Der Dramaturg und Intendant Matthias Lilienthal formulierte 2010 in der Akademie der Künste, für ihn sei Theater, wenn Menschen davorstünden und glaubten, es sei Theater. Friedman im Gespräch mit Barrie Kosky und Christian Schertz zum Thema Kunstfreiheit lässt das Dargebotene in diesem Sinn auch als ein Theaterstück einordnen.
Am 13.06.2024 wurde Friedman im Gespräch mit Barrie Kosky und Christian Schertz zum Thema Kunstfreiheit im Großen Haus des Berliner Ensembles uraufgeführt. Bei diesem Stück sitzt der Gastgeber Michel Friedman (gespielt von Michel Friedman) in der Mitte der Bühne auf einem Sesselstuhl und ist als Einziger frontal zum Publikum ausgerichtet. Die beiden Gesprächspartner, Christian Schertz in der Rolle des Medienanwalts Christian Schertz und Barrie Kosky in der Rolle des Opern- und Theaterregisseurs sowie ehemaligen Intendanten der Berliner Komischen OperBarrie Kosky, sitzen im rechten Winkel zu ihm und richten ihren Blick dadurch zumeist vom Publikum abgewendet in Richtung Friedman aus. Am Ende des knapp 90-minütigen Einakters erheben sich die drei Darsteller und stehen dem Publikum zugewandt zwischen den Sesselstühlen und der Bühnenrampe. Das Publikum applaudiert. Kosky und Scherz stehen für diesen Applaus auf gleicher Höhe wenige Schritte vor der Rampe, Friedman etwas dahinter zwischen ihnen. Näherungsweise verneigen sich Kosky und Schertz, Friedman breitet seine Arme aus. Fragen oder Anmerkungen aus dem Publikum sind in einem One-to-many-Format nicht eingeplant. Ob es weitere Aufführungen geben wird, ist nicht bekannt. Soweit zum theatralen Setting dieses prozessualen Theaterstücks und der hier aufgerufenen Theaternomenklatur.
Auch wenn, wie in diesem Rahmen zu erwarten war, nicht alle aktuellen Fragen um das Thema Kunstfreiheit thematisiert oder sogar beantwortet wurden, war der Abend ein interessanter Auftakt, ein paar blinde Flecke deutscher Gegenwartsauseinandersetzungen anzugehen bzw. den medial und politisch dargebotenen Ver(w)irrungen im- und explizit etwas zu entgegnen. Fortsetzungen sind daher auch in anderer Personenkonstellation erwünscht.
Einiges blieb dennoch unscharf oder auch unpräzise oder hatte – wie etwa die Passagen über geforderte Wortbereinigungen bei Pippi Langstrumpf oder Karl May – mit der Kunstfreiheit nicht direkt zu tun. Denn hierbei geht es um aus heutiger Sicht kritisierbare Textpassagen im Konflikt mit den Wünschen von zumeist Rechtsnachfolger:innen, ihre bisher bestehenden Auswertungsmaschinen fortbestehen zu lassen.
Zwar ist sowohl der Werkbereich als auch der Wirkbereich künstlerischen Schaffens durch Art. 5 Abs. 3 GG geschützt, wie das Bundesverfassungsgericht 2019 verdeutlichte (1 BvR 1738/16). Künstler:innen steht aber kein Recht zu, in einem bestimmten Medium, auf einem bestimmten Sendeplatz oder in einer bestimmten Ausstellung gezeigt, gehört oder präsentiert zu werden. Sollte den Rechteinhaber:innen die Bearbeitung eines historischen Werkes also missfallen oder sogar testamentarisch untersagt worden sein, darf das Werk dennoch in seiner bisherigen Form fortbestehen und auch dargeboten werden. Wenn aber zum Beispiel ein TV-Sender eine nicht überarbeitete Ausstrahlung ablehnt, können die Rechteinhaber:innen andere Verbreitungsformen für das Original suchen. Genauso wenig, wie die Verbreitung eines Kunstwerkes der bildenden Kunst im Rahmen einer bestimmten Ausstellung verlangt werden kann, haben Radio- und Fernsehsender das Recht, ihre Inhalte weitgehend selbst auszuwählen. Dies gewährleistet Art. 5 Abs. 1 GG. Die Kunstfreiheit wird hier genauso wenig eingeschränkt, wie Werke durch ihre Nichtberücksichtigung eingeschränkt worden sind, die zur Zeit der Entscheidung von Fernsehsendern für das Ausstrahlen von Pippi Langstrumpf, von Winnetou und Old Shatterhand nicht zum Zuge gekommen sind.
Christian Schertz plädierte entschieden für eine Trennung von Autor und Werk, wie er am Beispiel von Richard Wagner oder Michael Jackson und deren musikalischen Werken festzumachen suchte. Ein Rausschneiden einzelner Sequenzen wäre aus seiner Sicht in keiner künstlerischen Gattung angebracht, weder in bildenden oder darstellenden noch satirischen Kunstformen.
Still wurde es im Saal, als Friedman überleitete: „Gut, dann sind wir bei der documenta, dann schauen wir uns das eine Bild an [Anm.: Gemeint war wohl das Bild People’s Justice von Taring Padi] …und dann schneide ich diese zwei, drei Teile raus?“ Schertz, der sich zu dem Bild an diesem Abend nicht final äußern wollte, weil er den documenta-Fall zu wenig kenne, fügte an, dass ein Rausschneiden für ihn nicht in Frage käme. Man hätte aber sagen müssen, dass dieses Bild nicht gezeigt würde. Ob man dann aber das Ganze abbauen und weghängen muss, weil es in Teilen bestimmte Bevölkerungsgruppen verletze, schätzte er im Sinne einer Bilderstürmerei als schwierig ein.
Barrie Kosky wies in diesem Zusammenhang auf die problematische, tief widersprüchliche und komplexe Geschichte Deutschlands mit den Juden und Jüdinnen hin. Das Thema würde ihn nicht nur bereits sein gesamtes Leben beschäftigen, sondern für ihn auch nie enden.
Er hätte das inkriminierte Bild vor Ort gesehen und sei, wie er formulierte, „ein bisschen unbequem“ damit. Wenn aber in Deutschland irgendetwas mit Kultur verboten werden soll, erfasse ihn immer „ein Zittern“. Wäre er documenta-Intendant gewesen, hätte er erstens vor allem kein schwarzes Tuch über das Bild gehängt und wäre er zweitens mit den Menschen in einen konstruktiven Dialog eingetreten. Es darf nicht heißen: „Du blöder, furchtbarer, indonesischer, muslimischer Künstler, geh zurück nach Jakarta, geh raus aus unserem Land.“ Geradezu lächerlich war für Kosky die Debatte, weil in Kassel parallel in einem Museum eine Porzellan-Figur, die eine antisemitische Repräsentation darstellt, völlig ohne Kontextualisierung gezeigt wurde und niemand darüber sprach.
Auf die Mohammed-Karikaturen angesprochen, wies Schertz darauf hin, dass Satire dann einschränkbar ist, wenn sie einen anderen Menschen in seiner Menschenwürde verletzt. Die Karikaturen waren demnach zulässig, weil sie keinen konkreten Menschen verletzt haben. Implizit trug Schertz damit auch eine Antwort auf die Frage bei, ob die Arbeit von Taring Padi auf dem Friedrichsplatz in Kassel von der Kunstfreiheit geschützt ist. Diese Einschätzung verstärkte Schertz über Bande noch einmal, als er darauf aufmerksam machte, dass die Kunst viel mehr als alle anderen dürfe, auch viel mehr als die Bild-Zeitung.
Wenn nämlich Zeitungen das inkriminierte Bild abdruckten, um zur Berichterstattung über Zeitgeschehnisse beizutragen oder um zuweilen auch ihre Empörungen zu veranschaulichen, dann ließe sich ergänzen: Was im Rahmen der Meinungs- und Pressefreiheit zu zeigen erlaubt ist, ist es im Rahmen der Kunstfreiheit allemal.
Wo genau Christian Schertz, als einer der zwei Juristen in der Runde, die Grenzen für die Kunst sieht, wurde nicht ganz deutlich und ließ sich auch durch eine anschließende Nachfrage per Mail nicht aufklären. Zunächst merkte er an: „Die Kunstfreiheit wird begrenzt durch die Rechte des Individums, durch die Menschenwürde.“ Und etwas später: „Wenn ein Kunstwerk im Einzelfall aufgrund der konkreten Gestaltung entweder die Würde eines bestimmten Menschen verletzt, wo die Menschenwürde überwiegt oder auch Straftaten erfüllt sind, die etwa den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen, dann darf es ausnahmsweise verboten werden.“
Empirisch mag dies so einzuordnen sein, wie verschiedene Verfahren in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gezeigt haben. Wie die Entscheidung zum Werk Esra von 2003 zeigt, sind gleichwohl auch hier wiederum enge Grenzen für die Menschenwürde zu berücksichtigen. Rechtsdogmatisch könnten aber wohl auch andere Verfassungsnormen, mindestens die Grundrechte in Konkurrenz zur Kunstfreiheit treten.
Boykott-Aufrufe gegenüber Künstler:innen, zum einen durch die BDS-Bewegung, zum anderen gegenüber in Russland lebenden oder aus Russland stammenden Künstler:innen, die sich nicht offen von etwas distanzieren oder für etwas aussprechen, sahen sowohl Kosky als auch Schertz problematisch. Kosky machte hier auf die besondere Rolle von Kunst aufmerksam.
Auch wenn das Theaterstück in seiner Inszenierung unvollständige Passagen trug oder wie Kosky an anderer Stelle anmerkte, sich das Publikum vielleicht mit manchem unwohl oder unbequem fühlen könnte: Es war in dieser Zeit richtig, es zur Aufführung zu bringen. Vielleicht ließen sich künftig aber auch ein paar Fesseln des Theaters neu interpretieren.
Zu Tania Brugueras „Where Your Ideas Become Civic Actions (100 Hours Reading The Origins of Totalitarianism“ in einer Berliner Kunstinstitution.
