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Bevor ohne Titel (10.000 Watt) zu einer installativen Lichtsäule wurde, war sie
- 10 Spiegelscheinwerfer, VEB NARVA „Rosa Luxemburg“ (Berliner Glühlampenwerk), 1.000 W, 24 V
- 10 Transformatoren, VEB Gerätebau Brieselang DDR, 24 V
- meterlanges, schwarz ummanteltes Stromkabel in verschiedenen Stärken
- 2 6-Kanal-Dimmer, Fa. Robert Juliat.
Ioannis Oriwol entdeckte die Einzelbestandteile während seiner ortsspezifischen Recherchen im ausgelagerten Fundus des Theaters Erfurt. Er wählte sie aus, deklarierte sie damit zu Objets trouvés, zu gefundenen Gegenständen, kunsthistorisch als Ready-mades genrefiziert. Er montierte sie zu einer vertikalen Säule, indem er die Spiegelschein-werfer in ihrem kreisrunden, industrie-ästhetischen Gehäuse paarweise anordnete und dafür ihre Leuchtflächen begegnen ließ, indem er Transformatoren einsetzte, damit diese den Strom in eine Niederspannung mit gleichzeitig entstehender höherer Stromstärke umwandeln konnten und indem er die Scheinwerfer und die Transformatoren durch Stromkabel miteinander verband. Aufgehängt in die Vertikale innerhalb eines modularen Gerüsts, unterteilt durch horizontale Streben, sollte diese Säule für drei Stunden am Abend des 5. Dezembers 2024 auf der Probebühne des Theaters Erfurt installiert sein und leuchten.
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ohne Titel (10.000 Watt) ist eine raumhohe Lichtsäule, montiert aus zehn 1.000 Watt-Spiegelscheinwerfern, deren massive Industriematerialität imponiert. Installiert auf der abgedunkelten Probebühne des Theaters Erfurt an einem Dezemberabend 2024 ist sie ein Geschenk von Ioannis Oriwol an das Theater für seine Freude an den im Fundus archivierten Objekten. Aus den schmalen Zwischenräumen der sich begegnenden Leuchtflächen der Scheinwerfer dringt gleißendes Licht. Wie an einem Tropf hängen die zehn Spiegelscheinwerfer an zehn Transformatoren, die auf dem Boden drapierten Stromkabel wirken wie überdimensionierte Schläuche, durch die die Infusionen transportiert werden. Hier sind die Infusionen elektrischer Strom, durch die Transformatoren in eine höhere Stromstärke umgewandelt. Die Lichtsäule brummt, sie wird durch fünf am Boden installierte LED-Scheinwerfer bernsteinfarben angestrahlt. Schatten des Gerüsts zeichnen sich an der Raumdecke ab. Die 10 mal 1.000 Watt stehen unter Strom, es steht uns ein starkenergetisches Modell mit hohem Stromverbrauch gegenüber. ohne Titel (10.000 Watt) irritiert: Wie ist es möglich, dass zehn aufgetürmte 1.000 Watt-Spiegelscheinwerfer in ihrer Materialität, Massivität und Stromintensität transluziert und poetisch wirken können? Mit Andacht stehen wir vor der Lichtsäule, umrunden sie in respektvollem Abstand, flüstern, bemerken unseren andächtigen Habitus, registrieren Pathos und Erhabenheit bei gleichzeitigerSkepsis. Damit wäre angesichts der technischen Ausgangsbestandteile nicht zu rechnen gewesen. Übersummativität bezeichnet die emergenten Eigenschaften eines Systems, die nicht auf seine Einzelelemente zurückzuführen sind.
Die Lichtsäule lockt, sie historisch zu deuten: als eine Technikgeschichte, die wohl während des 1. Weltkriegs mit der Erfindung der Spiegelscheinwerfer-Technologie startete, die während des 2. Weltkriegs als Militärtechnik ihren Einsatz fand und dann im Zivilbereich in verkleinerter Variante zum Beispiel als Theaterbühnentechnik eingesetzt wurde. Sie könnte aber auch als eine deutsch-deutsch-deutsch-deutsche Geschichte erzählt werden, von der Anwendung der Technologie im monarchischen Deutschland, später dann im nationalsozialistischen Deutschland über ihre Produktion in sozialistischen Fabriken in der DDR bis hin zu ihrer Wiederentdeckung 2024 im Fundus des Theaters Erfurt durch Oriwol im Rahmen seiner recherchenorientierten, ortsspezifischen und situativen Post-Studio-Practices. ohne Titel (10.000 Watt) könnte aber auch eine ökologische Geschichte von Energiege- und -verbrauch im 20. Jahrhundert, von fossilen Energieträgern und der Neuentdeckung von Nachhaltigkeit bis zur Dekarbonisierung erzählen. Oder sie könnten zu einer Geschichte des Ready-mades anregen, die kunsthistorisch uneindeutig ist: Startete sie mit Lautréamonts „Schön wie die Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Seziertisch“ 1874 oder war es Marcel Duchamp, der mit dem Fahrrad-Rad (1913), dem Flaschentrockner (1914) oder mit Fountain (1917) das Konzept des Ready-made begründete? Jüngst verwirrte Siri Hustvedt, als sie in ihrem Roman Damals zu dem „Kunstverbrechen“ ausführte, dass Fountain statt von Duchamp von Elsa von Freytag-Loringhoven geschaffen wurde, sie aber „aus der Geschichte herausgeschrieben [wurde]“. Und noch ein medientheoretisches Deutungsangebot: The Sublime Is Now proklamierte Barnett Newman 1948 mit Blick auf seine monochromen und großformatigen Farbfeldmalereien, später entstand Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue. Kunst- und medienhistorisch ist es inspirierend, ohne Titel (10.000 Watt) als eine Fort-, Über- und Versetzung von Themen wie Erhabenheit und Pathos oder von Gattungen wie raumgreifende Öl- oder Acrylbilder, diesmal aber mit anderen Medien zu lesen – und dazu gehören bei ohne Titel (10.000 Watt) ohne Frage auch die installativen, performativen und theatralen Dimensionen der Lichtsäule.
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Nach ihrer Präsentation und Ausstellung am Abend des 5. Dezembers 2024 auf der Probebühne des Theaters Erfurt wurde ohne Titel (10.000 Watt) in ihre Einzelteile demontiert. Spiegelscheinwerfer, Transformatoren, Stromkabel und Dimmer waren und sind im Eigentum des Theaters Erfurt, sie kehren in den Fundus des Theaters Erfurt zurück. Die Objets trouvés werden damit erneut zu unmarkierten und unausgewählten Gegenständen, die vielleicht auf ihre nächste Wiederentdeckung warten …
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