Steven Cohen: Put your heart under your feet… and walk! To Elu
Die Hinterbühne des Berliner Festspielhauses klappt sich auf wie ein Notebook: Auf dem Boden liegt ein symmetrisch sortiertes Raster aus etwa zweihundert hellrosa farbenen Spitzenschuhen mit ihren Satinbändern, paarweise geordnet, manche mit Davidsternen kombiniert, mit Kruzifixen oder mit Voodoo Puppen, andere mit Amuletten, Spielzeugautos oder Sexspielzeugen. Links auf der Bühne sind vier Grammophone in eine Runde gehängt, rechts auf der Bühne ist eine Gruppe verschiedener Art déco Kerzenständer, inklusive hochgestreckter Kerzen, zusammen mit einem Tisch zu einem Altar angeordnet. Die Rückwand der Bühne wird im Verlauf der einstündigen Performance zu einer Projektionsfläche für vorproduzierte Videos an „anderen Orten“. Der gesamte Raum ist in den Geruch von Weihrauch gehüllt.
Steven Cohen, bildender und darstellender Künstler, Performancekünstler und Choreograf, 1962 in Südafrika geboren, weiss, jüdisch, männlich, homosexuell, hat seit den 1990er Jahren einen alterslosen, haarlosen, artifiziell geschminkten und geschmückten, weiß gepuderten, beinahe nackten, queeren Archetyp entwickelt, der mittels seines Körpers als Mittler oder auch Médiateur die auf der Bühne installierten und figurierten Objekte „zum Leben erwecken wird“: Hier wird der material-semiotische Ansatz z. B. Bruno Latours, der die Handlungs- und Wirkvollmächtigkeit (Agency) nichtmenschlicher Entitäten oder auch der Dinge in einem interaktiven Netzwerk von Akteur*innen betont, oder auch der neo-materialistische Ansatz Karen Barads der Intra-Aktion, der die wechselseitige Hervorbringung miteinander verschränkter Agenzien herausstellt, aus denen sich prozesshaft Materie performiert und damit auch erst materialisiert, zur Ansicht gebracht. Die installative Collage auf der Bühne, bestehend aus hunderten Einzelteile, über Licht bedeutungsvoll als Reliquien ins Szene gesetzt, sind daher bereits Mitspieler. Damit liegt schon in der Installation das Performative, schon bevor Cohen die Bühne betritt.
Cohen wird sich über etwa 60 Minuten in langsamen und würdevollen Schritten, manchmal hilflos, manchmal ungleichgewichtig, durch diese intra-performative Installation bewegen. Sein weißer Körper wird in weißen Corsagen oder kunstvollen Art déco-Kleidern gezwängt sein. Er wird sich auf glitzernden, überhohen High Heels, in Spitzentechnik bewegen, deren Absätze anfänglich Kindersärge sein werden. Verlängerte Unterarmgehstützen werden ihm dabei behilflich sein, mit den Kindersärgen unter seinen Füßen über den drapierten Spitzenschuhen zu balancieren und die Installation zu durchschreiten. Die vier Grammophone werden durch eine Kurbel von ihm aktiviert, an seinen Körper geschnallt über die Bühne getragen und damit zu tanzenden Lautsprechern. Er wird als Trauerritual die Kerzen entzünden, ein Gebet flüstern, mit einer Kamera eine Schatulle inspizieren, aber auch seinen weiß geschminkten und mit Ornamenten geschmückten Körper, seine glitzernden Augen und seine kunstvoll nachgezogenen Lippen, um mit der Kamera dann auch in seinen Rachen zu gleiten. Er wird über das „Theater als Tempel“ referieren, aus der Schatulle einen Löffel Asche seines 2016 verstorbenen Partners Elu Johann Kieser zu sich nehmen und aus einem Kelch trinken. Dazu wird leise Leonard Cohen singen. Und er wird sich über die auf der Rückwand projizierten Videos selbst begegnen, in einem Palmengarten, aus „Muttererde“ auftauchend, in einem Schlachthof: Hier wird das Publikum die Tötung von Rindern sehen, Cohen wird sich in seinem weißen Spitzentutu unter die bluttropfenden, langsam sterbenden Rinderkörper legen, er wird seinen weißen Körper mit dem roten Rinderblut waschen. Im Schlachthof angestellte People of Color werden sich wundern und 17 Zuschauer*innen werden sich diesen Bildern entziehen. Damit wird die performative Installation, durch Cohen als Médiateur performiert, kinematografisch angereichert.
Cohen bzw. sein kreierter Archetypus wird dem Publikum (s)ein geheimnisvolles, phantastisches (oder auch phantasmatisches), verschlüsseltes Universum für einen Moment öffnen: ein Universum, das mit Symbolen, Metaphern, Chiffren und Zeichen ausgestattet ist, das mit Ritualen, Licht, Sound, Bewegungen, Weihrauch und künstlichem Nebel als geheimnisvoll und intim inszeniert wird, das aber auch ohne die Hermeneutik als Methode zugänglich und attraktiv ist: Wie Alice im Wunderland durchschreitet und zelebriert Cohens Kunstfigur eine Kapelle der Schmerzen – Schmerzen, die durch Tod, Verlust oder Misshandlung, durch körperliche Züchtigungen, Trauer oder Religionen, durch Nichtwissen, Angst und Liebe entstehen. Aber Cohens Kapelle tröstet über überwältigende Trauer hinweg: „Put your heart under your feet… and walk!“ Sein Universum lässt, obwohl übercodiert und chiffriert, Platz für eigene Projektionen. Bei Projektionen wird es bleiben, denn das Publikum wird die collagierte Bodeninstallation nach 60 Minuten nicht noch selbst durchwandern können. Die Kapelle bleibt damit ansichtige Zeremonie und Bild/Leinwand. Sie ist Elu gewidmet.
Auftakt der Performing Arts Season der Berliner Festspiele. Ein Panorama internationaler Tanz-, Theater- und Performanceaufführungen, 13.10.2023 bis 8.3.2024: https://www.berlinerfestspiele.de/performing-arts-season