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Piper goes basic. Bildung als Demokratievoraussetzung.

Kleiner gleich 15 zu 1 lautet die magische Formel, die Adrian Piper in ihrem jüngsten Kunstprojekt in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stellt. Diese Formel bezeichnet das maximale Verhältnis zwischen Studierenden und Lehrenden, damit Bildung – ob in Schulen, Universitäten oder Berufsschulen – wirksam sein kann. „Jedes Kind und jede*r Studierende verdient diese Bildungsbedingungen.“ Nun setzt die Kausalkette ein: Ohne Bildung, so Piper, wären die Chancen eingeschränkt, das Leben selbst zu bestimmen und beispielsweise für die drängenden Probleme wie Armut, Klimawandel, Extremismus kluge Lösungen zu finden. Das wiederum führe dazu, dass die Wahlbedingungen, auch die politischen Wahlbedingungen eingeschränkt seien, denn: „Um wirksam zu wählen, müssen die Meinungen rational und ausführlich informiert sein.“ Ein gut informierte Meinung und die hieraus resultierende Wahl (auch die politische Wahl) setze eine gute Bildung voraus. Piper notiert ihre Argumentationskette demnach als linearen Dreierschritt: Ohne Bildung —> keine Chance —> keine Wahl. und baut dabei noch eine semantische Doppeldeutigkeit ein: „The German word Wahl means both ‘choice’ and ‘vote’“.

Kindern, Studierenden und Auszubildenden „sollte es möglich sein, umfangreich die Fakten zu erforschen, sie kritisch zu anaylsieren, ihre Folgen rational zu berechnen, alternative Möglichkeiten kreativ vorzustellen und sie fachkompetent auszudrücken und zu verwirklichen“. Die in New York geborene Adrian Piper, die seit 2005 in Berlin lebt und arbeitet, ist promovierte Philosophin, hat über 30 Jahre an sechs verschiedenen Universitäten gelehrt, ist emeritierte Professorin der American Philosophical Association und wurde als Konzeptkünstlerin mehrfach prämiert, u. a. mit dem Goldenen Löwen der 56. Biennale in Venedig 2015, dem Käthe Kollwitz-Preis 2018 und 2021 dem Goslaer Kaiserring. Ihre Arbeit „Wahlkampagne“ fordert ein Schüler-Lehrer-Verhältnis von nicht mehr als 15 Schüler*innen pro Klasse, in Deutschland befände sich der Schnitt zwischen 13 und 33. Während dieses Anliegen zunächst wie eine bildungspolitische Kampagne in Wahlkampfzeiten anmutet, handelt es sich um eine, schon seit 2019 stattfindende Substantiierung, Formuntersuchung und Kausalitätsbegründung von Demokratie, deren „wichtigster Teil nach der Bundestagswahl“ beginnen würde, nämlich die kontinuierliche, nachhaltige und dringliche Betreuung dieser Forderung.  Beabsichtigt ist eine langfristige Politisierung, Selbstermächtigung und Demokratisierung. 

„Wahlkampagne“ ist das Ergebnis Pipers biografischen Erfahrungen, auch ihrer Negativerfahrungen mit dem Bildungssystem, das sie aus ihrem akademischen Weg herausschleuderte: „[…] my professional route through the field of academic philosophy, which branched onto a rocky detour in graduate school, followed by a short but steep ascent, followed next by a much steeper, sustained descent off that road, into the ravine, down in flames, and out of the profession.“ Piper: „Ich [wurde] letztlich aus der Akademie vertrieben“, und so kommt Piper nach gut siebzig Jahren eigenen Lernens und Lehrens zu dem Schluss, dass mehr als 15 Studierenden in einer Ausbildungsklasse zu einem „überfüllten Kinotheater“ führten, in welchem sich jede*r lediglich passiv entspannen würde.

Soweit der konzeptionelle Unterbau: Mit schwarz-weissen Sandwichboards vor dem Bauch und hinter dem Rücken (in 10er Auflage), die sowohl über die Formel kleiner gleich 15 zu 1 als auch die Kausalkette informieren, begaben sich Piper und einige Mitstreiter*innen am 15. Mai 2021 im Rahmen einer angemeldeten Demonstration vor den Bundestag, um mit Passant*innen ins Gespräch zu kommen und Handouts zu verteilen, in denen das Projekt „Wahlkampagne“ textlich vermittelt wurde. Das Handout informiert, dass es sich hierbei um den 3. Teil der von der APRA Foundation Berlin urheberrechtlich geschützten und finanzierten Aktion handelt: „Standardgröße, Auflage von 10 Schichtentafeln, in der Nähe des Bundestags auf der Staße mindestens einmal für eine Stunde zwischen 10 und 18 Uhr in der Öffentlichkeit zu tragen und dabei den Anstecker kostenlos zu verteilen.“

