Schlagwort-Archive: Berliner Festspiele

Tanzhermeneutisches – danke an die Trisha Brown Dance Company

  • Positionen zu halten, ist anstrengend.
  • Positionen im Raum zu finden, gibt der Raum vor.
  • Positionen zueinander einzunehmen, ist keine alleinige Entscheidung.
  • Narration ist 1. nicht gegeben, umfasst 2. eine Anzahl von Elementen und 3. kombiniert diese.
  • Nicht gesehen zu werden, bedeutet nicht, nicht zu existieren.
  • Imagination findet genauso außerhalb des Rahmens statt.
  • Serialität vermehrt (manchmal auch nur scheinbar).
  • Abstände sind Mittel, Instrumente.
  • Brüche steigern die Möglichkeiten.
  • Geschwindigkeit ist relational.
  • Gegenläufigkeit unterbricht.
  • Widerstehen ist mindestens ein Zeitvektor.
  • Erinnern ist auch ein interrelationaler Akt, durch Bezüge, Referenzen, Echo.
  • Gleich ist höchstens ähnlich.
  • Kombination ist nicht Komposition. 
  • Auch 1 ist eine Konstellation.
  • Trägheit ist Schrägheit.
  • Unwahrscheinliches ist nicht unwahrscheinlich, ebenso nicht Unvorhersagbares.
  • Fallen ist auch eine Figur.
  • Kontext potenziert.
  • Choreografie verhandelt und überbrückt Prekäres.
  • Ausdauer! Immer noch und wieder neu.

Dieses Beobachtungen entstanden im Anschluss an die Aufführungen „Glacial Decoy / In the Fall / Working Title“ der Trisha Brown Dance Company in Zusammenarbeit mit Noé Soulier, die im Rahmen der Performing Arts Season 2024/25 am Berliner Festspielhaus aufgeführt wurden. Die drei Choreografien entstanden in den Jahren 1979, 2023 und 1985. Während „Glacial Decoy“ und „Working Title“ von der US-amerikanischen Tänzerin, Choreografin und documenta-Teilnehmerin Trisha Brown (1936-2017) stammen, choreografierte „In the Fall“ der französische Tänzer und Choreograf Noé Soulier (geboren 1987) auf Einladung der Trisha Brown Dance Company in Auseinandersetzung mit ihrem Werk.

2 Ikonen, 4 Fotografien, 4 Tänzerinnen, 4 Wände

„Glacial Decoy“ von 1979 ist Trisha Browns erste Arbeit für die Theaterbühne mit ihrer nur einen offenen Wand zum Publikum. An der hinteren Wand sind die Projektionen von vier raumhohen Schwarz-Weiss-Fotografien mit abgerundeten Ecken von Robert Rauschenberg zu sehen. Die Motive, die in der nüchtern dokumentarischen Bildsprache der Neuen Sachlichkeit ästhetisiert wurden, wandern alle 5 Sekunden von links um eine Position nach rechts, um links ein nächstes Stilleben in die Vierer-Reihung aufzunehmen: ein aufgewickeltes Kabel, ein Möbeldetail, ein Baum, eine offene Tür, ein parkendes Auto, ein Verkehrsschild, eine Häuserwand, Wäsche auf der Leine, eine Uhr. Der kontinuierliche Fortlauf der insgesamt 159 Bilder – zwischen ihnen ein geringer weißer Abstand – wird mit dem Klickgeräusch eines Diaprojektors kombiniert, ansonsten herrscht (wie in den Stilleben) Stille auf der Bühne und das Licht leuchtet die Bühne (ebenfalls wie in den Stillleben) scharf aus. In 25 Minuten finden 4 Tänzerinnen in diaphan weißen, weichen, flüchtig körperumspielenden Kleidern, die an antike Karyatiden erinnern (ebenfalls von Rauschenberg), die unterschiedlichsten Positionen und Proportionen zueinander und im Raum. Wie die Fassadengliederung antiker Gebäude nehmen sie geometrisch die ganze Breite der Bühne ein, verschwinden dabei auch in die Seitengasse, um sich seriell auf der anderen Seite der Bühne wieder aufzufüllen und damit auch ein Nebengeschehen außerhalb der Bühne zu suggerieren. Mal eine, mal zwei, mal drei, mal vier Tänzerinnen – sie hüpfen, springen, kippen, gehen, laufen, rutschen, stürzen, schlittern, galoppieren in je unterschiedlichen Kombinationen, Tempi und Qualitäten. Und manchmal verursachen sie auf dem Bühnenboden Geräusche. 

