die sich im Besitz der Staatsgalerie befindlichen Arbeiten von Duchamp. Der Bestand umfasst etwa 100 Werke, darunter Readymades, Papierzeichungen, Druckgrafiken und Druckplatten, Publikationen, Archivalien und eben auch das Archiv Stauffers, das 1993 in die Stuttgarter Sammlung übernommen wurde. So wird in medialer oder thematischer Clusterung dieses Bestands Folgendes gezeigt: Duchamps Buchcover und Ausstellungsplakate, eine Auswahl seiner Readymades („Fahrrad-Rad“, „Flaschentrockner“, Frische Witwe, Schlägerei von Austerlitz und andere), eine Replik seines Glasbilds „Großes Glas“ bzw. „Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar“ (eine der drei existierenden Nachbildungen von Ulf Linde, das Original befindet sich im Besitz des Philadelphia Museum of Art) mit Notizen, Zeichnungen und Radierungen, seine „Grüne Schachtel“ (von 1914) als kommentierendes und erläuterndes Handbuch zum „Großen Glas“ mit ungeordneten kommentierenden und kontextualisierenden, faksimilierten Notizen, seine „Weiße Schachtel“, die Notizen zum „Großen Glas“ in thematischen Mappen sortiert, seine drei Bronzeobjekte „Wurfobjekt“, „Keuschheitskeil“ und „Weibliches Feigenblatt“ aus dem Zusammenhang von „Gegeben sei“ in einer gemeinsamen, beinahe uneinsichtigen Box, „LHOOQ“ (die Reproduktion der Mona Lisa mit Bart), seine kinetischen Rotorreliefs aus den 1920er Jahren, ein gemeinsamer Film mit Man Ray „Anémic Cinéma“ (1926)  und seine „Schachtel im Koffer“, dem tragbaren Miniaturmuseum seiner wichtigsten Werke (gemeinsam mit einer Reproduktion von Mathieu Mercier aus 2015).

Marcel Duchamp, de ou par MARCEL DUCHAMP ou RROSE SELAVY, Boîte-en-valise (Von oder durch MARCEL DUCHAMP oder RROSE SELAVY, Schachtel im Koffer), (1941) 1966, Serie F, 75 Ex., unnummeriert; Pappschachtel mit rotem Leder überzogen, innen rotes Leinen, Miniaturrepliken und Farbreproduktionen von Werken Duchamps (80 Teile), 41,5 × 38,5 × 9,9 cm, Staatsgalerie Stuttgart, © Association Marcel Duchamp/ VG Bild-Kunst, Bonn 2018.

Angereichert werden diese Arbeiten mit der Luxus-Duchamp-Monografie „Sur Marcel Duchamp“ von Robert Lebel in einer mit Leinen bezogenen Kassette von 1959, einem Briefwechsel zwischen Duchamp und Stauffer und Duchamp und Dick Higgins, mit dem Elektrokardiogramm Duchamps, von Brian O’Doherty 1966 aufgezeichnet, mit einem 16-mm-Film von Gianfranco Baruchello „Filming Duchamp“, der Duchamps Bewegungsstudien (wie „Fahrrad-Rad“, „Akt, eine Treppe herabsteigend“ und die Rotorreliefs) nun methodisch auf Duchamp selbst anzuwenden scheint, mit Fotografien (wie z. B. das Schachspiel zwischen Duchamp und der unbekleideten Eve Babitz 1963 im Kontext der Duchamp-Retrospektive im Pasadena Museum of Art) und einem Audiofile, von Lina Syren gelesene Notizen aus der „Grünen Schachtel“: „Notiz 105: Ein krankes Bild machen, oder ein krankes Readymade.“ „Notiz 108: „Schlagschatten vom Readymade.“ „Notiz 19: Verspätung auf Glas. Verspätung auf Glas gebrauchen, statt Bild oder Gemälde.“

Verzichtet wird dabei auf Gattungsgrenzen oder auf unterschiedliche Beobachterebenen, auf Unterteilungen zwischen Primär- und Sekundärmaterial, auf Urheberschaftszuordnungen, auf Differenzziehungen zwischen Text und Kontext, Werk und Rahmen, Kunst und Display, kuratorische und vermittelnde Aktivitäten. Und folgekonsequent stellt auch die Ausstellungsarchitektur nicht das eine Hauptwerk Duchamps und der Ausstellung (wenn auch als Replik aus dem Moderna Museet in Stockholm) in das räumliche Zentrum. Aber statt das Zentrum mit einer Leere, einer Lücke, einer Geste oder einer Aktualisierung zu verschieben, ist hier der Pfeiler des Ausstellungssaales platziert. Wer Duchamps kuratorische Entscheidungen für die Pariser Exposition Internationale du Surréalisme 1938 und die New Yorker First Papers of Surrealism 1942 kennt, könnte eine flüchtige Ahnung haben, wie Duchamp damit hätte umgegangen sein können, im Mindesten, dass Duchamp damit umgegangen wäre. Dass Kosuth an dieser Stelle nicht intervenierte, ist vermutlich seiner Randstellung im Rahmen des Ausstellungsprojekts geschuldet, das die inszenatorische und konzeptuelle Komplexität von „1 +  1 + 1 + 1 (+ x) = 100“ eingegrenzt hat.

Dabei kann der Blick aus dem Ausstellungsraum durch ein sich unter der Decke befindliches, leicht verschleiertes Längsfenster in den Museumsshop wiederum als eine kluge Re-Inszenierung von Duchamps Fensterliebe gedeutet werden: Duchamp hatte Stauffer gegenüber die Überlegung geäussert, „(immer wieder) etwas zu machen, das man nicht ein Bild nennen kann (in diesem Fall ‚Fenster machen‘)“, eine Entscheidung, um einer lediglich „retinalen oder visuellen Kunst“ zu entsagen. Auch hier liegt ungenutztes Potential, denn der verschattete Blick durch das (verschleierte) und aufgrund der Anordnung kaum erreichbare Fenster in den Raum des Konsums oder auch umgekehrt, der verschattete Blick aus dem Raum des Konsums in den Ausstellungsraum hätte etwa das Konzept des Readymade schärfen oder Duchamp 2018 aktualisieren können. Denn: „The great artist of tomorrow will go underground“, prognostizierte Duchamp in seinem Vortrag „Where do we go from here“ 1961 im Philadelphia Museum College of Art. Aber das wäre eine andere, nämlich ortsspezifische und institutionskritische Ausstellung geworden, die den Titel hätte tragen müssen: „Kosuth inszeniert Duchamp und Stauffer 2018“. Damit (> 2) wäre es komplex geworden, dann aber hätte auch die Frage gestellt und beantwortet werden müssen, wie die Mechanismen des White Cube nicht mehr an Duchamp vorbei inszenieren.

* Weitere Faktoren sind: der Verleger und Sammler Dieter Keller, aus dessen Sammlung die Staatsgalerie 2007 Werke u. a. von Duchamp erworben hat, Weihnachtsausstellung 2018, der 50. Todestag von Duchamp, Stauffer als Pionier der Artistic Research (Kunst als Forschung) …

Stuttgarter Staatsgalerie, „Duchamp. 100 Fragen. 100 Antworten.“, 23.11.2018 bis 10.3.2019.