Die nächste Demonstration findet am Dienstag, 22. Juni 2021, zwischen 12 und 14 Uhr, wieder vor dem Bundestag statt. Teil 1 und 2 von „Wahlkampagne“ umfassen die Installation von Schildern an den Fassaden öffentlicher Berliner Gebäude und die kostenlose Verteilung von 15:1-Ansteckern in der Größe 3,5 x 4,5 cm, in unbegrenzter Auflage. Plakate von Argumentationskette und Formel sind zur DIY-Anfertigung downzuloaden – damit wird die ästhetische Tradition künstlerischer „giveaways“ fortgesetzt, allerdings ohne aus dem Öffentlichen zu verschwinden. Die Kosten für Platzierung und Befestigung der Schilder, bevorzugt an Fassaden in der Nähe des Bundestags, übernimmt die APRA Foundation Berlin.

Eine Übung des Vertrauens. Zu Adrian Pipers „The Probable Trust Registry“

„Ich werde immer zu teuer sein, um gekauft zu werden.“ „Ich werde immer meinen, was ich sage.“ „Ich werde immer das tun, was ich sage.“ Der Vertrag ergänzt: „(Eintritt höherer Gewalt ausgenommen)“. Könnten und/oder würden Sie diese drei Axiome, im Futur I verfasst, unterzeichen und damit eine Vertragsverpflichtung mit sich selbst eingehen (können), künftig „immer zu teuer sein, um gekauf zu werden“, immer zu „meinen, was ich sage“ und immer das zu „tun, was ich sage“? Das Futur I – im Englischen heißt es im Vertrag „I will…“ und setzt damit das Future Simple für Vorhersagen, Versprechungen und spontane Entscheidungen ein – weist Sie darauf hin, dass der Sachverhalt zum Sprechzeitpunkt schon aktuell ist. Ein Kalkül, das es in sich hat: Ein spontanes Versprechen in Form eines Axioms, also eines beweislos vorausgesetzten Satzes, der zum Redezeitpunkt, besser zur schriftlichen Vertragsunterzeichnung schon aktuell ist und mit der Vertragsunterzeichnung fortan für immer selbstverpflichtend wirkt.

Diese Selbstverpflichtungen abverlangte, besser gesagt ermöglichte die US-amerikanische Konzeptkünstlerin und analytische Philosophin Adrian Piper, die 1981 bei John Rawls promoviert wurde und zuvor an der Uni Heidelberg zu Kant und Hegel forschte, den BesucherInnen des Berliner Hamburger Bahnhofs in diesem Sommer. Zuvor wurde sie 2015 für diese Arbeit, die bereits 2013 in New York zu sehen war, auf der Biennale in Venedig im Arsenale mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. In der historischen Lichthalle des Museums waren nun für gut sechs Monate in klarer Formensprache drei identische, goldfarben runde Empfangstresen zentriert vor drei deckenhohen, grauen Wänden plaziert, die sich nach an der Form der gebogenen Eisenträger orientierten. An der Wand hinter dem jeweiligen Tresen war in goldfarbenen Buchstaben ein einzeiliger Wandtext angebracht, bei dem es sich um eben einen dieser drei Axiome handelte. Je ein/e Rezeptionist/in hinter dem Tresen, dunkel und seriös gekleidet, meist jugendlichen Alters und temporär für die Dauer der Ausstellung beim Hamburger Bahnhof angestellt, stand für Nachfragen, Gespräche und die Aushändigung des unterzeichneten Vertrags auf Papier zur Verfügung. Auf dem Tresen ermöglichte ein Screen, den Vor- und Nachnamen einzugeben, eine digitale Unterschrift zu leisten und qua Berührung mit dem resistiven Touchscreen die Vertragsbindung einzugehen, die durch einen Drucker hinter dem Tresen sofort als zweiseitiges Papier ausgehändigt wurde. Neben dem Tresen hielt ein aufgestelltes Stehpult ein Papier, das die BesucherInnen auf deutsch und englisch über die 11 „Handlungsanweisungen“ bzw. „Spielregeln“ aufklärte, und zwar, dass alle UnterzeichnerInnen des Vertrags nach Ende der Ausstellung ein Verzeichnis der alphabetisch geordneteten Nachnamen aller UnterzeichnerInnen desselben Vertrags zugesandt bekämen, eine Kontaktaufnahme dann untereinander möglich wäre, indem die Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin kontaktiert würde, die nach der Einwilligung zur Adressweitergabe die Daten weitergebe. Das Verzeichnis selbst würde für 100 Jahre nach Ende der Ausstellung für die Öffentlichkeit unzugänglich aufgewahrt.

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