Glacial Decoy / Working Title / In the Fall @ Maria Baranova

Die Serialität der Tänzerinnen suggeriert ihre Unendlichkeit, wenngleich die Tänzerinnen schon allein durch die beweglichen Kleider nicht stereotypisiert wurden, sondern auch über Frisuren, Körperproportionen und Hautfarben individualisiert werden. Ihre Bewegungsstudien reflektieren körperliche Verfasstheiten ebenso wie Zuordnungen und Abläufe: kontradiktorische Bewegungen, gleiche, gleitende, wiederholende, versetzte, symmetrische, spiegelbildliche Bewegungen, parallele, aus dem Takt geratene, unterbrechende, unerwartete, unvorhersagbare, unwahrscheinliche, sich berührende, einander wegstoßende Bewegungen, als Solo, im Duett, im Terzett, im Quartett. Wie die stark kontrastierten Fotografien von Alltagsmotiven im Hintergrund werden hier sowohl alltägliche Bewegungen (ohne in private oder öffentliche, intime oder distanzierte Bewegungen zu differenzieren), als auch Proportionen, Zuordnungen und Geschwindigkeit streng konzeptionell, ja beinahe systematisch in ihrem Optionsspektrum ausgeleuchtet. Die selbst leuchtenden Fotografien im Hintergrund und ihre alle 5 Sekunden stattfindende kontinuierliche Bewegung von links nach rechts laufend deuten intermedial auf den Film hin. Wie ein verzögerter Experimentalfilm (die Bildfrequenz lag in der Anfangszeit der bewegten Bilder bei 16 Bilder pro Sekunde) montiert „Glacial Decoy“ (Gletschertäuschung) nicht nur kinematografisch zweidimensionale Bilder, sondern mit den Ereignissen auf der Bühne drei- und vierdimensionale, kompositorische Figurationen, die, so scheint es, sich während des Stücks dynamisieren und beschleunigen, um zum Ende wieder in einen langsameren Rhythmus zurückzufallen. Die halbrunden Ecken der Schwarz-Weiss-Fotografien bringt noch ein weiteres mediales Element in das Gefüge und aktualisiert „Glacial Decoy“ um die Materialität von Smartphones-Displays.

Glacial Decoy / Working Title / In the Fall @ Maria Baranova

Weiteres bei Interesse:

Browns Echo-Studien werden bei Soulier zu EchoHochVier (Brown, Newman, Malewitsch).

„In the Fall“ choreografierte Noé Soulier 2023 auf Einladung der Trisha Brown Dance Company in Auseinandersetzung mit Browns Werk. Ebenfalls in 25 Minuten tanzen die vier vorherigen Tänzerinnen, erweitert um 4 weitere Tänzer*innen, nun in Hosenanzügen in den Grundfarben rot, gelb und blau. Das Bewegungsrepertoire Browns wird von Soulier dialogisch aufgenommen und in seinen Bezügen, Regeln und Aufbauten verstärkt. Indem Soulier seine choreografischen Prinzipien wie ein Layer über Trisha Browns Tanzstil legt, faltet er ihre Grammatik auf. Auch hier werden Pas de deux getanzt, Balancen und Drehungen in verschiedenen Posen gezeigt, die Tänzer*innen werden gehalten, gehoben, geführt, sie drehen sich und (in-)einander, sie springen allein, zu zweit … zu acht, sie beschleunigen und verkomplizieren. Auch hier wird der Raum vermessen, diesmal kombiniert mit einer Farbausleuchtung durch die Scheinwerfer und einem kontinuierlichen Grillengeräusch, das später mit Percussion zu einem breiteren Sound angereichert wird. Auch hier finden die verschiedensten Konstellationen und Kombinationen unter den Tänzer*innen, zum und im Raum statt. Wie Figuren aus einem suprematistischen Bild von Kasimir Malewitsch springen sie aus der Bildfläche in den Bühnenraum und wirbeln, schleudern, strecken, kippen und wippen. Stärker aber noch als bei Trisha Brown werden hier die Interaktionen, Resonanzen und Referentialitäten thematisiert sowie die Bewegungen durch Ausdehnungen, Gleichgewichte und Verzögerungen reflektiert und dezentriert. Elemente aus dem Yoga, Tai Chi und Aikido scheinen integriert zu sein. Anstrengungen, Kraft und Konzentration dringen in die Bewegungen ein. Die Tänzer*innenkörper werden in eine Aushandlung mit Trägheit und Schwerkraft gebracht. 

