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Mediale Translationsleistungen durch Reenactments. 

Zu Tania Brugueras „Where Your Ideas Become Civic Actions (100 Hours Reading The Origins of Totalitarianism“ in einer Berliner Kunstinstitution.

Der Ausstellungsflyer trägt eine goldgelbe Vintage Patina. Auf einem Foto sitzt Tania Bruguera in einem korbgeflochtenen Schaukelstuhl, inmitten eines Lichtkegels, sie hält in der linken Hand ein Mikrofon mit angeschlossenem Kabel, das nach links aus dem Bild führt. In einer Detailaufnahme ist das Mikrofonkabel in den Fokus genommen, in einer anderen sind notdürftig gekittete Wandrisse angedeutet. Die Patina erzählt, dass die hier porträtierte Szene aus einer Zeit stammt, in der die gesundheitsschädlichen, chemisch hergestellten Daguerreotypien Goldtonungen hervorbrachten. Dabei fand sie vor knapp neun Jahren, Ende Mai 2015, in Havanna statt, zeitgleich mit der Eröffnung der 12. Havanna Biennale und der Gründungsfeier der Republik Kuba. Bruguera stand unter Hausarrest und wartete auf die Rückgabe ihres Passes, der ihr auf dem Weg zu einer ihrer Performances im öffentlichen Raum Havannas Ende Dezember 2014 abgenommen wurde. Sie wurde wegen Widerstand gegen die Festnahme und Anstiftung zu öffentlichem Fehlverhalten und Kriminalität angeklagt.

Während ihres insgesamt acht monatigen Hausarrests initiierte Bruguera im Mai 2015 eine 100-stündige öffentliche kollektive Lesung von „The Origins of Totalitarianism“ von Hannah Arendt, das als Arendts politisches Hauptwerk gilt. 1955 unter dem Titel „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ auf Deutsch erschienen, führt Ahrendt hierin zu der historischen Entstehung und den gemeinsamen politischen Merkmalen von Nationalsozialismus und Stalinismus aus. Es gilt als Standardwerk der Totalitarismusforschung, dessen Lesung vor neun Jahren durch Bruguera mit ihrer mehrstündiger Festnahme endete, bevor sie im Juni 2015 erneut verhaftet wurde, als sie an einer Demonstration teilnahm. Bruguera setzt damit Arendts Totalitarismusstudie und ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen in Kuba in eins, Ursachen und Folgen gehen ineinander über: sie liest gegen den Totalitarismus in Kuba an, der Totalitarismus Kubas schlägt zu, weil sie liest.

100 Stunden lang lasen und diskutierten die Teilnehmer:innen, darunter die Kunsthistorikerin Judith Rodenbeck und der Kurator des Guggenheim UBS MAP Latin America, Pablo Leon de la Barra, Arendts Studie über totalitäre Systeme, die in Kuba bis heute von großer Bedeutung ist. Diese Aktion bildete den Höhepunkt der Kampagne #YoTambiénExijo (I also demand), die Bruguera mit einer Gruppe kubanischer Kolleg:innen in den Jahren 2014/15 initiierte. Die Ereignisse dieser Zeit sind detailliert auf Brugueras Webseite dokumentiert. Diese Aktion gilt auch als Start des Gründungsprozesses des Hannah Arendt International Institute of Artivism (INSTAR). INSTAR ist ein Akronym, bedeutet aber auch „ermutigen“ und „anstiften“, engagiert sich als Institution für Bildung und soziale Gerechtigkeit, Meinungsfreiheit, Menschenrechte, gerechte Löhne und Arbeitszeiten, bessere Arbeitsbedingungen für Alleinerziehende und gegen Diskriminierung.

Knapp neun Jahre später liest Bruguera aus Arendts Werk in der historischen Halle des Hamburger Bahnhofs in Berlin. Für 100* ununterbrochene* Stunden vom 7.2.24, 19 Uhr bis 11.2.24, 23 Uhr* liest sie und lesen Aktivist:innen, Theoretiker:innen, Autor:innen, Schauspieler*innen, unter ihnen Masha Gessen, Juliane Rebentisch, Jörg Heiser, Stefan Römer und Thomas Lindenberger, Direktor des Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (an der TU Dresden). Im Stundentakt übergeben sie sich das Mikrofon mit angeschlossenem Kabel, das nach links aus dem Bild führt, sie sitzen in einem korbgeflochtenen Schaukelstuhl, inmitten eines Lichtkegels. Vor ihnen sitzen Zuhörer:innen, die rund um die Uhr, ohne Anmeldung und kostenfrei an der Performance teilnehmen können, die nun „Where Your Ideas Become Civic Actions (100 Hours Reading The Origins of Totalitarianism“ heisst. Im Eingangsbereich informiert ein unübersehbarer „Verhaltenskodex“, dass sich hier mit Toleranz und gegenseitigem Respekt begegnet wird. Hier würde sich gegen jede Form von Hass und Diskriminierung etwa in Form von Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit ausgesprochen.