Der Ausstellungsflyer trägt eine goldgelbe Vintage Patina. Auf einem Foto sitzt Tania Bruguera in einem korbgeflochtenen Schaukelstuhl, inmitten eines Lichtkegels, sie hält in der linken Hand ein Mikrofon mit angeschlossenem Kabel, das nach links aus dem Bild führt. In einer Detailaufnahme ist das Mikrofonkabel in den Fokus genommen, in einer anderen sind notdürftig gekittete Wandrisse angedeutet. Die Patina erzählt, dass die hier porträtierte Szene aus einer Zeit stammt, in der die gesundheitsschädlichen, chemisch hergestellten Daguerreotypien Goldtonungen hervorbrachten. Dabei fand sie vor knapp neun Jahren, Ende Mai 2015, in Havanna statt, zeitgleich mit der Eröffnung der 12. Havanna Biennale und der Gründungsfeier der Republik Kuba. Bruguera stand unter Hausarrest und wartete auf die Rückgabe ihres Passes, der ihr auf dem Weg zu einer ihrer Performances im öffentlichen Raum Havannas Ende Dezember 2014 abgenommen wurde. Sie wurde wegen Widerstand gegen die Festnahme und Anstiftung zu öffentlichem Fehlverhalten und Kriminalität angeklagt.
Während ihres insgesamt acht monatigen Hausarrests initiierte Bruguera im Mai 2015 eine 100-stündige öffentliche kollektive Lesung von „The Origins of Totalitarianism“ von Hannah Arendt, das als Arendts politisches Hauptwerk gilt. 1955 unter dem Titel „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ auf Deutsch erschienen, führt Ahrendt hierin zu der historischen Entstehung und den gemeinsamen politischen Merkmalen von Nationalsozialismus und Stalinismus aus. Es gilt als Standardwerk der Totalitarismusforschung, dessen Lesung vor neun Jahren durch Bruguera mit ihrer mehrstündiger Festnahme endete, bevor sie im Juni 2015 erneut verhaftet wurde, als sie an einer Demonstration teilnahm. Bruguera setzt damit Arendts Totalitarismusstudie und ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen in Kuba in eins, Ursachen und Folgen gehen ineinander über: sie liest gegen den Totalitarismus in Kuba an, der Totalitarismus Kubas schlägt zu, weil sie liest.
Knapp neun Jahre später liest Bruguera aus Arendts Werk in der historischen Halle des Hamburger Bahnhofs in Berlin. Für 100* ununterbrochene* Stunden vom 7.2.24, 19 Uhr bis 11.2.24, 23 Uhr* liest sie und lesen Aktivist:innen, Theoretiker:innen, Autor:innen, Schauspieler*innen, unter ihnen Masha Gessen, Juliane Rebentisch, Jörg Heiser, Stefan Römer und Thomas Lindenberger, Direktor des Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (an der TU Dresden). Im Stundentakt übergeben sie sich das Mikrofon mit angeschlossenem Kabel, das nach links aus dem Bild führt, sie sitzen in einem korbgeflochtenen Schaukelstuhl, inmitten eines Lichtkegels. Vor ihnen sitzen Zuhörer:innen, die rund um die Uhr, ohne Anmeldung und kostenfrei an der Performance teilnehmen können, die nun „Where Your Ideas Become Civic Actions (100 Hours Reading The Origins of Totalitarianism“ heisst. Im Eingangsbereich informiert ein unübersehbarer „Verhaltenskodex“, dass sich hier mit Toleranz und gegenseitigem Respekt begegnet wird. Hier würde sich gegen jede Form von Hass und Diskriminierung etwa in Form von Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit ausgesprochen.
Brugueras Reenactment ihrer Lesung in ihrem Wohnhaus in Havanna findet nun als eine Performance in einer Berliner Kunstinstitution statt. Sie wieder-holt wesentlich konstitutive Elemente, selbst der Lautsprecher, der in Havana ausserhalb des Gebäudes installiert war, ist hier an der Invalidenstraße positioniert und sendet die Lesung in den Berliner Raum. Auf die weiße Taube wurde verzichtet, die schon bei Brugueras früheren Performances wie „Tatlin’s Whisper #6 (Havana Version)“ 2009 eingesetzt wurde. Sie zitiert die Tauben, die Fidel Castro während seiner erster Rede 1959 nach der Kubanischen Revolutionumflatterten. Doch das Reenactment suspendiert noch einiges mehr und zahlt damit einen hohen Preis: Statt das Werk Arendts zu entverschließen, verhinderte die Akustik der Halle und die Mediatisierung der Stimmen durch das Mikrofon genau dieses Anliegen. Statt eine gemeinsame Situation des „Nachdenkens und Redens“ (Zitat aus dem Ausstellungsflyer) zu kreieren, saßen die sich abwechselnd Lesenden frontal, vereinzelt und vereinsamt dem Publikum gegenüber. Statt eine „Pluralität von Perspektiven und Welten“ (Zitat aus dem Ausstellungsflyer) zu generieren, wurde eine One-to-Many-Kommunikation hergestellt, die Pluralität einhegte. Statt „die Aktualität von Arendts Analysen von Totalitarismus, Antisemitismus, Vertreibung und Staatenlosigkeit“ (Zitat aus dem Ausstellungsflyer) auf eine Öffentlichkeit treffen zu lassen oder eine Öffentlichkeit zu generieren, verschloss die Institution Kunstmuseum performativ und verengte zu einer Milieubegegnung. Auf ästhetischer, politischer und erkenntnistheoretischer Ebene fanden damit Verluste statt.
Im Gegenzug dazu wurde die Lesung als reenactete Performance nun in den kunsthistorischen Kanon aufgenommen beziehungsweise ihre Anwesenheit im Kanon verbrieft. Sie wurde mit einem Titel ausgestattet, der an Harald Szeemans legendären „When Attitudes Become Form“ (1969 in Basel) anschließt. Sie fand in einer westeuropäischen Kunstinstitution statt, die Teil der Staatlichen Museen zu Berlin ist und an der öffentliche und institutionalisierte Personen des Kunstbetriebs teilnahmen. Und sie wurde genrefiziert mit der Gattung sowohl der Performance als auch des künstlerischen Reenactments. Damit wird, und das ist ein wichtiger Gewinn dieses Mediatisierungs- und Institutionalisierungsprozesses, Brugueras Arbeit fortgesetzt legitimiert und geschützt*. Schon auf der documenta 15 wurden (kunst-) institutionalisierende Maßnahmen eingesetzt, als Bruguera und INSTAR in der documenta-Halle eine Gegenerzählung zur offiziellen kubanischen Kultur- und Kunstgeschichte erzählten, mit der sie von der kubanischen Regierung zensierte Künstler:innen und Intellektuelle Gehör verschafften. Hierfür wurden viele kubanische Kolleg:innen nach Deutschland eingeladen, einige von ihnen sagten ab, aus Sorge, nicht nach Kuba zurückkehren zu dürfen.
Die Kunstinstitution wird so zu einem Ort des Schutzes* und einer infrastrukturellen Ermöglichungsbedingung* für zivilgesellschaftliche Gemeinsamkeiten*, zu einem Raum des kollektiven und kunsthistorischen Gedächtnisses und ein Öffentlichkeitstool für Gegenerzählungen. Gleichzeitig gelingt aber auch der Kunstinstitution mit diesem Reenactment, ihre Ablehnung von Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit zu bekunden – eine Haltung, die spätestens seit der documenta 15 zunehmend in Zweifel gezogen wird und in der Berliner Antisemitismusklausel mündete. Aber das wäre eine andere Geschichte – oder doch nicht* …?
C’est une embassade. Ceci n’est pas une embassade.
Für zwei Stunden entstand auf der großen Bühne des Berliner Festspielhauses die Botschaft Taiwans. Die Musikerin Debby Szu-Ya Wang, die Digitalaktivistin Chiayo Kuo und der ehemalige Diplomat David Chienkuo Wu – alle drei auf ihre je eigene Art Botschafter*innen ihres Landes – riefen mit ihrer Performance und damit mit einer performativen Äußerung auf der Theaterbühne im Schutz der Kunstfreiheit die von ihnen vermisste diplomatische Vertretung ihres Heimatlandes in Deutschland aus. Nicht nur hier würde eine Botschaft fehlen, in nur zwölf Ländern würden Taiwans diplomatische Vertretungen den Status einer Botschaft haben, in Europa nur in Vatikanstadt – und das, obwohl Taiwan zu den zwanzig größten Wirtschaftsregionen der Welt zähle. Aber keine Nation könne es sich leisten, die Beziehungen zur Wirtschaftsmacht China zu gefährden. Selbst seinen Sitz in den Vereinten Nationen musste Taiwan 1971 aufgeben, als der US-amerikanische Präsident Richard Nixon entschied, die politischen Beziehungen zu China zu intensivieren. Auch bei den Olympischen Spielen tritt Taiwan seit 1984 unter dem Namen Chinesisch Taipeh an und darf auf den Zeremonien weder seine Flagge zeigen, noch darf die Nationalhymne gespielt werden. Seither kämpft Taiwan um diplomatische Anerkennung und damit auch um seine politische Repräsentanz.
Diese wurde nun an drei Abenden im Berliner Festspielhaus temporär performiert: unter anderem mit der Flagge Taiwans und einem am Bühnenhaus fixierten goldglänzenden Messingschild ausgewiesen, mit der Nationalhymne in Karaokeversion zu Gehör gebracht und mit dem Publikum als Besucher*innen eines Botschaftsempfangs in Szene gesetzt. Hierbei handelte es sich um die Bestandteile, die in performativer Funktion einen konkreten Handlungsvollzug von Botschaft als Botschaft praktizierten – und dies in doppelt semantischem Sinne: Hier wurde nicht nur eine Botschaft (als embassy) performiert, hier wurde auch eine Botschaft (als message) kundgetan. „Bitte vergesst uns nicht!“ Performative Äußerungen vollziehen die Wirklichkeit, die sie beschreiben, selbst mit – und bringen sie so erst hervor. Diese Äußerungen tun durch die Äußerung selbst etwas; etwas, das nicht wahr oder falsch ist, sondern das glücken kann oder eben nicht (J.L. Austin 1986: Performative Äusserungen). „Dies ist keine Botschaft (Made in Taiwan)“ ist geglückt.
