Dana Michels Performance „MIKE“ im Berliner Gropius-Bau startete für das Publikum unwissentlich mit einer 30-minütigen Detox-Kur:
Die Zuschauer*innen versammelten sich pünktlich zu um 15 Uhr in der 1. Etage des Gropius-Baus. Da sich der Einlass verzögerte, konnten wir am Gelände der Rotunde stehend das palastähnliche Gebäude und dessen kubischen Baukörper, den Materialeinsatz und die Blickachsen registrieren. Wir konnten die anderen wartenden Zuschauer*innen beobachten, das Aufsichtspersonal des Gropius-Baus, die Routinen in der Einlasskontrolle, aber auch die Begrüßungsrituale und Übersprungshandlungen der Besucher*innen. Spätestens nach 10 Minuten wurde das Publikum etwas unruhig, ein Mitarbeiter verschwand in den verschlossenen Trakt Richtung Niederkirchnerstraße, kehrte zurück und schüttelte mit dem Kopf. Ließ Dana Michel uns warten? War sie nicht rechtzeitig vorbereitet? Gab es Schwierigkeiten? Es kam zu ersten verärgerten Blickkomplizenschaften und vereinzelten runzelnden Augenbraunen wegen der nicht eingehaltenen und verabredeten Zeitökonomien. Nach 20 Minuten öffnete sich die raumhohe Eingangstür, uns wurde empfohlen, uns entweder einen weißen Plastikstuhl links des Eingangs oder eine eingerollte Filzdecke rechts des Eingangs zu nehmen, mit denen sich die meisten der Besucher*innen in dem zentralen Raum platzierten und einrichteten. Hier würde wohl jetzt die Performance „MIKE“ stattfinden, zu der die Berliner Festspiele im Rahmen von „Performing Arts Seasons“ eingeladen hatten.
Doch auch hier und jetzt passierte scheinbar nichts Substantielles, irgendwann tauchte die Performerin auf, gekleidet in einem braunen Arbeitsanzug, darunter ein weißes Hemd und an den Füßen überlange weiße Strümpfe, mit denen sie auf dem Holzfussboden durch den Trakt rutschte. Es dauerte einige Zeit, bis sich das Publikum mit dem Timing und den Aufenthaltsorten von Dana Michels synchronisierte und die eigenen Präkonfigurationen, Zeit- und Bewegungsökonomien losließ. Für die kommenden zweieinhalb Stunden würden sich etwa 50 Besucher*innen zusammen mit Dana Michel die Räume und die Zeit teilen, sie würden gemeinsam staunen, sie würden Blicke nachvollziehen, Kontexte herstellen und Bewegungen bewundern, sie würden eine gemeinsame Gegenwart und eine gemeinsame Präsenz teilen – wenngleich die vierte Wand des Theaters sie trennen würde, die Dana Michel bis auf eine Ausnahme nicht durchschreiten würde.
Die fünf Räume, die der Live Performerin zur Verfügung standen, waren mit verschiedenen Gegenständen und Materialien ausgestattet, die von einem Gebäudemanagement oder einem Umzugsunternehmen verwendet werden könnten: Elektrokabel, eine rollende Stehleuchte, Papierrollen, ein Wasserspender, zwei Bürostühle, gefaltete Pappkartons, Lamellenrollos, Teppichreste, Kabelbinder, Abklebband, Filzdecken, rollende Kleiderständer, aber auch Handwerkszeug, das in weiße Socken gekleidet war und geometrisch angeordnet auf dem Boden lag. Fünf Einzelräume des Gropius-Baus auf einer Länge von etwa 60 Metern, die ansonsten für das Ausstellen von Bilder, Objekten und Installationen genutzt werden, sollten nun das Surrounding werden, in dem Dana Michel die Readymades ihres Readymade-Dasein entledigte, in dem sie das Surrounding und seine Parameter selbst thematisierte und in dem sie Intra-Aktionen herstellte: Zwischen ihrem Körper und einzelnen der aufgereihten Gegenstände entstanden Living Sculptures, wenn sie sich in gleichem Winkel neben die aufrecht stehenden Teppichrollen lehnte, wenn sie sich auf die Stühle setze und sich deren Formen anpasste, wenn sie sich vom Rotlicht der Stehleuchte bescheinen ließ, wenn sie sich auf den ausgerollten Papierrollen ausstreckte oder auf ihnen entlang rutschte, wenn sie in den Zwischenräumen von Bewegungen verblieb und diese dehnte, verzögerte oder perpetuierte.