Brugueras Reenactment ihrer Lesung in ihrem Wohnhaus in Havanna findet nun als eine Performance in einer Berliner Kunstinstitution statt. Sie wieder-holt wesentlich konstitutive Elemente, selbst der Lautsprecher, der in Havana ausserhalb des Gebäudes installiert war, ist hier an der Invalidenstraße positioniert und sendet die Lesung in den Berliner Raum. Auf die weiße Taube wurde verzichtet, die schon bei Brugueras früheren Performances wie „Tatlin’s Whisper #6 (Havana Version)“ 2009 eingesetzt wurde. Sie zitiert die Tauben, die Fidel Castro während seiner erster Rede 1959 nach der Kubanischen Revolution umflatterten. Doch das Reenactment suspendiert noch einiges mehr und zahlt damit einen hohen Preis: Statt das Werk Arendts zu entverschließen, verhinderte die Akustik der Halle und die Mediatisierung der Stimmen durch das Mikrofon genau dieses Anliegen. Statt eine gemeinsame Situation des „Nachdenkens und Redens“ (Zitat aus dem Ausstellungsflyer) zu kreieren, saßen die sich abwechselnd Lesenden frontal, vereinzelt und vereinsamt dem Publikum gegenüber. Statt eine „Pluralität von Perspektiven und Welten“ (Zitat aus dem Ausstellungsflyer) zu generieren, wurde eine One-to-Many-Kommunikation hergestellt, die Pluralität einhegte. Statt „die Aktualität von Arendts Analysen von Totalitarismus, Antisemitismus, Vertreibung und Staatenlosigkeit“ (Zitat aus dem Ausstellungsflyer) auf eine Öffentlichkeit treffen zu lassen oder eine Öffentlichkeit zu generieren, verschloss die Institution Kunstmuseum performativ und verengte zu einer Milieubegegnung. Auf ästhetischer, politischer und erkenntnistheoretischer Ebene fanden damit Verluste statt. 

Im Gegenzug dazu wurde die Lesung als reenactete Performance nun in den kunsthistorischen Kanon aufgenommen beziehungsweise ihre Anwesenheit im Kanon verbrieft. Sie wurde mit einem Titel ausgestattet, der an Harald Szeemans legendären „When Attitudes Become Form“ (1969 in Basel) anschließt. Sie fand in einer westeuropäischen Kunstinstitution statt, die Teil der Staatlichen Museen zu Berlin ist und an der öffentliche und institutionalisierte Personen des Kunstbetriebs teilnahmen. Und sie wurde genrefiziert mit der Gattung sowohl der Performance als auch des künstlerischen Reenactments. Damit wird, und das ist ein wichtiger Gewinn dieses Mediatisierungs- und Institutionalisierungsprozesses, Brugueras Arbeit fortgesetzt legitimiert und geschützt*. Schon auf der documenta 15 wurden (kunst-) institutionalisierende Maßnahmen eingesetzt, als Bruguera und INSTAR in der documenta-Halle eine Gegenerzählung zur offiziellen kubanischen Kultur- und Kunstgeschichte erzählten, mit der sie von der kubanischen Regierung zensierte Künstler:innen und Intellektuelle Gehör verschafften. Hierfür wurden viele kubanische Kolleg:innen nach Deutschland eingeladen, einige von ihnen sagten ab, aus Sorge, nicht nach Kuba zurückkehren zu dürfen.

Die Kunstinstitution wird so zu einem Ort des Schutzes* und einer infrastrukturellen Ermöglichungsbedingung* für zivilgesellschaftliche Gemeinsamkeiten*, zu einem Raum des kollektiven und kunsthistorischen Gedächtnisses und ein Öffentlichkeitstool für Gegenerzählungen. Gleichzeitig gelingt aber auch der Kunstinstitution mit diesem Reenactment, ihre Ablehnung von Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit zu bekunden – eine Haltung, die spätestens seit der documenta 15 zunehmend in Zweifel gezogen wird und in der Berliner Antisemitismusklausel mündete. Aber das wäre eine andere Geschichte – oder doch nicht* …?