Die Theaterbühne und das künstlerische Format der Performance konnte das Defizit fehlender Repräsentanz für zwei Stunden aufheben: Mit Mitteln der erzählerischen und bildlichen Montage und Collage entstand im ausverkauften Haus der Berliner Festspiele eine Erzählung Taiwans, die historische, politische, soziale und wirtschaftliche Dimensionen des Landes mit persönlichen Biografien verwob. Debby Szu-Ya Wang, Chiayo Kuo und David Chienkuo Wu erzählten von sich, ihren Lebenswegen und Familien. Sie verknüpften ihre mikropolitischen Geschichten mit soziopolitischen Ereignissen Taiwans, etwa mit der Gründung Taiwans durch Rückzug der Unterlegenen der Kommunistischen Partei aus der Volksrepublik China 1949, mit dem Personenkult um den Gründer Chiang Kai-shek und der Ende der 1980er Jahre beginnenden Demokratisierung. Sie erzählten von sozioökonomischen Entwicklungen als Halbleiterproduzent oder als Bubble-Tea-Erfinder, von Landesbezeichnungsdebatten (Taiwan vs. Republik China), von Religions- und Sprachenvielfalt der Inseln. Die umstrittene völkerrechtliche Stellung Taiwans würde sich in den tektonischen Erschütterungen zwischen unterschiedlichen Politiksystemen wiederfinden, aber auch durch Taiwans geologische Lage innerhalb des pazifischen Feuerrings, die immer wieder zu starken Erdbeben führen.
Die sprachlichen Erzählungen wurden zusätzlich ins Bild gesetzt: mittels Miniaturmodellen von Architekturen und Personen, die wiederum durch Videoprojektionen auf der Bühne großformatig sichtbar gemacht wurden, mittels auf der Bühne von Debby produzierter Klänge und Kompositionen, aber auch mittels projizierter Privatfotografien von Debby, Chiayo und David. Selbst ihr performiertes Demokratiekonzept machten sie ansichtig: Konträre Einschätzungen ihrer jeweilig erzählten Perspektiven wurden durch Widerspruchsschilder kommentiert: „I disagree“, hieß es durch Chiayo, wenn David von einer Wiedervereinigung mit dem Festland China schwärmte oder durch David, wenn Chiayo den Staatsgründer Chiang Kai-shek als Militärdiktator bezeichnete.
Dass es sich bei den Berliner Festspielen um eine direkt vom Bund getragene und finanzierte Einrichtung handelt, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien als Aufsichtsratsvorsitzende zumindest geschäftlich unmittelbare Vorgesetzte des Intendanten des Hauses ist, reicherte die Doppelbödigkeit, dass hier keine Botschaft performiert würde, obwohl hier eine Botschaft i.S. einer embassy und einer message performiert wurde, um eine nächste, um eine politisch-infrastrukturelle Bedeutungsebene an. Im Zeichen der Kunstfreiheit und mit der Kraft der performativen Äußerung wurde die künstlerische Performance zu einer politischen, das Theater temporär zu einer „Bühne der Weltpolitik“. Im Gewirr der Mehrfachbedeutungskonstruktionen und -zuschreibungen konnten daraufhin im Publikum unter den Gästen des performierten Botschaftsempfangs auch die aktuelle Aussenministerin und der CEO der Volkswagen AG ausfindig gemacht werden. Somit fand auch das Publikum inmitten von Struktur, Zeichen und Spiel (Derrida 1972) seine Rolle/n und ließ sich auf das Spiel zwischen Abwesenheit und Präsenz des Zeichens ein.
Zum Ende des Abends blinkte auf der Rückseite des Bühnenhauses ein taiwanesisches Schriftzeichen, eine Kombination von ‚Nation‘ und ‚vielleicht‘, von ‚nation‘ und ‚maybe‘: Das Schriftzeichen wurde als Leuchtzeichen nur in einen der beiden Zustände versetzt: entweder als ‚Nation‘ oder als ‚vielleicht‘. Dabei belegte „Dies ist keine Botschaft (Made in Taiwan)“ in just dem Moment des Vollzugs, dass mehrere Zustände gleichzeitig funktionieren, sowohl eine Botschaft zu sein, als auch keine, sowohl eine Botschaft zu haben, als auch keine. Das goldglänzende Messingschild wurde nach zwei Stunden, unter großem Applaus des Publikums für die drei Erzähler*innen des Abends und „Experten des Alltags“, demontiert.
24., 26., 27.01.2024, Uraufführung Haus der Berliner Festspiele, Große Bühne
Eine Produktion von Théâtre Vidy-Lausanne und National Theater & Concert Hall Taipei in Koproduktion mit Rimini Apparat, Berliner Festspiele, Volkstheater Wien, Centro Dramático Nacional Madrid, Zürcher Theater Spektakel, Festival d’Automne à Paris, National Theatre Drama / Prague Crossroads Festival mit Unterstützung von Centre Culturel de Taiwan à Paris und Prix Tremplin Leenaards / La Manufacture.
„The Great Repair“ in der Akademie der Künste Berlin, 14.10.2023 bis 14.1.2024
Der Ausstellungsparcour begann unerwartet: Statt die imposante freistehende Haupttreppe zu den Ausstellungsräumen innerhalb des Kubus (errichtet 1960, projektiert von Werner Düttmann) zu nehmen, wurden die Besucher*innen zu einer erstmalig geöffneten, zweiflügeligen Funktionstür geführt, die sonst durch die Tische des Cafés Düttmann verstellt ist. Dieser Para-flow führte durch einen Funktionstrakt, quasi durch einen Teil des Maschinenraums der Akademie der Künste am Hanseatenweg, der Öffentlichkeit ansonsten nicht zugänglich.
Neben ersten Fotografien zielte der Aufschlag in diesem Nebentrakt auf eine Serie architektonischer Interventionen, mit denen der Düttmannbau selbst zum Objekt der Ausstellung wurde. An der ungedämmten Außenwand zeigten sich, so informierte eine unscheinbare A4-formatige Tafel in der Typo des Ausstellungsprojektes, „bauphysikalische Vorgänge: Die in der Wand kondensierende Luftfeuchtigkeit trifft auf die Wärme des Heizkörpers und die Luftzirkulation zwischen Heizkörper und Fenster. Das führt zu kleinen Spannungsrissen an der Wandoberfläche“. Hierbei handelte es sich um eine von neun Tafeln, verteilt im gesamten Ausstellungsraum, die Auskunft zu Analyse- und Interventionsanmerkungen des Architekturbüros Brenne gaben, das zwischen 2009 und 2012 die Renovation der Akademie der Künste verantwortete. Für diesen konkreten Fall wurde vorgeschlagen: „Um den sichtbaren Schaden zu beheben, müssten die lose Farbe abgeklopft, die Risse mit einem dampfdurchlässigen Putz ausgebessert und eine Ausgleichsschicht aufgetragen werden.“ Und weiter: „Eine langfristige Lösung würde eine energetische Bilanzierung der Bauteile im Gesamtgefüge erfordern, die Aufschluss über bauphysikalische Zusammenhänge gibt.“
Einen besseren Auftakt hätte das Ausstellungsprojekt nicht setzen können, um den Vorgang des „Reparierens“, so das Thema der Ausstellung in dem Blick zu nehmen, indem es erstens den Vorgang des „Reparierens“ selbst thematisierte und zweitens in optische, repräsentative, punktuelle Ausbesserungen einerseits und grundlegende, substanzielle, systemische Reparaturen andererseits differenzierte. Damit signalisierten diese interventionistischen Tafeln in Kombination mit einem abgleichenden Blick in situ, dass Reparaturen offenbar ortsspezifisch, kontextuell, prozessual, personenabhängig, mehrdimensional ausfallen, dass immer auch mehr als eine Lösung möglich ist und dass sie mit Entscheidungen zusammenhängen, die getroffen werden können bzw. müssen.
Dieser Auftakt wurde im großen Saal der Akademie mit zwei Arbeiten aus der Kunst flankiert: Rechter Hand das „Maintenance Manifesto“ der New Yorker Konzeptkünstlerin Mierle Laderman Ukeles, in dem sie sich 1969 dafür ausgesprochen hat, tägliche Alltags- und Pflegehandlungen, Wartungs- und Sorgearbeit als Teil ihrer Kunst und damit als Kunst anzuerkennen: „Now I will simply do these maintenance everyday things, and flush them up to consciousness, exhibit thema, as Art.“ Linker Hand war die Arbeit von Zara Pfeifer zu sehen, die im Auftrag von „The Great Repair“ die Arbeitsutensilien der Reinigungsfirma ausstellt, die für die Pflege der Akademie der Künste zuständig ist. Ukeles bedankte sich im Rahmen ihrer Arbeit „Touch Sanitation“ zwischen 1979 bis 1980 bei der städtischen Müllabfuhr von New York, indem sie jeden einzelnem Arbeiter mit Dank die Hand schüttelte – Pfeifer zeigte mit „Maintaining the Akademie der Künste“ installativ die Pflegearbeit der Firma „Kleine Reinigungs- und Dienstleistungsgesellschaft“ und nannte es „Verkörpertes Wissen“. Damit endete aber auch schon der interventionistische, ortsspezifische und situative Bezug zur AdK.
Im Verlauf der Ausstellung in den drei Hallen der Akademie folgten nun 40 Einzelpositionen aus Kunst und Architektur, die das Thema „Repair“ anfassbar und als neues Gestaltungsparadigma greifbar machen sollten – Positionen, die allerdings zum Teil auch in anderen Themenzusammenhängen, wie zum Beispiel im Rahmen ökologisierender Mikropraktiken hätten gezeigt werden können. Thematisch handelte es sich – hier eine Auswahl – um die Pflege und Reparatur von Stahlbeton, um liebevoll reparierte Stühle, um eine kontinuierliche Haussanierung in Tokio zeitgleich zu dessen Weiternutzung und einer Familiengründung, um akustische Vogelscheuchen im Westjordanland, die Wildschweine von Ernten fernhalten sollen, um Müllsammelaktionen am Atitlán-See in Guatemala, um Protestaktivitäten im Rheinischen Revier, der Region um den Tagebau Hambach gegen die Kommerzialisierung von erneuerbaren Energien durch RWE, um das selbstständige Herstellen und Montieren von Schildern, die das Territorium Maraiwatsédé in Brasilien als zu schützendes Land ausweisen oder um das Vernähen von abgetragenen Saris und Lungis zu mehrlagigen Decken in Bangladesch. Ein 21-minütiges Video informierte über die Bombardierung des Theaters von Mariupol durch russische Flugzeuge im März 2022, die Forensic Architecture mittels Zeugenaussagen, Social-Media-Posts, Videos und Fotografien als Kriegsverbrechen dokumentierte. Diese Dokumentation kann als Beweismittel vor internationalen Gerichten oder als Quelle für dessen Rekonstruktion dienen. Unterteilt waren die künstlerischen, architektonischen und aktionistischen Beiträge in Einzelkapitel wie „Mit dem Alltag beginnen“, „Wissenswelten dekolonisieren“, „Werkzeuge für alle“ und „Die Narben sichtbar lassen“.