Souliers „In the Fall“ operiert wie ein zeitgenössisches Echo auf Brown, die Reflexionen von Bewegung und Raum werden daher um eine nächste Reflexionsebene erweitert, nämlich die eines historisch kanonisierten Tanzstils. Aber nicht nur das, reflektiert wird auch eine weitere kunsthistorische Ikone: Das übergroße Ölgemälde „Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue“ von Barnett Newman Ende der 1960er Jahre verhandelt in seinen Versionen I bis IV die Verhältnisse der Farbflächen zueinander. Während Newman die drei Grundfarben und die senkrechte Gliederung durch die Farbfelder in seinen Gemälden beibehält, die Verhältnisse der Farbflächen zueinander verändert, indem er ihre Reihenfolge und Breite variiert, changiert Soulier nicht nur die Farben in ihrer Anzahl und Kombinatorik der Tänzer*innen, sondern lässt auch die senkrechte Gliederung in den Gemälden durch die Farbfelder in die Waagerechten und Schrägen kippen. Während Newman Gleichgewicht auslotet, Browns „Glacial Decoy“ eine Kontrolle über das Gleichgewicht vortäuscht, liegt Souliers Interesse bei „In the Fall“, dem Titel zu urteilen, im Fallen. Die Tänzer*innen dehnen ihre Körperposition sowohl physisch als auch zeitlich bis zu dem prekären Moment, in dem es kein Halten mehr gibt, sie aber nicht fallen, sondern mit einer Bewegung zu einer nächsten Körperposition gelangen. Dieser Moment, in dem die Kontrolle zu verlieren droht, wird von der Choreografie überbrückt. 

Glacial Decoy / Working Title / In the Fall © Delphine Perrin

Erzählen und Erinnern als Kombinatorik

Hier hätte der Abend enden können, nach einer Pause folgt „Working Title“ von Trisha Brown aus dem Jahr 1985. Die acht Tänzer*innen bewegen sich nun in matt farbenen Patchworkanzügen zu einer experimentellen, improvisiert scheinenden Musik, bestehend aus Blasinstrumenten und Percussion, angereichert um Alltagsklänge wie Pusten, Klopfen und Rauschen, ohne dass sie durch einen Rhythmus vereinheitlicht werden und damit eine Komposition hätte erkenntlich werden können. Nur das heitere und muntere Klangbild wirkt und verbindet sich (scheinbar) mit den Bewegungen der Tänzer*innen in ihren bunten Kostümen und dem bunten, den Raum transformierenden Licht. Das gleiche Bewegungsvokabular wie in „Glacial Decoy“ und die gleiche ausbuchstabierte Bewegungsgrammatik in „In the Fall“ wirken nun, kontextualisiert durch Licht, Farbe, Kostüme und Klänge, freudig, lebenslustig, vergnügt, fröhlich und launig – also in einer Stimmung. Auf einmal scheint etwas erzählt, statt nüchtern analysiert zu werden. Auf einmal scheint die vierte offene Wand zum Publikum durchstoßen zu sein. Und auf einmal dominiert nicht die Erinnerungsleistung der Choreografie durch die Tänzer*innen, denn hier scheinen sie in einer Geschichte aufgehoben zu sein, die sie durch die 25 Minuten des Stücks leiten könnte. All das aber irrtümlich, denn die experimentelle Komposition ist exponentiell eine Herausforderung, denn statt zu verbinden, zerteilt sie die Bewegungen, den Raum und sich scheinbar andeutetende Muster. Athletik und Ausdauer werden von den Tänzer*innen gefordert. „Working Title“ zeigt sich im Einsatz dieser beiden Anforderungen als ein optimistischer work-in-progress, in den 1980er Jahren in den USA wissentlich anders als heute 2025 zu bewerten.