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<p>*  <strong>Nachtrag: </strong></p>



<p>Die Lesung fand weder für „100 ununterbrochene Stunden“, bis zum „11.2.24, 23 Uhr“ statt, wie es im Text oben heißt, noch war die Kunstinstitution ein „Ort des Schutzes“ und eine „Ermöglichungsbedingung für zivilgesellschaftliche Gemeinsamkeiten“. Es schloss sich eine Geschichte an, die eben doch keine „andere“ war und wurde: </p>



<p>„Palästina-Aktivisten störten im Hamburger Bahnhof in Berlin eine Aktion der Künstlerin Tania Bruguera. Die beendete die Performance vorzeitig.“ <a href=https://taz.de/Palaestina-Protest-bei-Kunstaktion/!5991553/

Weitere Informationen hier:

Spiegel Online, 12.2.2024: https://archive.is/YIDKi

Jüdisches Museum Frankfurt @jmfrankfurt.bsky.social, 14.2.2024: https://bsky.app/profile/jmfrankfurt.bsky.social/post/3klf7aovw7t24

Journal Frankfurt, 15.2.2024: https://www.journal-frankfurt.de/journal_news/Politik-10/Antisemitischer-Angriff-bei-Lesung-Solidaritaetslesung-fuer-Mirjam-Wenzel-in-Frankfurt-41969.html

Commentary, 13.2.2024: https://www.commentary.org/seth-mandel/the-israel-obsessed-art-world-devours-itself/

Frankfurter Allgemeine, 19.2.2024: https://archive.ph/2024.02.19-172054/https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/mirjam-wenzel-ueber-hassreden-im-hamburger-bahnhof-19530908.html

Eine Übung des Vertrauens. Zu Adrian Pipers „The Probable Trust Registry“

„Ich werde immer zu teuer sein, um gekauft zu werden.“ „Ich werde immer meinen, was ich sage.“ „Ich werde immer das tun, was ich sage.“ Der Vertrag ergänzt: „(Eintritt höherer Gewalt ausgenommen)“. Könnten und/oder würden Sie diese drei Axiome, im Futur I verfasst, unterzeichen und damit eine Vertragsverpflichtung mit sich selbst eingehen (können), künftig „immer zu teuer sein, um gekauf zu werden“, immer zu „meinen, was ich sage“ und immer das zu „tun, was ich sage“? Das Futur I – im Englischen heißt es im Vertrag „I will…“ und setzt damit das Future Simple für Vorhersagen, Versprechungen und spontane Entscheidungen ein – weist Sie darauf hin, dass der Sachverhalt zum Sprechzeitpunkt schon aktuell ist. Ein Kalkül, das es in sich hat: Ein spontanes Versprechen in Form eines Axioms, also eines beweislos vorausgesetzten Satzes, der zum Redezeitpunkt, besser zur schriftlichen Vertragsunterzeichnung schon aktuell ist und mit der Vertragsunterzeichnung fortan für immer selbstverpflichtend wirkt.

Diese Selbstverpflichtungen abverlangte, besser gesagt ermöglichte die US-amerikanische Konzeptkünstlerin und analytische Philosophin Adrian Piper, die 1981 bei John Rawls promoviert wurde und zuvor an der Uni Heidelberg zu Kant und Hegel forschte, den BesucherInnen des Berliner Hamburger Bahnhofs in diesem Sommer. Zuvor wurde sie 2015 für diese Arbeit, die bereits 2013 in New York zu sehen war, auf der Biennale in Venedig im Arsenale mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. In der historischen Lichthalle des Museums waren nun für gut sechs Monate in klarer Formensprache drei identische, goldfarben runde Empfangstresen zentriert vor drei deckenhohen, grauen Wänden plaziert, die sich nach an der Form der gebogenen Eisenträger orientierten. An der Wand hinter dem jeweiligen Tresen war in goldfarbenen Buchstaben ein einzeiliger Wandtext angebracht, bei dem es sich um eben einen dieser drei Axiome handelte. Je ein/e Rezeptionist/in hinter dem Tresen, dunkel und seriös gekleidet, meist jugendlichen Alters und temporär für die Dauer der Ausstellung beim Hamburger Bahnhof angestellt, stand für Nachfragen, Gespräche und die Aushändigung des unterzeichneten Vertrags auf Papier zur Verfügung. Auf dem Tresen ermöglichte ein Screen, den Vor- und Nachnamen einzugeben, eine digitale Unterschrift zu leisten und qua Berührung mit dem resistiven Touchscreen die Vertragsbindung einzugehen, die durch einen Drucker hinter dem Tresen sofort als zweiseitiges Papier ausgehändigt wurde. Neben dem Tresen hielt ein aufgestelltes Stehpult ein Papier, das die BesucherInnen auf deutsch und englisch über die 11 „Handlungsanweisungen“ bzw. „Spielregeln“ aufklärte, und zwar, dass alle UnterzeichnerInnen des Vertrags nach Ende der Ausstellung ein Verzeichnis der alphabetisch geordneteten Nachnamen aller UnterzeichnerInnen desselben Vertrags zugesandt bekämen, eine Kontaktaufnahme dann untereinander möglich wäre, indem die Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin kontaktiert würde, die nach der Einwilligung zur Adressweitergabe die Daten weitergebe. Das Verzeichnis selbst würde für 100 Jahre nach Ende der Ausstellung für die Öffentlichkeit unzugänglich aufgewahrt.