Der finale Saal der Akademie, in denen die Besucher*innen durch einen neu installierten Bypass über den bepflanzten Innenhof gelangten, diente der Frage nach den Praktiken und Instrumenten im Dienste der Reparatur: Wie kann die Architektur selbst, ihre Lehre und Autor*inschaft, ihre Hochschulen, Büros und Baustellen transformiert werden? Hierzu informierten unter anderem ein Reparatur-Kurs, ein globales Moratorium, mit dem das Bauen gänzlich ausgesetzt würde, die Gründung der Grassroot-Gewerkschaft UVW-SAW für Architekturschaffende in Großbritannien und abschließend ein „Demolition Moratorium“, das den Erhalt oder Umbau aller Gebäude und zwar erst nach einer erfolgreichen sozioökologischen Bewertung auf der Grundlage des Gemeinwohls forderte.
Für die gezeigten Raumpraktiken wirkte der Titel unpassend verhoben. Warum eine neue Epoche, eine große Erzählung ausrufen, wenn es sich um bereits existierende, aber eben minoritär behandelte Praktiken handelt, die entdeckt, praktiziert, gewertschätzt werden und zirkulieren müssen? „The Great Repair“ erinnert an „The Great Reset“, der Initiative des Weltwirtschaftsforums (WEF), die plante, die Weltwirtschaft und die Weltgesellschaft im Anschluss an die COVID-19-Pandemie neu zu gestalten. Vorläufer hierfür waren „The Great Transformation“ des Wirtschaftssoziologen Karl Polanyi von 1944, in dem er den Wandel der westlichen Gesellschaftsordnung im 19. und 20. Jahrhundert am historischen Beispiel Englands behandelte. Und so werden aktuelle Vorhaben in Superlativ-Logik „The Great Financialization“, „The Great Regression“, „The Great Reversal“ oder auch „The Great Acceleration“ genannt – eine Logik, der die hier versammelten Mikropolitiken und einer sensiblen, poetischen, praxeologischen und ausdifferenzierenden Auffaltung des Themas zuwiderlaufen. Warum nicht einfach „Reparieren!“, wie es im Vermittlungsprogramm der AdK in Form von wöchentlichen Workshops von Reparaturpraktiken praktiziert wurde? Die Dekonstruktion grundlegender Logikprozesse, etwa von Geschichte, Medien und Institutionen, wären hilfreich, um das Anliegen, einem neuen Gestaltungsparadigma Kraft zu verleihen, zu unterstützen.
Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Bundeszentrale für politische Bildung, die Hans Sauer Stiftung, die Wüstenrot Stiftung und Pro Helvetia.
Das Experimental Stipendienprogramm für junge Architekturforschende wird gefördert durch EXPERIMENTAL.
Künstlerische Leitung: Florian Hertweck, Christian Hiller, Markus Krieger, Alex Nehmer, Anh-Linh Ngo, Milica Topalovic
Die Zuschauer*innen versammelten sich pünktlich zu um 15 Uhr in der 1. Etage des Gropius-Baus. Da sich der Einlass verzögerte, konnten wir am Gelände der Rotunde stehend das palastähnliche Gebäude und dessen kubischen Baukörper, den Materialeinsatz und die Blickachsen registrieren. Wir konnten die anderen wartenden Zuschauer*innen beobachten, das Aufsichtspersonal des Gropius-Baus, die Routinen in der Einlasskontrolle, aber auch die Begrüßungsrituale und Übersprungshandlungen der Besucher*innen. Spätestens nach 10 Minuten wurde das Publikum etwas unruhig, ein Mitarbeiter verschwand in den verschlossenen Trakt Richtung Niederkirchnerstraße, kehrte zurück und schüttelte mit dem Kopf. Ließ Dana Michel uns warten? War sie nicht rechtzeitig vorbereitet? Gab es Schwierigkeiten? Es kam zu ersten verärgerten Blickkomplizenschaften und vereinzelten runzelnden Augenbraunen wegen der nicht eingehaltenen und verabredeten Zeitökonomien. Nach 20 Minuten öffnete sich die raumhohe Eingangstür, uns wurde empfohlen, uns entweder einen weißen Plastikstuhl links des Eingangs oder eine eingerollte Filzdecke rechts des Eingangs zu nehmen, mit denen sich die meisten der Besucher*innen in dem zentralen Raum platzierten und einrichteten. Hier würde wohl jetzt die Performance „MIKE“ stattfinden, zu der die Berliner Festspiele im Rahmen von „Performing Arts Seasons“ eingeladen hatten.
Doch auch hier und jetzt passierte scheinbar nichts Substantielles, irgendwann tauchte die Performerin auf, gekleidet in einem braunen Arbeitsanzug, darunter ein weißes Hemd und an den Füßen überlange weiße Strümpfe, mit denen sie auf dem Holzfussboden durch den Trakt rutschte. Es dauerte einige Zeit, bis sich das Publikum mit dem Timing und den Aufenthaltsorten von Dana Michels synchronisierte und die eigenen Präkonfigurationen, Zeit- und Bewegungsökonomien losließ. Für die kommenden zweieinhalb Stunden würden sich etwa 50 Besucher*innen zusammen mit Dana Michel die Räume und die Zeit teilen, sie würden gemeinsam staunen, sie würden Blicke nachvollziehen, Kontexte herstellen und Bewegungen bewundern, sie würden eine gemeinsame Gegenwart und eine gemeinsame Präsenz teilen – wenngleich die vierte Wand des Theaters sie trennen würde, die Dana Michel bis auf eine Ausnahme nicht durchschreiten würde.
Die fünf Räume, die der Live Performerin zur Verfügung standen, waren mit verschiedenen Gegenständen und Materialien ausgestattet, die von einem Gebäudemanagement oder einem Umzugsunternehmen verwendet werden könnten: Elektrokabel, eine rollende Stehleuchte, Papierrollen, ein Wasserspender, zwei Bürostühle, gefaltete Pappkartons, Lamellenrollos, Teppichreste, Kabelbinder, Abklebband, Filzdecken, rollende Kleiderständer, aber auch Handwerkszeug, das in weiße Socken gekleidet war und geometrisch angeordnet auf dem Boden lag. Fünf Einzelräume des Gropius-Baus auf einer Länge von etwa 60 Metern, die ansonsten für das Ausstellen von Bilder, Objekten und Installationen genutzt werden, sollten nun das Surrounding werden, in dem Dana Michel die Readymades ihres Readymade-Dasein entledigte, in dem sie das Surrounding und seine Parameter selbst thematisierte und in dem sie Intra-Aktionen herstellte: Zwischen ihrem Körper und einzelnen der aufgereihten Gegenstände entstanden Living Sculptures, wenn sie sich in gleichem Winkel neben die aufrecht stehenden Teppichrollen lehnte, wenn sie sich auf die Stühle setze und sich deren Formen anpasste, wenn sie sich vom Rotlicht der Stehleuchte bescheinen ließ, wenn sie sich auf den ausgerollten Papierrollen ausstreckte oder auf ihnen entlang rutschte, wenn sie in den Zwischenräumen von Bewegungen verblieb und diese dehnte, verzögerte oder perpetuierte.
Gleichzeitig entdeckte Dana Michel die Bestandteile der Immobilie, die Heizkörper, an die sie sich presste oder in die sie hineinlauschte, die Elektroschränke, die in die Ausstellungsräume eingepasst sind, die Blickachsen, die Türen, den rutschenden Holzfussboden. Mit ihren Entdeckungen und Bewegungen vermaß Dana Michel die Räume und das Publikum folgte ihr. Wie nur können hier ansonsten Bilder gehängt und Objekte gestellt werden? Eignen sich die räumlichen Verhältnisse nicht vielmehr bzw. verlangen sie es nicht, Strecken zurückzulegen, um die Ecken zu schauen, zurückzublicken, auf dem Boden zu rutschen, sich hinzulegen, sich auszudehnen? Eignen sich Achsen von 60 Metern nicht dafür, Papierrollen auszurollen, sie zu falten, sie zu zerknittern, sie zusammenzuballen, sie mit Klebeband zu bändigen und sie zu rollen.
Dana Michel erprobte diese Bewegungen und Handlungen, manchmal war es knapp am Slapstick vorbei, wenn sie beispielsweise einen der Bürostühle verpackte, der sich regelrecht dagegen zu wehren schien. In diesen Momenten wurde verständlich, was Karen Barad mit „Intra-Aktion“ meint: Die beteiligten Akteure (egal ob menschlich oder nicht menschlich) würden miteinander intra-aktionieren und konstituieren sich erst im Rahmen dieser dynamischen Intra-Aktion gegenseitig, an denen sie beteiligt und in die sie verwoben sind. Das hochkonzentrierte Publikum zweifelte keinen Moment an der Ernsthaftigkeit von Dana Michels planvoll scheinenden Handlungen, wenngleich sie nie zu einem teleologischen Ergebnis kamen. Zwar aktivierte sie hin und wieder mal eine Lampe oder schloss ein Stromkabel an den Stromkreislauf an. Allerdings führte auch dies zu keinem expliziten Zweck, der die Ökonomie der Prozesse hätte rechtfertigen können. Vielmehr ergaben sich (mit Aristoteles) andere Arten von Ursachen, die des Materials und die der Form, die ausgiebig zelebriert wurden und denen das Publikum folgte. Entledigt der Zweckursache, innerhalb eines festgelegten Zeitrahmens und an einem bestimmten Ort eine Kunstperformance zu rezipieren, folgten wir mit Freude Dana Michels alltäglichen Bewegungen, wir schauten mit ihr zurück, um die Ecke oder in den Stromschrank, wir wunderten uns, dass sich der Bürostuhl gegen seine Verpackung wehrte oder hätten gern selbst auf Socken auf dem Holzfussboden rutschen wollen.
Der berühmte, im Surrealismus durchgespielte Satz des französischen Dichters Comte de Lautréamont (1868), dass in dem „zufällige[n] Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ eine Schönheit lagere, wurde von Dana Michel zu einer hyperrealistischen Formel überführt: Michel zelebrierte eine überscharfe Realität, indem sie Vorgänge zeigte, für die es kaum Bezeichnungen, in jedem Fall kaum Bezeichnungen in der Standardsprache gibt: Fummeln, nesteln, zuppeln, tätscheln, kraulen, scharren, knartschen – Vorgänge, die sich selbst der Materialisierungen von und durch Sprache entziehen, die aber eine eigene Wirkmacht haben und eine Realität erzielen. Diesen Begriffen gab sie im Gropius-Bau eine große Bühne.
