special project: Der Bau

Tarane Bazrafshan

5.12.2024, zugänglich zwischen 19 und 21 Uhr, studio.box, Theater Erfurt

Franz Kafka war, so wird gerade in seinem 100. Todesjahr informiert, ein leidenschaftlicher Schwimmer. Tarane Bazrafshan lässt Kafkas Erzählung Der Bau (1923–24) von einer Rennradfahrerin in Aktion erzählen. In einem körpernahen schwarzen Zeitfahranzug, mit einem aerodynamischen, weißen Profihelm auf dem Kopf, unter dem festgeflochtenes dunkles Haar zum Vorschein kommt und in schwarzen Radschuhen mit Klickpedalen sitzt die Performerin inmitten der studio.box des Theaters Erfurt auf ihrem Carbon Rennrad, das auf einem Rollentrainer montiert ist. Sie radelt und radelt und radelt, ohne dass wir Rezipient*innen einen Anfang oder ein Ende erleben. Währenddessen liest sie den monologischen Textstrom weiß auf schwarz von einem vor ihr installierten Teleprompter. Links und rechts vor ihr spenden silberglänzende Ventilatoren Luft, in der Nähe überwacht ein Sanitäter das Geschehen. Dass Kafka Sportler gewesen sei, ist hier nicht mehr als eine anekdotische Korrelation. Vielmehr führte Bazrafshan Lektüre von Der Bau sie zu dieser bildlich-performativen Übertragung, die die isolierte und ausweglose Selbstbezüglichkeit des Ich-Erzählers in den Blick nimmt. Ein nicht näher bestimmtes Tier gibt sich in Kafkas Erzählung den Optimierungsmaßnahmen seines unterirdischen Baus hin und nimmt dabei in selbstvergessener Sicherheitsparanoia den Kampf mit einem wohl von ihm selbst produzierten Geräusch auf.

Closed Circuit wird die Rückkopplung (sowohl die auditive als auch die visuelle) zwischen In- und Outputsignalen eines Aufnahme- und Wiedergabesystems bezeichnet. Diese Rückkopplung führt zu einer Signalverstärkung und generiert ein geschlossenes Feedbacksystem. In der bildenden Kunst wurde in den 1970er Jahren (u.a. durch Dan Graham, Nam June Paik und Bruce Nauman) installativ und videoskulptural dazu gearbeitet, um sowohl mediale, aber auch – wie im vorliegenden Fall – physisch-psychische Wahrnehmungsparadigmen zu untersuchen. Unermüdlich, bald schon atemlos kämpft die Performerin auf ihrem Rennrad mit den Mitteln der paratheatralischen Experimente aus Jerzy Grotowskis special projects gegen die Verödungsgefahr des geschlossenen Systems an. Denn ein System, das nur sich selbst und nichts darüber hinaus produziert, wird, so warnt die Thermodynamik, von einem entropischen Zustand eingeholt; hier werden alle Unterscheidungen aufgehoben, denn hier existiert kein Input, der Unterschiede zu erzeugen in der Lage wäre. Wie eine Hochleistungsrennradfahrerin ist dabei die Performerin auf sich selbst und nur auf sich selbst zurückgeworfen. Sie radelt und radelt und radelt und liest Kafkas Der Bau, mal atemlos, mal aufbäumend, mal erschöpft. Nur ein einziges Mal wird sie zur Wasserflasche greifen. Radikalperformativ arbeitet sie gegen die versperrten Zugänge und verstopften Ausgänge des Textgefängnisses an und will sich ganz offensichtlich aus der Enge der paranoiden Projektionen des selbstgeschaffenen Labyrinths befreien. Aber ganz offenbar geht es ihr nicht nur um den literarischen Text, es geht ihr um mehr. Neben ihrem Kopf erscheint im Raum die filmische Projektion eines überdimensionierten Closeup ihres Kopfes. Die paranoiden Imaginationen scheinen sich zu verdoppeln, sie greifen in den Raum, werden ausgelagert. Und dennoch bewegt sich die Performerin auf ihrem Rennrad keinen einzigen Millimeter vorwärts. Eine am Rollentrainer montierte App übersetzt das raumlose Durch-Fahren des Raumes in eine Umgebungssimulation. Mit diesen Bildern wurden die Besucher*innen auf einem am Eingang der studio.box installierten Monitor empfangen.

Während Kafka aus dem Closed Circuit einen textlichen Ausweg anbietet, indem er den letzten Satz seiner Erzählung offen hält, verschließt ihn sein Herausgeber Max Brod. Der 1931 posthum publizierte letzte Satz heißt: „Aber alles blieb unverändert.“ Dabei hatte es geheißen: „Aber alles blieb unverändert, das – “. Bazrafshan übersetzt Kafkas Erzählung 2024 in der studio.box des Erfurter Theaters in eine multimediale, kinematografisch-installative Performance, die die Rezipient*innen ungehindert durchlaufen können. Und hierin findet sie ihren Ausweg: Mit den Mitteln der Ästhetik verhindert Bazrafshan die Verödungsgefahr des geschlossenen Systems, das durch die Kürzung des letzten Satzes an das Lesepublikum übergeben wurde. Denn parallel zu den körperlichen Anstrengungen der Performerin, gegen das allegorische Gefängnis anzufahren, weitet Bazrafshan den Theaterraum. Sie lüftet mit Bildern, medialisiert mit Digitalität, mobilisiert die Gattungen und bringt die Rezipient*innen wie das Publikum der bildenden (und nicht der darstellenden) Künste in Bewegung. Damit entlässt sie uns mit hoffnungsvollen Aussichten – sowohl auf die Potentiale der Künste als auch auf die Sinnhaftigkeit offener Systeme.

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