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Julian Rosefeldts „Manifesto“ als illokutionärer Akt: Ich offenbare (Verb), offenkundig (Adj.), unbestreitbar (Adv.)

In seiner neuesten Filmarbeit „Manifesto“ verschreibt sich Julian Rosefeldt (Jhg. 1965) dem Inhalt nach der Gattung und Textsorte Manifest, wie sie eng verbunden mit der künstlerischen Avantgarde und deren Proklamationen von Traditionsab- und Neuaufbrüchen auftritt (allein für die Zeit zwischen 1900 und 1947 zählen Asholt/Fähnders in „Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde“ von 1995 über 250 künstlerische Manifeste). Rosefeldt, Professor für digitale und zeitbasierte Medien an der Münchener Akademie der Bildenden Künste, hat für diese Filmarbeit eine Auswahl von 54 Manifesten getroffen, deren Quellen er im Eingangsbereich seiner aktuellen Ausstellung im Hamburger Bahnhof in Berlin mittels eines papier-gestapelten Handouts auf Hochglanzpapier offen legt und zur Mitnahme ermöglicht: vom Kommunistischen Manifest von 1848 über Manifeste des Dada, Futurismus, Surrealismus, Suprematismus, Kreationismus (aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts) bis hin zu Situationismus, Conceptual Art, Fluxus, No Manifesto und Dogma 95 (in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts). Durch das Montieren historischer Originaltexte von Künstlern, Architekten, Choreografen und Filmemachern (wie Filippo Tommaso Marinetti, Kasimir Malewitsch, André Breton, Claes Oldenburg, Yvonne Reiner, Adrian Piper, Sol LeWitt, Robert Venturi, Lars von Trier und Werner Herzog) sind im Ergebnis 13 themen-komprimierte Monologe entstanden, die die Hybridität ihrer Ausgangstexte aus realistischer Spekulation, politischer Propaganda, theoretischer Programmatik, sprunghafter Argumentationsstrenge, literarischer Poetik und ästhetischer Agitation, immer mit einem oppositionellen Gestus ausgestattet, beibehalten.

Rosefeldt hat diese Texte zum Teil ins Englische übersetzen lassen und, indem er sie verschiedenen Arbeits- und Lebenswelten unserer Gegenwart und mit ihnen zugehörigen ProtagonistInnen zugeordnet hat, typologisiert: So spricht eine „tätowierte Punkerin“ zum Kreationismus/Estridentismus, eine „Börsenmaklerin“ zum Futurismus, ein „Obdachloser“ zum Situationismus, eine „konservative Mutter mit Familie“ zu Pop Art, eine „Puppenspielerin“ zum Surrealismus und eine „Nachrichtensprecherin“ mit ihrer „Außenreporterin“ zur Konzeptkunst. Im dunklen Raum des Hamburger Bahnhofs sind diese Text-Bild-Positionen nun als Projektionen auf 13 Leinwänden in Form einer multikanalen Installation plaziert, die sich zueinander räumlich und inhaltlich in Beziehung setzt. (Es existiert außerdem eine 90 minütige, lineare Filmversion, die auf Festivals und 2018 im Bayrischen Rundfunk gezeigt werden soll). Jede einzelne Filmszene ist dabei zunächst für sich geschlossen und erzählt mittels ihrer Bilder aus der jeweiligen Lebenswelt der in dieser Lebenswelt situierten Person. D. h. die Manifeste werden nicht nur als Text rezitiert, sondern sie sind transponierter Bestandteil einer Szenerie, wenn beispielsweise die russische Choreografin ihren TänzerInnen die Forderungen des Fluxus und der Performance auf einer Tanzprobe nahezu einpeitscht, eine Lehrerin ihren GrundschülerInnen Forderungen zum Film in ihre Hefte diktiert oder eine Galeristin die Gäste eines Empfangs Kandiskys und Marcs Forderungen der Blauen Reiter (1912) als Rede verliest. Die verbildlichten Texte werden über einen sensiblen Kameraeinsatz ins Bewegtbild gebracht: die Räume werden schleichend, gleitend, verzögernd abgetastet, die Kamera nähert sich dem weiteren Geschehen meist aus der Vogelperspektive und fährt skulptural über die Oberflächen des Sicht- und Wahrnehmbaren, der Architekturen, der Requisiten und weiter der Körperhaltungen, der Gesichtshaut, der Mund- und Halspartien, der Fingernägel der Protagonistin – wie ein Körperscanner, der das zugehörige Subface unter dem Surface zu erfassen versucht.