Glacial Decoy / Working Title / In the Fall © Delphine Perrin

Daraus ergaben sich aber weitere Einsichten: 

  • Positionen zu halten, ist anstrengend.
  • Positionen im Raum zu finden, gibt der Raum vor.
  • Positionen zueinander einzunehmen, ist keine alleinige Entscheidung.
  • Narration ist 1. nicht gegeben, umfasst 2. eine Anzahl von Elementen und 3. kombiniert diese.
  • Nicht gesehen zu werden, bedeutet nicht, nicht zu existieren.
  • Imagination findet genauso außerhalb des Rahmens statt.
  • Serialität vermehrt (manchmal auch nur scheinbar).
  • Abstände sind Mittel, Instrumente.
  • Brüche steigern die Möglichkeiten.
  • Geschwindigkeit ist relational.
  • Gegenläufigkeit unterbricht.
  • Widerstehen ist mindestens ein Zeitvektor.
  • Erinnern ist auch ein interrelationaler Akt, durch Bezüge, Referenzen, Echo.
  • Gleich ist höchstens ähnlich.
  • Kombination ist nicht Komposition. 
  • Auch 1 ist eine Konstellation.
  • Trägheit ist Schrägheit.
  • Unwahrscheinliches ist nicht unwahrscheinlich, ebenso nicht Unvorhersagbares.
  • Fallen ist auch eine Figur.
  • Kontext potenziert.
  • Choreografie verhandelt und überbrückt Prekäres.
  • Ausdauer! Immer noch und wieder neu.

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Das ist (k)eine Botschaft. Taiwan inmitten repräsentativer Zeichenspiele.

„Dies ist keine Botschaft (Made in Taiwan)“ lautet der Titel der neuesten Rimini-Protokoll-Produktion (Stefan Kaegi) im Rahmen der Performing Arts Season der Berliner Festspiele 2023/24. Dieser Satz ist inmitten der Repräsentationsmaschine Theater und des Performanzformats so wahr, wie er falsch ist, so wenig wahr, wie er wenig falsch ist. Das hatte bereits René Magrittes Ölgemälde „Ceci n’est pas une pipe“ bildnerisch belegt, indem Magritte unter die plakativ-realistische Abbildung einer Pfeife auf einer Leinwand schrieb: „Ceci n’est pas une pipe.“, das ist keine Pfeife, obgleich es sich doch um eine Pfeife handelte. Darstellung (Signifikat), Bezeichnung (Signifikant) und tatsächliches „Ding“ sind zu unterscheiden.

C’est une embassade. Ceci n’est pas une embassade.

Für zwei Stunden entstand auf der großen Bühne des Berliner Festspielhauses die Botschaft Taiwans. Die Musikerin Debby Szu-Ya Wang, die Digitalaktivistin Chiayo Kuo und der ehemalige Diplomat David Chienkuo Wu – alle drei auf ihre je eigene Art Botschafter*innen ihres Landes – riefen mit ihrer Performance und damit mit einer performativen Äußerung auf der Theaterbühne im Schutz der Kunstfreiheit die von ihnen vermisste diplomatische Vertretung ihres Heimatlandes in Deutschland aus. Nicht nur hier würde eine Botschaft fehlen, in nur zwölf Ländern würden Taiwans diplomatische Vertretungen den Status einer Botschaft haben, in Europa nur in Vatikanstadt – und das, obwohl Taiwan zu den zwanzig größten Wirtschaftsregionen der Welt zähle. Aber keine Nation könne es sich leisten, die Beziehungen zur Wirtschaftsmacht China zu gefährden. Selbst seinen Sitz in den Vereinten Nationen musste Taiwan 1971 aufgeben, als der US-amerikanische Präsident Richard Nixon entschied, die politischen Beziehungen zu China zu intensivieren. Auch bei den Olympischen Spielen tritt Taiwan seit 1984 unter dem Namen Chinesisch Taipeh an und darf auf den Zeremonien weder seine Flagge zeigen, noch darf  die Nationalhymne gespielt werden. Seither kämpft Taiwan um diplomatische Anerkennung und damit auch um seine politische Repräsentanz. 