Gleichzeitig entdeckte Dana Michel die Bestandteile der Immobilie, die Heizkörper, an die sie sich presste oder in die sie hineinlauschte, die Elektroschränke, die in die Ausstellungsräume eingepasst sind, die Blickachsen, die Türen, den rutschenden Holzfussboden. Mit ihren Entdeckungen und Bewegungen vermaß Dana Michel die Räume und das Publikum folgte ihr. Wie nur können hier ansonsten Bilder gehängt und Objekte gestellt werden? Eignen sich die räumlichen Verhältnisse nicht vielmehr bzw. verlangen sie es nicht, Strecken zurückzulegen, um die Ecken zu schauen, zurückzublicken, auf dem Boden zu rutschen, sich hinzulegen, sich auszudehnen? Eignen sich Achsen von 60 Metern nicht dafür, Papierrollen auszurollen, sie zu falten, sie zu zerknittern, sie zusammenzuballen, sie mit Klebeband zu bändigen und sie zu rollen.
Dana Michel erprobte diese Bewegungen und Handlungen, manchmal war es knapp am Slapstick vorbei, wenn sie beispielsweise einen der Bürostühle verpackte, der sich regelrecht dagegen zu wehren schien. In diesen Momenten wurde verständlich, was Karen Barad mit „Intra-Aktion“ meint: Die beteiligten Akteure (egal ob menschlich oder nicht menschlich) würden miteinander intra-aktionieren und konstituieren sich erst im Rahmen dieser dynamischen Intra-Aktion gegenseitig, an denen sie beteiligt und in die sie verwoben sind. Das hochkonzentrierte Publikum zweifelte keinen Moment an der Ernsthaftigkeit von Dana Michels planvoll scheinenden Handlungen, wenngleich sie nie zu einem teleologischen Ergebnis kamen. Zwar aktivierte sie hin und wieder mal eine Lampe oder schloss ein Stromkabel an den Stromkreislauf an. Allerdings führte auch dies zu keinem expliziten Zweck, der die Ökonomie der Prozesse hätte rechtfertigen können. Vielmehr ergaben sich (mit Aristoteles) andere Arten von Ursachen, die des Materials und die der Form, die ausgiebig zelebriert wurden und denen das Publikum folgte. Entledigt der Zweckursache, innerhalb eines festgelegten Zeitrahmens und an einem bestimmten Ort eine Kunstperformance zu rezipieren, folgten wir mit Freude Dana Michels alltäglichen Bewegungen, wir schauten mit ihr zurück, um die Ecke oder in den Stromschrank, wir wunderten uns, dass sich der Bürostuhl gegen seine Verpackung wehrte oder hätten gern selbst auf Socken auf dem Holzfussboden rutschen wollen.
Der berühmte, im Surrealismus durchgespielte Satz des französischen Dichters Comte de Lautréamont (1868), dass in dem „zufällige[n] Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ eine Schönheit lagere, wurde von Dana Michel zu einer hyperrealistischen Formel überführt: Michel zelebrierte eine überscharfe Realität, indem sie Vorgänge zeigte, für die es kaum Bezeichnungen, in jedem Fall kaum Bezeichnungen in der Standardsprache gibt: Fummeln, nesteln, zuppeln, tätscheln, kraulen, scharren, knartschen – Vorgänge, die sich selbst der Materialisierungen von und durch Sprache entziehen, die aber eine eigene Wirkmacht haben und eine Realität erzielen. Diesen Begriffen gab sie im Gropius-Bau eine große Bühne.
1., 2. und 3.12.2023, 180 min ohne Pause, Deutsche Erstaufführung, Uraufführung am 19.5.2023, Kunstenfestivaldesarts Brüssel, Gropius-Bau Berlin