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Julian Rosefeldt, Manifesto, 2014/2015, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

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Prototyp Black Mountain College

„Unser zentrales und konsequentes Bestreben is es, Methoden zu lehren, nicht Inhalte; den Prozesse gegenüber den Ergebnissen zu betonen; den Studenten zur Erkenntnis zu bringen, dass die Anwendung des Wissens […] für uns wichtiger ist als die Fakten selbst.“ (John Andrew Rice, Gründer Black Mountain College, 1933)

Eine kunsthistorische Ausleuchtung des wohl einmaligen kunst- und lebenspädagogischen Experiments des Black Mountain College von 1933 bis 1957 in der Nähe von Asheville, in den Blue Ridge Mountains im US-Bundesstaat North Carolina, am See Eden gelegen, stand seit längerem an (siehe auch den nur schmalen Eintrag in der deutschen Wikipedia). Nun sind zahlreiche Leihgaben der Josef und Anni Albers Foundation in Connecticut im Hamburger Bahnhof in Berlin zu sehen, angereichert um einen Blog sowie um ein Symposium am 25. und 26.9.2015 zum Thema Education.

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Nicht zufällig fällt der Beginn des Experiment, das heute als ein „inter- und trans-disziplinäres sowie multimediales“ bezeichnet wird, mit der erzwungenden und im Kollegium beschlossenen Selbstauflösung des Bauhauses zusammen – und wohl auch nicht zufällig endet das Experiment 1957 in der McCarthy-Ära aufgrund eines kommunistischen Generalverdachts unter nicht unähnlichen Umständen wie das Bauhaus in Deutschland unter den Nationalsozialisten. Einige der damaligen Bauhaus-Beteiligten wie Josef und Anni Albers wechselten übergangslos – wenn auch nicht unproblematisch, hatten doch Regierung, Kultusministerium, Devisenamt und das amerikanische Konsulat ein Mitspracherecht – zum 26.11.1933 in den Lehrbetrieb in North Carolina. Ein ausgestellter Briefwechsel zwischen Albers und einem der beiden Gründer Theodore Dreier zwischen dem 28. September 1933 und dem 31. Oktober 1933 gibt eindrucksvoll Auskunft nicht nur über die damaligen Kommunikationswege, die Geschäftssprache, die Verhandlungsformen, die Geschlechterhierarchien und Bezahlungen (1000,- Dollar plus „room and board for yourself and your wife“), sondern auch über die damaligen politischen Verhältnisse in Deutschland wie auch über die finanziellen Möglichkeiten und den Gründergeist für „Methoden“, „Prozess“ und „Wissensanwendung“ statt „Inhalte“, „Ergebnisse“ und „Fakten“. Dreier stellt „a progressive education“, „an adventurous and a pioneering one“, „an experiment“ und „no restrictions on the teaching methods“ in Aussicht, er genrefiziert Black Mountain als „college of liberal arts“ und als „educational organism“ und konstatiert: „we feel that the arts should play an important part both in our communitylife and in the educational process“ – Formulierungen, die 2015 für die Aquise von Spenden für eine Institutsgründung taugen würden. Auch andere Emigranten kamen: der Architekt und Bauhausgründer Walter Gropius, die Psychiater Fritz und Anna Moellenhoff, der Schönberg-Schüler Heinrich Jalowetz, die Musikerin Johanna Jalowetz, Xanti Schawinsky, Cellist und Saxofonist der Bauhaus-Jazz-Kapelle und ehemaliger Mitarbeiter von Oskar Schlemmer.

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