1., 2. und 3.12.2023, 180 min ohne Pause, Deutsche Erstaufführung, Uraufführung am 19.5.2023, Kunstenfestivaldesarts Brüssel, Gropius-Bau Berlin
Immer wieder unterbricht Selma Selman, tritt ans Mikrofon in die vorderste Reihe, verliest ihre Sätze, platziert auf einem Notenständer, wird rechts und links hinter sich von einer Cellistin und einem Sounddesigner begleitet. Sie startet langsam, bedächtig, verständlich, in unterschiedlichen Sprachen, wird lauter, agressiver, schreit irgendwann in das Mikrofon, „They say that gipsies steal.“, der Sounddesigner verstärkt ihre Stimme, verzerrt den Gehalt des Gesprochenen, die Cellistin verschärft mit quietschenden Tönen.
„Who can speak?“ fragen postkoloniale Theorieansätze, Selman schreit – und wechselt in ihrem Text von der 3. in die 1. Person Singular:
„She is not lost, she is not going to be found. She is walking now, she is moving, and moving, and it looks like she is fighting the time, she is ahead, she is almost at the time.
She is holding herself still and she is Nike, she is about to fly without her head on her.
God, make me so famous, so I can escape this place.“
Nach der Zäsur schreitet sie in ihrem weißen, körperbetonten Kleid, durch grau abgesetzte Nähte in perfekter Passform, zurück in den Hintergrund, setzt sich eine schwarze Arbeitsbrille auf, zieht ihre weissen Gummihandschuhe über ihre Hände und fügt sich farblich perfekt ein hinter einem Arbeitstisch und zwischen ihrem Vater, in schwarzer Hose und weißem Hemd und ihrem Cousin, ebenfalls in schwarzer Hose und weißem Hemd. Auch sie sind ausgestattet mit einer schwarzen Arbeitsbrille und weißen Handschuhen. Der Bruder ist krank geworden, sonst hätten sie zu viert im Berliner Gropiusbau mit Äxten Elektroschrott zertrümmert, mit Akkuschraubern aufgeschraubt, von Plastikumschalungen befreit, in Einzelteile zerlegt und von einem Stapel auf den anderen sortiert, immer wieder unterbrochen von Selmas Vortragssequenzen.
Währenddessen spielt die Cellistin zu den Klängen des Verschrottens auf ihrem Cello (wer denkt dabei nicht an Charlotte Moormans Cellospiel während der Fluxus-Bewegung?). Der Sounddesigner (wie die Cellistin ebenfalls schwarz-weiß gekleidet) sitzt hinter dem Display seines Notebooks und kreiert Electronic Industrial(sound) in den Raum, der grell erleuchtet und von ca. 70 wechselnden Performancebesucher*innen gefüllt ist. Weitere etwa 200 stehen vor der Glastür und warten auf Einlass.
Selma Selmans Perfomance „Motherboard“ findet parallel zu ihrer Einzelausstellung „her0“ in der 1. Etage des Berliner Gropiusbaus statt. „Motherboard“ legt das Motherboard, die Hauptplatine von Personal Computern frei, auf der die operativen Einzelteile des Rechners wie der Hauptprozessor, der Arbeitsspeicher, die PC-Firmware oder andere Erweiterungskarten (z.B. Netzwerkkarten, Grafikkarten, Soundkarten, TV-Karten, Modemkarten etc.) montiert sind. Unter „Trivia“ heißt es in der Wikipedia, dass die Hauptplatine genderunsensibel „Motherboard“ genannt wurde – für Selma Selman eine semantische Vorlage, sich gemeinsam mit ihren männlichen Familienmitgliedern des Motherboards anzunehmen und es lautstark, kühl, technoid, industriell, aggressiv, schwitzend, in grellem Licht und unter Anwesenheit eines großen Publikums im Gropiusbau freizulegen. Es staubt, es splittert, es funkt, es riecht nach Metallischem, für die Besucher*innen werden optional Schutzbrillen und Ohrenstöpsel ausgegeben.
Selma Selman ist Romni aus Bosnien-Herzegowina („Romani origin“) und thematisiert vor unseren Augen im Gropiusbau das ganze Spektrum dessen, was als „Identität“ bezeichnet wird. In „Who needs Identity“ bietet der britische Soziologe und Mitbegründer der Cultural Studies Stuart Hall 1996 eine erste Definition dessen, was er als ‚Identität‘ versteht: Identität sei die „Nahtstelle“ zwischen Diskursen und Praktiken einerseits und Subjektivierungsprozessen andererseits. An der Nahtstelle würde Identität hergestellt, sie sei etwas Veränderbares und auch Auflösbares. Die Nahtstelle überbrücke die Lücke zwischen den in sozialen Diskursen für Individuen vorgesehenen Subjektpositionen einerseits und den Prozessen, die sprechbare (!) Subjekte für sich herstellen. Andere Varianten für „Identität“ sind zum Beispiel Floya Anthias‚ „Erzählungen über Zugehörigkeit“ (2003).
Selman kreiert und generiert ihre „Erzählung von Zugehörigkeit“ performativ, aus einer Schnittmenge von geschlechtsspezifischen und rassistischen Diskrimierungen, stereotypen Identitätszuweisungen, Kultur- und Überlebenspraktiken des Recyclings, Familienbeziehungen, neokolonialen und kapitalistischen Diskurs- und Lebensverhältnissen. Mit Stuart Hall wäre ihr Kleid, wären die grauen Nähte ihres Kleides, die ihren Körper formen, nachzeichnen und betonen, die sich absetzen auf dem strahlenden Weiß und in Differenz zu ihren Mitperformer*innen die bedeutungsbildenden symbolischen Formen ihrer „Identität“. Ich möchte daher der Kuratorin der Ausstellung im Gropiusbau Zippora Elders vorschlagen, als Ergebnis der Performance nicht einen goldenen Nagel zu installieren, mit dem das gewonnene Gold materialisiert werden soll, sondern (ebenfalls Titel und Thema „Motherboard“ unterstützend) das Kleid zu präsentieren.
Das Kleid wäre nicht nur die Nahtstelle von Vorgesehenem und Selbsthergestelltem, von Diskursen, Praktiken und Subjektivierungsprozessen, sondern auch die gefüllte Repräsentationslücke von (kulturtheoretisch gesprochen) Subalternen, die nicht nur nicht sprechen, sondern daher auch von gesellschaftlicher Rrepräsentation ausgeschlossen sind. Denn inmitten des musealen Neorenaissancebaus mit seinen hier eingebauten zurichtenden White-Cube-Techniken, inmitten ihrer männlichen Familienmitglieder, denen sie vertraut wie auch bestimmt Anweisungen gibt und unter lautstarken Schreien wie „They say that gipsies steal.“ zertrümmert sie stereotype Narrative, zerlegt Logiken von Sprach- und Wertproduktionen und füllt Repräsentationsleerstellen. Sie praktiziert laut, grell und eindeutig die Emanzipation und Widerständigkeit des in ihrem Kleid unzweifelhaft weiblich zu lesenden Körpers, indem sie sich nicht in vorgegebene familiäre, geschlechtliche, strukturelle, semantische, kulturelle und kulturbetriebliche Hierarchien einfügt, sondern indem sie selbst performativ (Re)Präsentationen herstellt, die gängige Blickregime aushebeln. Für diese Anliegen unterstützt sie auch strukturell-nachhaltig, zum Beispiel mit der Gründung von „Get The Heck To School“ 2017, einer Stiftung für die Ausbildung von Romnja, aber auch mit verbal ermächtigenden Statements wie:
„Ich glaube, dass die Rom:nja im 21. Jahrhundert die sozialen, ökologischen und technologischen Avantgardist:innen dieses Planeten sind. Seit etwa 100 Jahren recyceln wir Abfälle, um uns als unterdrückte Minderheit in der westlichen Moderne selbst zu versorgen – die erst jetzt den moralischen, sozioökonomischen und ökologischen Wert dieser Praxis erkennt.“ >>
Es funktioniert, statt dass es nicht funktioniert: Kleidung in der unterkühlten brutalistischen Architektur der Wichern-Kirche, elektronische Medien in der prachtvoll geschmückten Backsteinkirche St. Jakobi, Bio-Lebensmittel in der Evangelisch-reformierten Gemeinde, die ihren Ort in einem umgebauten Stadtpalais gefunden hat, Ruhe- und Rückzugsmöbel in den leeren, weiß geschlemmten, gotischen Kirchenschiffen St. Petris.
Christian Jankowski, Initiator des Kunstprojekts „Heilige Geschäfte“ berichtet, er hätte eineinhalb Jahre für die Umsetzung dieser Idee in Lübeck aufwenden müssen, die er im Auftrag der Overbeck-Gesellschaft entwickelt hatte. Viele Kirchen in der Innenstadt hätten gezweifelt oder erste Zusagen zurückgezogen, viele Geschäfte hätten nach anfänglichem Interesse ihre Skepsis mitgeteilt und seien abgesprungen. Übrig blieben drei Kichen in der Lübecker Innenstadt und eine in Lübeck Moisling sowie vier Unternehmen: das Familientextilunternehmen Holtext, der Lübecker compustore JessenLenz, das genossenschaftlich organisierte Bio-Lebensmittel-Unternehmen Landwege und das skandinavische Designunternehmen Bolia.
Jankowski hätte das Thema in Lübeck selbst gefunden: Die dominierende Präsenz der sieben Kichtürme im Stadtbild der Hanse- und Handelsstadt Lübeck ließen ihn über das Thema nachdenken. Dass er Überzeugungsarbeit leisten musste und zum Teil auch erfolglos blieb, verwundert, drängen sich doch weitaus mehr Gemeinsamkeiten von Kirche und Handel auf als Unterschiede, die aber offenbar nicht in den Konsens gelangt sind:
Der Handel erwirtschaftete das Finanzkapital für den Bau der Kirchen; sowohl die Kirchen als auch die Geschäfte sind Orte der Begegnungen; beiden Orten droht eine Bedeutungslosigkeit und beide suchen nach ihren Zukünften; Kirchen und Geschäfte sind Bühnen, Liturgien, Dramaturgien; sie sind Orte der Medienvielfalt; an beiden Orten werden Kapital und Werte geschöpft, verteilt und geschätzt, an beiden Orten wird im Sinne von curare (pflegen) kuratiert; symbolische Formen finden wie Performances hier und da statt, ebenso wie Tauschgeschäfte und Kommunikation; es gibt sowohl einen Fetischismus in der Religion, indem bestimmte Gegenstände verehrt werden, als auch einen Warenfetischismus, der ein quasireligiöses Verhältnis zu Produkten aufbaut; sowohl Kapitaltransferprozesse als auch -zirkulationen (Bourdieu) finden an beiden Orten statt …
Daher wundert es auch nicht, dass die Besucher*innenbücher voller Lob über die Kooperationen zwischen Kirchen und Geschäften sind: Man hätte sich gleich beim Reingehen wohl und zu Hause gefühlt, eine beeindruckende Ausstellung, eine einmalige Idee, Kommerz und Glaube sei ein „uraltes Thema“, „toll und mutig“, „anregende Gespräche“, „trotz der Widrigkeiten ein großes und gelungenes Projekt“, „danke“.