Diese wurde nun an drei Abenden im Berliner Festspielhaus temporär performiert: unter anderem mit der Flagge Taiwans und einem am Bühnenhaus fixierten goldglänzenden Messingschild ausgewiesen, mit der Nationalhymne in Karaokeversion zu Gehör gebracht und mit dem Publikum als Besucher*innen eines Botschaftsempfangs in Szene gesetzt. Hierbei handelte es sich um die Bestandteile, die in performativer Funktion einen konkreten Handlungsvollzug von Botschaft als Botschaft praktizierten – und dies in doppelt semantischem Sinne: Hier wurde nicht nur eine Botschaft (als embassy) performiert, hier wurde auch eine Botschaft (als message) kundgetan. „Bitte vergesst uns nicht!“ Performative Äußerungen vollziehen die Wirklichkeit, die sie beschreiben, selbst mit – und bringen sie so erst hervor. Diese Äußerungen tun durch die Äußerung selbst etwas; etwas, das nicht wahr oder falsch ist, sondern das glücken kann oder eben nicht (J.L. Austin 1986: Performative Äusserungen). „Dies ist keine Botschaft (Made in Taiwan)“ ist geglückt.

© Claudia Ndebele

C’est un message. Ceci n’est pas un message.

Die Theaterbühne und das künstlerische Format der Performance konnte das Defizit fehlender Repräsentanz für zwei Stunden aufheben: Mit Mitteln der erzählerischen und bildlichen Montage und Collage entstand im ausverkauften Haus der Berliner Festspiele eine Erzählung Taiwans, die historische, politische, soziale und wirtschaftliche Dimensionen des Landes mit persönlichen Biografien verwob. Debby Szu-Ya Wang, Chiayo Kuo und David Chienkuo Wu erzählten von sich, ihren Lebenswegen und Familien. Sie verknüpften ihre mikropolitischen Geschichten mit soziopolitischen Ereignissen Taiwans, etwa mit der Gründung Taiwans durch Rückzug der Unterlegenen der Kommunistischen Partei aus der Volksrepublik China 1949, mit dem Personenkult um den Gründer Chiang Kai-shek und der Ende der 1980er Jahre beginnenden Demokratisierung. Sie erzählten von sozioökonomischen Entwicklungen als Halbleiterproduzent oder als Bubble-Tea-Erfinder, von Landesbezeichnungsdebatten (Taiwan vs. Republik China), von Religions- und Sprachenvielfalt der Inseln. Die umstrittene völkerrechtliche Stellung Taiwans würde sich in den tektonischen Erschütterungen zwischen unterschiedlichen Politiksystemen wiederfinden, aber auch durch Taiwans geologische Lage innerhalb des pazifischen Feuerrings, die immer wieder zu starken Erdbeben führen.

Die sprachlichen Erzählungen wurden zusätzlich ins Bild gesetzt: mittels Miniaturmodellen von Architekturen und Personen, die wiederum durch Videoprojektionen auf der Bühne großformatig sichtbar gemacht wurden, mittels auf der Bühne von Debby produzierter Klänge und Kompositionen, aber auch mittels projizierter Privatfotografien von Debby, Chiayo und David. Selbst ihr performiertes Demokratiekonzept machten sie ansichtig: Konträre Einschätzungen ihrer jeweilig erzählten Perspektiven wurden durch Widerspruchsschilder kommentiert: „I disagree“, hieß es durch Chiayo, wenn David von einer Wiedervereinigung mit dem Festland China schwärmte oder durch David, wenn Chiayo den Staatsgründer Chiang Kai-shek als Militärdiktator bezeichnete.

Dass es sich bei den Berliner Festspielen um eine direkt vom Bund getragene und finanzierte Einrichtung handelt, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien als Aufsichtsratsvorsitzende zumindest geschäftlich unmittelbare Vorgesetzte des Intendanten des Hauses ist, reicherte die Doppelbödigkeit, dass hier keine Botschaft performiert würde, obwohl hier eine Botschaft i.S. einer embassy und einer message performiert wurde, um eine nächste, um eine politisch-infrastrukturelle Bedeutungsebene an. Im Zeichen der Kunstfreiheit und mit der Kraft der performativen Äußerung wurde die künstlerische Performance zu einer politischen, das Theater temporär zu einer „Bühne der Weltpolitik“. Im Gewirr der Mehrfachbedeutungskonstruktionen und -zuschreibungen konnten daraufhin im Publikum unter den Gästen des performierten Botschaftsempfangs auch die aktuelle Aussenministerin und der CEO der Volkswagen AG ausfindig gemacht werden. Somit fand auch das Publikum inmitten von Struktur, Zeichen und Spiel (Derrida 1972) seine Rolle/n und ließ sich auf das Spiel zwischen Abwesenheit und Präsenz des Zeichens ein.