Auch die Pastoren erzählen angeregt von den 14 Tagen des Projekts „Heiligen Geschäfte“ (vom 22.10. bis 5.11.2023): Für Pastor Bernd Schwarze ist seine Kirche wie die Kunst ein „Andersort“, Pastor Christian Gauer öffnen sich mit den Geschichten automatisch theologische Fragen, für Pastorin Imke Akkermann-Dorn geht es um rücksichtsvollere Lebensweisen. Jankowski hat allen Beteiligten einen räumlichen, zeitlichen und narrativen Rahmen gegeben, um Perspektiven einzunehmen, Anekdoten zu erzählen oder aus der Bibel zu zitieren.
Jankowskis „Heilige Geschäfte“ finden ihren konzisen Platz inmitten seiner bisherigen künstlerischen Projekte, in denen konzeptuell eine „Übergriffigkeit“ eingebaut ist:
Für „Kunstmarkt TV“ ließ er sich 2008 auf Einladung der Art Cologne vom Format des Homeshoppings inspirieren, zwei TV-Moderator*innen des Senders QVC priesen Kunstwerke von Franz West, Vanessa Beecroft und anderen in Sprache, Rhetorik und Habitus des Live-TV-Shopping an und verkauften sie über eine Telefonhotline.
Für „The Perfect Gallery“ wurde Jankowski 2010 von der Londoner „Pump House Gallery“ eingeladen, pimpte hier die Galerieräume im Stil einer „Home-makeover-Show“, indem er die Fußleisten entfernen, das Lichtsystem vereinheitlichen, den Holzboden erneuern und schließlich die Wände mit der extra angemischte Wandfarbe „Jankowski Perfect Gallery White“ streichen ließ.
Für „Casting Jesus“ ließ er 2011 im Stil einer Casting Show 13 Schauspieler für die Rolle des Jesus vortragen, um eine Jury aus Mitgliedern des Vatikans den perfekt segnenden, Kranke heilenden, Brot brechenden und betenden Jesus finden zu lassen.
„Bei der Erkundung verschiedener Artefakte in der Hamburger Kunsthalle habe ich mich gefragt, ob die von mir geschaffenen Kunstwerke und Geschichten aus dieser Welt oder von einem anderen Ort stammen.“ So schreibt Walid Raad auf S. 24 seines begleitenden Booklets zur Ausstellung „Cotton Under My Feet: The Hamburg Chapter“ in der Hamburger Kunsthalle, das nicht zufällig dem Format eines begleitenden Programmhefts für ein Theaterstück ähnelt.
Selbst dieses Zitat lädt zu Spekulationen ein: War Walid Raad in Hamburg? Handelt es sich um Artefakte (in) der Hamburger Kunsthalle? Wurden die hier signifizierten Kunstwerke tatsächlich von Walid Raad geschaffen? Welche anderen Orte mögen gemeint sein, von denen die Kunstwerke stammen könnten?
Raad wurde laut Wikipedia und anderer Quellen im Netz 1967 in Chbanieh im Libanon geboren, lebt in USA und lehrt an der The Cooper Union in New York. Auf seiner Webseite gibt Raad neun unterschiedliche Biografien zu seiner Person an, darunter 4 Fotografien, ein Interview, drei klassische Biografien mit unterschiedlichen Namen, Geburtsorten und -zeiten sowie Behelfssätze mit Freilassungen zur eigenen Verfügung: „Walid Raad is an ______ and an ______ (______, ______).“
Seine Werke sind seit der Documenta11, spätestens seit der dOCUMENTA (13) bekannt: Auf der Enwezor-documenta11 2002 erzählte er mit dem fiktionalen Kollektiv The Atlas Group die Gegenwartsgeschichte des Libanons, aufbauend auf dem Archiv der Atlas Group, das in drei unterschiedliche Kategorien von Akten gegliedert präsentiert wurde: „Typ A (verfasst), Typ FD (gefunden) und Typ AGP (Atlas Group Productions)“. Das Archiv wies sich darüber als eine Konstruktion aus, die uneindeutig, oszillierend und anfällig für Manipulationen durch zum Beispiel politische und geopolitische Interessen ist. Auf der d13 realisierte er, gemeinsam mit anderen von ihm kreierten fiktionalen Personen mit „Scratching on Things I Could Disavow“ ein Kunstprojekt über die Geschichte der Kunst in der „arabischen Welt“, das Raad startete, als 2007 in Städten wie Abu Dhabi, Dubai, Sharjah etc. neue Kulturstiftungen, Galerien, Kunstschulen, Magazine, Messen, Biennalen, Museen und Fonds gegründet wurden. Er schlug vor, nun in „islamisch“, „modern“ und „zeitgenössisch“ zu klassifizieren. Allein die Tatsache, dass für Raads Werke verschiedene „Autoren“ angegeben wurden und werden, stellt/e die kanonischen Vorstellungen von Künstlersingularität, Originalität, Wahrheit, Geschichte, Archiv und Dokumenten gründlich in Frage.
Nun also Hamburg: Im Anschluss an die beinahe gleichnamige Ausstellung 2021/22 für das Museum Thyssen-Bornemisza in Madrid erweitert Raad diese Ausstellung um das „Hamburg Chapter“. Sicher wäre es möglich, an dieser Stelle das Textformat einer Ausstellungskritik fortzusetzen und den Plot zu erzählen, die Relationen nachzuzeichnen, den Sachgehalt in Faktentreue zu skizzieren. Stimmiger wären folgende Angaben:
Walid Raad: „Cotton Under My Feet: The Hamburg Chapter“, Handlung in drei Akten
1. Akt: 1. Etage in der Lichtwark-Galerie der Hamburger Kunsthalle, Alte Meister, Raum 12 und 7
2. Akt: Treppenhaus der Lichtwark-Galerie: Vor dem Eingang zum Kupferstichkabinett und Rotunde
Baron Hans Heinrich Thyssen-Bornemisza, Industrieller, Kunstsammler
Francesca Thyssen-Bornemisza, Tocher, Sammlerin
Baroness Carmen Thyssen-Bornemisza, Ehefrau, Sammlerin
Lamia Antonova, beste Restauratorin ihrer Generation, palästinensisch-sowjetischer Herkunft
John Constable, Künstler
Caspar David Friedrich, Künstler
Eastman Johnson, Künstler
Martin Johnson Heade, Künstler
Gilbert Stuart, Künstler
Jalal Toufic, Schriftsteller
Winslow Homer, Künstler
Andrew Crispo, Kunsthändler mit dunklem Geheimnis
Samuel Morse, Erfinder des Telegrafen und Maler
Béhague Sangusko, ein sog. Perserteppich, 16. Jahrhundert, 510 x 275 cm, Baumwolle, 21 kg schwer, gefühlt 1 Tonne, der schwerste Teppich der Welt, von Baron Thyssen-Bornemisza 1992 der Kunsthalle Hamburg gestiftet, aufgrund seines Gewichts nicht ausstellbar
verschiedene Gemälde:
u.a. 7 Gemälde mit gemalten Wolken auf der Rückseite, vertraglich festgelegt, dass nur die Rückseite dieser Gemälde betrachtet und als Fotografie gezeigt werden dürften
u.a. 23 amerikanische Gemälde des 19. Jahrhunderts
Fotoalbum der Innenräume der Villa Favorita in der Schweiz
Bücherbestand der Hamburger Kunsthalle zum Thema Vampirismus
285 Engel
10 Pokale aus der Gold- und Silbersammlung des Barons mit Gliederfüßern
9 psycho-pathologische Zustandsberichte von Gemälderahmen, erstellt von Lamia Antonova
TBA2, Thyssen-Bornemisza Art Contemporary in Madrid
Hamburger Kunsthalle und das „Transparente Museum“
Aus diesen Akteur*innen spinnt Walid Raad eine nicht (oder kaum) verifizierbare komplexe und unüberschaubare Geschichte, die uns durch die Sammlungsräume des historischen Gründungsbaus der Hamburger Kunsthalle führt: Beginnend in der oberen Etage bei den Alten Meistern kombiniert Raad den Sammlungsbestand mit Schenkungen, Leihgaben (zum Beispiel aus dem Museum für Kunst und Gewerbe) und eigenen Werken, ohne dass eine eindeutige Zuordnung möglich wäre, und führt uns durch das Gebäude, das Treppenhaus, vorbei am Eingang des Kupferstichkabinetts, unterhalb der Deckenmalerei von Gerhard Merz, entlang an der Bleiskulptur „Der Fluss“ von Maillol und Couturier von 1939/43, durch die kuppelbekrönte Rotunde mit ihren ionischen Säulen bis in das „Transparente Museum“ im Erdgeschoss. Raad erweitert/e den Gang um eine tatsächliche und eine virtuelle Performance-Tour per App durch seine Ausstellung.
Erzählt wird die Geschichte der Sammlung des Schweizer Unternehmers und Kunstsammlers Hans Heinrich Thyssen-Bornemisza, die dieser 1992 in Teilen der Kunsthalle Hamburg geschenkt haben soll. Erzählt wird deren Provenienzen und Konservierungen, Familiengeschichten und Finanzturbulenzen, eingebettet in historische Kontexte wie Sklaverei, Zuckerhandel, Kalter Krieg und Klimakrise.