© Claudia Ndebele

Das ist (k)eine Botschaft. 

Zum Ende des Abends blinkte auf der Rückseite des Bühnenhauses ein taiwanesisches Schriftzeichen, eine Kombination von ‚Nation‘ und ‚vielleicht‘, von ‚nation‘ und ‚maybe‘: Das Schriftzeichen wurde als Leuchtzeichen nur in einen der beiden Zustände versetzt: entweder als ‚Nation‘ oder als ‚vielleicht‘. Dabei belegte „Dies ist keine Botschaft (Made in Taiwan)“ in just dem Moment des Vollzugs, dass mehrere Zustände gleichzeitig funktionieren, sowohl eine Botschaft zu sein, als auch keine, sowohl eine Botschaft zu haben, als auch keine. Das goldglänzende Messingschild wurde nach zwei Stunden, unter großem Applaus des Publikums für die drei Erzähler*innen des Abends und „Experten des Alltags“, demontiert.

© Claudia Ndebele

24., 26., 27.01.2024, Uraufführung Haus der Berliner Festspiele, Große Bühne

Eine Produktion von Théâtre Vidy-Lausanne und National Theater & Concert Hall Taipei in Koproduktion mit Rimini Apparat, Berliner Festspiele, Volkstheater Wien, Centro Dramático Nacional Madrid, Zürcher Theater Spektakel, Festival d’Automne à Paris, National Theatre Drama / Prague Crossroads Festival mit Unterstützung von Centre Culturel de Taiwan à Paris und Prix Tremplin Leenaards / La Manufacture.

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Kapelle der Schmerzen

Steven Cohen: Put your heart under your feet… and walk! To Elu

https://www.berlinerfestspiele.de/performing-arts-season/programm/2023/spielplan/put-your-heart-under-your-feet-and-walk

Die Hinterbühne des Berliner Festspielhauses klappt sich auf wie ein Notebook: Auf dem Boden liegt ein symmetrisch sortiertes Raster aus etwa zweihundert hellrosa farbenen Spitzenschuhen mit ihren Satinbändern, paarweise geordnet, manche mit Davidsternen kombiniert, mit Kruzifixen oder mit Voodoo Puppen, andere mit Amuletten, Spielzeugautos oder Sexspielzeugen. Links auf der Bühne sind vier Grammophone in eine Runde gehängt, rechts auf der Bühne ist eine Gruppe verschiedener Art déco Kerzenständer, inklusive hochgestreckter Kerzen, zusammen mit einem Tisch zu einem Altar angeordnet. Die Rückwand der Bühne wird im Verlauf der einstündigen Performance zu einer Projektionsfläche für vorproduzierte Videos an „anderen Orten“. Der gesamte Raum ist in den Geruch von Weihrauch gehüllt. 

© Pierre Planchenault

Steven Cohen, bildender und darstellender Künstler, Performancekünstler und Choreograf, 1962 in Südafrika geboren, weiss, jüdisch, männlich, homosexuell, hat seit den 1990er Jahren einen alterslosen, haarlosen, artifiziell geschminkten und geschmückten, weiß gepuderten, beinahe nackten, queeren Archetyp entwickelt, der mittels seines Körpers als Mittler oder auch Médiateur die auf der Bühne installierten und figurierten Objekte „zum Leben erwecken wird“: Hier wird der material-semiotische Ansatz z. B. Bruno Latours, der die Handlungs- und Wirkvollmächtigkeit (Agency) nichtmenschlicher Entitäten oder auch der Dinge in einem interaktiven Netzwerk von Akteur*innen betont, oder auch der neo-materialistische Ansatz Karen Barads der Intra-Aktion, der die wechselseitige Hervorbringung miteinander verschränkter Agenzien herausstellt, aus denen sich prozesshaft Materie performiert und damit auch erst materialisiert, zur Ansicht gebracht. Die installative Collage auf der Bühne, bestehend aus hunderten Einzelteile, über Licht bedeutungsvoll als Reliquien ins Szene gesetzt, sind daher bereits Mitspieler. Damit liegt schon in der Installation das Performative, schon bevor Cohen die Bühne betritt.