Daher hieße es weiter:
Konzept: Walid Raad
Regie: Walid Raad
Autor*innen: Walid Raad, in Zusammenarbeit mit Petra Roettig, Leona Marie Ahrens, Selvi Göktepe
Kuration: Petra Roettig, Leona Marie Ahrens, Selvi Göktepe
Bühne: Hamburger Kunsthalle, in Zusammenarbeit mit Walid Raad
Dramaturgie: Walid Raad, in Zusammenarbeit mit Hamburger Kunsthalle
Produktion: Hamburger Kunsthalle, in Kooperation mit Kampnagel Sommerfest
Raad gibt damit einen museologisch-performativen Ausblick auf das, was Museum auch sein kann: Szenisch kuratierte und aufbereitete Verwicklungen von Museumssammlungen und ihren Zeit-, Finanz- und persönlichen Kontextgeschichten, kombiniert mit konkreten Situiertheiten und Ortsspezifizitäten.
Im „Transparenten Museum“ geht es an der kanonischen Videodokumentation Andrea Frasers vorbei, die 1989 mit ihrem „Museum Highlights: A Gallery Talk“ im Philadelphia Museum of Art als Museumsführerin Jane Castleton auf einem Rundgang durch das Museum die Operationsweise des Museums sowie die Interrelationen zwischen Klasse, Geschmack, Habitus, Philanthropie und öffentlicher Politik freilegte. Raad trifft eine andere konzeptionelle Entscheidung: Er dekonstruiert nicht die Mechanismen, die Sprache und den Habitus des White Cube, er verstrickt die durch die Institutionskritik dekonstruierten Konstituierungsfaktoren des White Cube zu einer Konstruktion, die sich der bisher kunsttheoretisch erarbeiteten Intelligibilität entzieht. Künstlersingularität, Originalität, Wahrheit, Geschichte, Archiv und Dokumente sind over, die Theorie muss aufholen.
40 Premierenbesucher*innen – von Teenagern bis zu älteren Personen – sitzen in dem Aufenthaltsraum einer Werkhalle auf dem ehemaligen Thyssen-Krupp-Gelände in Hamburg Altona, nachdem sie ihre Taschen, Jacken und Telefone haben abgeben müssen. Signa hat zu der Uraufführung ihrer inzwischen fünften experimentellen Performance-Installation oder auch installativen Performance in Hamburg, diesmal mit dem Titel „Das 13. Jahr“ eingeladen. Die Premierenkarten der Schauspielhaus-Produktion sollen in wenigen Minuten verkauft worden sein, die nächsten Veranstaltungen sind bis in den Dezember, knapp vor Weihnachten ausverkauft. Denn es hat sich rumgesprochen: Signa, das Künstler*innenpaar Signa und Arthur Köstler, wird in eine ihrer phantasievoll magischen und geschlossenen Erlebniswelten entführen, die sich zwischen Theater und anderen szenischen Künsten, zwischen Installation, Performance und Happening aufhalten und die für immer den Blick auf das, was wir Realität nennen, verändern (werden).
Heute würden wir eine „Lethe-Simulation“ erleben [Anmerkung: Lethe bedeutet Vergessen, Vergessenheit, auch im Sinne von Verborgenheit.]. Drei in grau gekleidete Kolleg*innen des Lethe-Servicepersonals informieren uns in einem Informationsraum, der sich später als nüchterner Transitraum zwischen unserer Welt und Signas Welt herausstellen wird. In administrativer Sprache wird uns, begleitet von einer Diashow von Landschaftsfotografien, in vier Punkten das Setting der nun folgenden Stunden vorgestellt: Wir sollen uns in uns selbst zurückversetzen, in das Alter eines 12-jährigen Kindes. Wir würden mit 39 anderen Kindern eine Gruppenfahrt auf den „Hasenhof“ unternehmen, irgendwann und irgendwo würde der Bus in einer lichten Waldlandschaft von Nebel umringt sein, der Busfahrer würde verschwinden und wir wären auf uns allein gestellt. Durch einen Tunnel würde unser 12-jähriges Ich im Nirgendwo landen. Wenn wir diese Simulation unterbrechen wollten, würden Alarmknöpfe dies ermöglichen. Dabei würde alles den Status derselben Realität besitzen, ein Käse oder ein Brot aus Plastik wären gleich einem richtigen Käse oder einem richtigen Brot zu behandeln. Wir sollen spüren!
Die Performance beginnt: Wir werden aufgefordert, uns zu erheben und dem Simulationsteam der Reihe nach durch einen engen Gang zu folgen. Wir landen in der kühlen, Nebel gefüllten Industriehalle, in der eine düstere Bergansiedlung installiert wurde, bestehend aus scheinbar unzähligen kleinsten Holzhütten (es sind zehn), auf die Wände sind Gebirgspanoramen gemalt, der Betonfussboden ist mit Steinbrocken aus Pappmaché und mit Geröll bedeckt, die Decke ist abgehängt, wie Nebel drückt sie von oben und macht den Raum eng. Nebelkrähen krächzen in der Ferne, Wölfe heulen, ein Gewitter scheint sich zu nähern, es ist kühl, sehr kühl, der Raumplan des Bergdorfes macht eine Orientierung beinahe unmöglich. Wir irren schnell zwischen den vielen kleinen Buden, verlieren unsere Ordnung und uns damit in uns selbst. In und vor den Hütten sitzen, liegen oder stehen Wesen, womöglich die Bewohner*innen der Hütten, ihre Gesichter sind durch Masken aus Pappmaché mit starrem Blick verdeckt. Es ertönt ein Gong, wir werden von Personen gegriffen und einzeln in die Hütten entführt.
Foto: Erich Goldmann
Hier wird das ganze Ausmaß deutlich: Wir, die Ferien-, jetzt Notkinder, haben uns in ein Nebeldorf retten können. Wie wir sind auch dessen Bewohner*innen schon vor einigen Jahren hier gestrandet, nur Erwin hätte hier gewohnt, viele seien inzwischen gestorben, das Nebelfieber würde allen gesundheitlich zu schaffen machen. Wir müssen unsere Kleidung wechseln, denn die alte sei feucht und klamm, unsere Schuhe seien untauglich, das Leben in den Bergen zu bewältigen. Die sichtbaren Unterschiede zwischen dem Schauspielensemble und dem Publikum werden damit nivelliert. Unsere beschwichtigenden Sätze, dass wir ja bald wieder auf dem Weg nach Hause seien, werden müde von den Bewohner*innen weggelächelt, man solle sich auf einen längeren, ja lebenslangen Aufenthalt einstellen. Sie selbst hätten schon alles versucht, den Ausweg zu finden, aber viele seien entweder bei dem Versuch zu fliehen verschwunden, der Nebel hätte sie verschluckt oder sie seien demütig, aber fieberkrank zurückgekommen und damit todgeweiht. Nur zwei Personen wüssten den Weg, eine davon die Hausiererin des Dorfes.
Hier schon befinden wir uns inmitten unserer persönlichen Settings: Die 40 Premierenbesucher*innen sind in zehn Familienkonstellationen aufgeteilt, die die Mitglieder des Signa- und des Schauspielhaus-Ensembles zusammen mit lebensgroßen, versehrten und daher pflegebedürftigen Puppen performen. Die Hütten sind eng, höchstens acht Quadratmeter Grundfläche, das Wenige, das zur Verfügung steht, wird offenherzig mit uns geteilt, die Kücheneckbank wird auch als Schlafstätte genutzt, daneben eine kleine Kochecke, in der Kartoffeln gegart werden, die gegen Schminkutensilien eingetauscht werden konnten, im Hinterzimmer stehen ein Sofa, ein Sessel und ein Vitrinenschrank – alles karg, abgenutzt, zeitlos, trist und grau wie die Kleidung, die wir gewechselt haben. Dieses Setting wird für die nächsten viereinhalb Stunden unsere Heimstätte werden. Ich werde erfahren, dass Marina, Ende zwanzig, junge Mutter, ihr Leben nur mit Alkohol erträgt, als Vater der acht Monate alten Lilly, die selbst schon am Nebelfieber erkrankt ist, zwei Männer aus der Dorfgemeinschaft in Frage kommen. Marina will gleichzeitig wissen und nicht wissen, wer der Vater ist. Marinas Bruder Marius, Teenager, hat weder Lust auf Schule noch auf Familie, er ist immer hungrig und immer wütend. Vanessa, etwas jünger als Marina, schnitzt sich (wie viele andere im Dorf) mit Rasierklingen, „um das Unglück loszuwerden“, sie kümmert sich um ihre bettlägerige Schwester Valentina, ihr Vater ist auf den Berg gegangen und von hier nicht mehr zurückgekehrt. Beide jungen Frauen konkurrieren, wer die Attraktivere sei, beide übernehmen die Verantwortung, die Kleinfamilie am Leben zu erhalten.
Foto: Erich Goldmann
Unsere Gespräche beginnen mit dem Trösten über den Verlust unserer Herkunftsfamilien und damit auch über die eigenen Eltern im Alter von 12 Jahren (bei allen offenbaren sich disruptive Familienverhältnisse). Es werden Alltagsroutinen in den Hütten starten und damit Gemeinschaftspraktiken stattfinden, und es werden Ausflüge in das Dorf und zu den Nachbarn folgen, um in das trübe soziale Gefüge und ihre nebulösen Beziehungen einzutauchen: Erwin, der Dorfälteste, der mit seinem Dialekt eine Bergweltatmosphäre verströmt und in seiner Eigenheit als Autorität akzeptiert wird; Walter, dessen Frau als lebensgroße Puppe in einem Rollstuhl vor der Hütten lebt und der aggressiv und übergriffig ist; Bert, der spannert und dafür die ersehnten Zigaretten oder Schnaps tauscht; seine Frau Hannah, die davon weiss; Angelina, die im Dorf offenbar mit Drogen dealt; Norma, die Lehrerin im Dorf, die in der Nacht ihre Tränen nicht unterdrücken kann; die Hausiererin, die am Rande des Dorfes unter einem Lager aus drapierten Tüchern, Fellen und Knochen campiert – es eröffnet sich ein hallengroßes, dezentrales Setting und wir als 12-Jährige mittenrein geworfen, aber ebenso eingewoben in einen riesigen Sozialplot der einzelnen Kleinfamilien, der Verbindungen unter den Familien und ihrer Schicksale, verwoben in vielzähligen Macht- und Gewaltformen innerhalb von Familien und Lebensgemeinschaften, in Sehnsüchten, Hoffnungen, Projektionen, Phantasmen und Widerständen.