Cohen wird sich über etwa 60 Minuten in langsamen und würdevollen Schritten, manchmal hilflos, manchmal ungleichgewichtig, durch diese intra-performative Installation bewegen. Sein weißer Körper wird in weißen Corsagen oder kunstvollen Art déco-Kleidern gezwängt sein. Er wird sich auf glitzernden, überhohen High Heels, in Spitzentechnik bewegen, deren Absätze anfänglich Kindersärge sein werden. Verlängerte Unterarmgehstützen werden ihm dabei behilflich sein, mit den Kindersärgen unter seinen Füßen über den drapierten Spitzenschuhen zu balancieren und die Installation zu durchschreiten. Die vier Grammophone werden durch eine Kurbel von ihm aktiviert, an seinen Körper geschnallt über die Bühne getragen und damit zu tanzenden Lautsprechern. Er wird als Trauerritual die Kerzen entzünden, ein Gebet flüstern, mit einer Kamera eine Schatulle inspizieren, aber auch seinen weiß geschminkten und mit Ornamenten geschmückten Körper, seine glitzernden Augen und seine kunstvoll nachgezogenen Lippen, um mit der Kamera dann auch in seinen Rachen zu gleiten. Er wird über das „Theater als Tempel“ referieren, aus der Schatulle einen Löffel Asche seines 2016 verstorbenen Partners Elu Johann Kieser zu sich nehmen und aus einem Kelch trinken. Dazu wird leise Leonard Cohen singen. Und er wird sich über die auf der Rückwand projizierten Videos selbst begegnen, in einem Palmengarten, aus „Muttererde“ auftauchend, in einem Schlachthof: Hier wird das Publikum die Tötung von Rindern sehen, Cohen wird sich in seinem weißen Spitzentutu unter die bluttropfenden, langsam sterbenden Rinderkörper legen, er wird seinen weißen Körper mit dem roten Rinderblut waschen. Im Schlachthof angestellte People of Color werden sich wundern und 17 Zuschauer*innen werden sich diesen Bildern entziehen. Damit wird die performative Installation, durch Cohen als Médiateur performiert, kinematografisch angereichert.

© Pierre Planchenault

Cohen bzw. sein kreierter Archetypus wird dem Publikum (s)ein geheimnisvolles, phantastisches (oder auch phantasmatisches), verschlüsseltes Universum für einen Moment öffnen: ein Universum, das mit Symbolen, Metaphern, Chiffren und Zeichen ausgestattet ist, das mit Ritualen, Licht, Sound, Bewegungen, Weihrauch und künstlichem Nebel als geheimnisvoll und intim inszeniert wird, das aber auch ohne die Hermeneutik als Methode zugänglich und attraktiv ist: Wie Alice im Wunderland durchschreitet und zelebriert Cohens Kunstfigur eine Kapelle der Schmerzen – Schmerzen, die durch Tod, Verlust oder Misshandlung, durch körperliche Züchtigungen, Trauer oder Religionen, durch Nichtwissen, Angst und Liebe entstehen. Aber Cohens Kapelle tröstet über überwältigende Trauer hinweg: „Put your heart under your feet… and walk!“ Sein Universum lässt, obwohl übercodiert und chiffriert, Platz für eigene Projektionen. Bei Projektionen wird es bleiben, denn das Publikum wird die collagierte Bodeninstallation nach 60 Minuten nicht noch selbst durchwandern können. Die Kapelle bleibt damit ansichtige Zeremonie und Bild/Leinwand. Sie ist Elu gewidmet. 

© Pierre Planchenault

Auftakt der Performing Arts Season der Berliner Festspiele. Ein Panorama internationaler Tanz-, Theater- und Performanceaufführungen, 13.10.2023 bis 8.3.2024: https://www.berlinerfestspiele.de/performing-arts-season