Foto: Erich Goldmann
Ein Mal wird zwischendrin die Simulation unterbrochen. Ein Vertreter des Simulationsteams kommt in die Hütte und fragt (und erinnert damit noch einmal an das Setting des Experiments), was notwendig wäre, um die Simulation unseres 12-jährigen Ichs zu verstärken. Wir können zwischen einem Ereignis oder einer wahrsprechenden Glaskugel wählen. Wir entscheiden uns für das Ereignis und wenig später wird Vanessa Blut spucken, wir werden um ihr Leben bangen und noch enger zusammenrücken. Zwischenzeitlich ertönt regelmäßig ein Gong, die Bewohner erstarren in ihrer jeweiligen Pose und über eine Lautsprecherdurchsage erfahren wir, dass nun ein neuer Akt beginnen wird: dass wir vom Nachmittag in den Abend, vom Abend in die Nacht wechseln würden, dass die Geister kämen, dass ein Gewitter drohe …
So vergehen gefühlt Stunden um Stunden, da wir alle Utensilien an der Garderobe haben abgeben müssen und damit offenbar auch unser Zeitgefühl (tatsächlich waren es viereinhalb Stunden). Da das Dorf im Nebel liegt, gibt es keine Unterscheide zwischen Tag und Nacht, zwischen Tages- und Nachttemperaturen. Alles ist dunkel, trist, grau, kalt und nebelig. Hin und wieder sind Schreie zu hören, krächzende Nebelkrähen und andere Tiere in der Ferne, der um die Hütten wehende Wind. In den Häusern werden über Alltagsrituale familiäre Bindungen performiert: über Geheimnisse, gemeinsame Ungerechtigkeiten und Phantasien, vertrauliche Ausflüge, Gute-Nacht-Geschichten, familiäre Sorgen und Ängste, zelebrierten Aberglauben, gemeinsames Kartoffelschälen, über Kartoffelstampf am Abend und Haferbrei mit Schokolade am Morgen, über Füßebaden in Plastikkinderbadewannen, über sich wiederholende Erinnerungen, die das Mit-Sein herstellen. Und wenn man sich anfänglich nicht auf die Simulation eingelassen haben sollte, dann täte es die Zeit, denn die Behandlung des Gegenübers von sich als 12-jährigem Kind informiert über die Fremdbilder von 12-Jährigen und hinterlässt Spuren im eigenen Verhalten. Unser jetziges Ich versucht, nicht nur das damalige Ich reflexiv und/oder imaginativ herzustellen und zu performieren, sondern beobachtet neugierig das antizipierte und/oder erinnerte damalige Ich, um innerhalb dieses spekulativen Wiederherstellungs- und Wiedererkennungsprozesses immer wieder zu scheitern – kommt doch das jetzige Ich in die Quere. Damit befinden wir uns inmitten der Performance-Installation oder der installativen Performance inmitten einer nächsten Dynamik, nämlich eines Re- und eines Pre-enactments: Wir enacten uns als ein Ich, das re-, aber auch pre-enactet wird, das wieder-(ge)holt, aber auch vor-gefühlt wird.
Identität entsteht, so lässt sich ableiten, in einem Dazwischen, wird (von sich und anderen) zugeschrieben, projiziert, erwartet und kontrolliert, fühlt sich fremd und vertraut an und ist als konsistente und kontinuierliche Größe unerreichbar. Das Ich ist offenbar eine Praktik auf verschiedenen Zeitschienen, an verschiedenen Orten, in verschiedenen Personenkonstellationen und Situationen, mal funktioniert diese Praktik besser, mal schlechter, mal wird sie als richtig anerkannt und mal auch nicht, mal ist sie als eine soziale Anwendung kongruenter mit dem Umfeld, mal entgleist sie zwischen den vielen und unterschiedlichen Erwartungen, auch an sich selbst. Wenn sie zwischen diese Einflussgrößen zu korrespondieren in der Lage ist, scheit sich so etwas wie Glück einzustellen.
Foto: Erich Goldmann
Die Ereignisse werfen ihre Schatten voraus: Ein lebensbedrohliches Gewitter wird heraufziehen, wir werden, um zu Überleben, aufgefordert, einen metrischen Reim aus vier Zeilen zu lernen, der die „Habergeiss“ austreiben können soll. Ein Prozessionszug aller Beteiligten wird sich formen, der durch das Dorf ziehen und laut, groß und gemeinschaftlich in der Angst gegen den drohenden Sturm ansingen wird, begleitet von Pauken, Geigen und Gitarren, angeführt durch ein übergroßes Fell-Fabelwesen mit Pferdekopf. Die Halle wird dröhnen und hallen, inmitten des Nebels und der Angst vor dem bedrohlichen Gewitter wird sich die mitternächtliche Gemeinschaft formen und widerständig gegen die Naturgewalten tanzen. Das dramaturgische Finale ist fühlbar gekommen, wir flüchten uns in unserer gemeinschaftlichen Angst vor der Bedrohung in unser Heim und – werden durch eine Lautsprecherdurchsage abrupt desillusioniert: Wir werden aufgefordert, uns umzuziehen und von dem Simulationsteam durch den Tunnel zurückführen zu lassen. Es heisst Abschied nehmen, die Mitglieder unserer Heimatfamilie haben sich ihre Masken wieder über die Gesichter gezogen und sind in die Starre ihrer Pose gefallen. Dadurch wird uns eine Verabschiedung unmöglich gemacht [Marina, Marius und Vanessa – es war schön bei euch].
Die abschließende Rückverwandlung im Transitraum, in dem anfänglich über die Simulation informiert wurde, fällt ebenso sperrig aus: Zwei der Dorfbewohner, unter anderem Erwin, der uns mittlerweile vertraute Dorfälteste, drängen in unsere Ausnüchterungszelle, wollen sich uns anschließen und ebenfalls die geschlossene Kunstwelt verlassen, werden aber vom Servicepersonal zurückgedrängt. Sollen wir uns nicht für sie einsetzen? Gehören wir nicht zusammen? Damit scheitert die behauptete Entsimulation, die unseren ganzen Körper und seine Einzelteile, so das Personal des Simulationsunternehmens Lethe, von unseren Eindrücken befreien sollte. Lethe entschuldigt sich für die Störung. Und so werden wir dann auch aus der Halle entlassen: Signa wird uns in unseren Leben nie mehr ganz verlassen…
Die Hinterbühne des Berliner Festspielhauses klappt sich auf wie ein Notebook: Auf dem Boden liegt ein symmetrisch sortiertes Raster aus etwa zweihundert hellrosa farbenen Spitzenschuhen mit ihren Satinbändern, paarweise geordnet, manche mit Davidsternen kombiniert, mit Kruzifixen oder mit Voodoo Puppen, andere mit Amuletten, Spielzeugautos oder Sexspielzeugen. Links auf der Bühne sind vier Grammophone in eine Runde gehängt, rechts auf der Bühne ist eine Gruppe verschiedener Art déco Kerzenständer, inklusive hochgestreckter Kerzen, zusammen mit einem Tisch zu einem Altar angeordnet. Die Rückwand der Bühne wird im Verlauf der einstündigen Performance zu einer Projektionsfläche für vorproduzierte Videos an „anderen Orten“. Der gesamte Raum ist in den Geruch von Weihrauch gehüllt.
Steven Cohen, bildender und darstellender Künstler, Performancekünstler und Choreograf, 1962 in Südafrika geboren, weiss, jüdisch, männlich, homosexuell, hat seit den 1990er Jahren einen alterslosen, haarlosen, artifiziell geschminkten und geschmückten, weiß gepuderten, beinahe nackten, queeren Archetyp entwickelt, der mittels seines Körpers als Mittler oder auch Médiateur die auf der Bühne installierten und figurierten Objekte „zum Leben erwecken wird“: Hier wird der material-semiotische Ansatz z. B. Bruno Latours, der die Handlungs- und Wirkvollmächtigkeit (Agency) nichtmenschlicher Entitäten oder auch der Dinge in einem interaktiven Netzwerk von Akteur*innen betont, oder auch der neo-materialistische Ansatz Karen Barads der Intra-Aktion, der die wechselseitige Hervorbringung miteinander verschränkter Agenzien herausstellt, aus denen sich prozesshaft Materie performiert und damit auch erst materialisiert, zur Ansicht gebracht. Die installative Collage auf der Bühne, bestehend aus hunderten Einzelteile, über Licht bedeutungsvoll als Reliquien ins Szene gesetzt, sind daher bereits Mitspieler. Damit liegt schon in der Installation das Performative, schon bevor Cohen die Bühne betritt.
Cohen wird sich über etwa 60 Minuten in langsamen und würdevollen Schritten, manchmal hilflos, manchmal ungleichgewichtig, durch diese intra-performative Installation bewegen. Sein weißer Körper wird in weißen Corsagen oder kunstvollen Art déco-Kleidern gezwängt sein. Er wird sich auf glitzernden, überhohen High Heels, in Spitzentechnik bewegen, deren Absätze anfänglich Kindersärge sein werden. Verlängerte Unterarmgehstützen werden ihm dabei behilflich sein, mit den Kindersärgen unter seinen Füßen über den drapierten Spitzenschuhen zu balancieren und die Installation zu durchschreiten. Die vier Grammophone werden durch eine Kurbel von ihm aktiviert, an seinen Körper geschnallt über die Bühne getragen und damit zu tanzenden Lautsprechern. Er wird als Trauerritual die Kerzen entzünden, ein Gebet flüstern, mit einer Kamera eine Schatulle inspizieren, aber auch seinen weiß geschminkten und mit Ornamenten geschmückten Körper, seine glitzernden Augen und seine kunstvoll nachgezogenen Lippen, um mit der Kamera dann auch in seinen Rachen zu gleiten. Er wird über das „Theater als Tempel“ referieren, aus der Schatulle einen Löffel Asche seines 2016 verstorbenen Partners Elu Johann Kieser zu sich nehmen und aus einem Kelch trinken. Dazu wird leise Leonard Cohen singen. Und er wird sich über die auf der Rückwand projizierten Videos selbst begegnen, in einem Palmengarten, aus „Muttererde“ auftauchend, in einem Schlachthof: Hier wird das Publikum die Tötung von Rindern sehen, Cohen wird sich in seinem weißen Spitzentutu unter die bluttropfenden, langsam sterbenden Rinderkörper legen, er wird seinen weißen Körper mit dem roten Rinderblut waschen. Im Schlachthof angestellte People of Color werden sich wundern und 17 Zuschauer*innen werden sich diesen Bildern entziehen. Damit wird die performative Installation, durch Cohen als Médiateur performiert, kinematografisch angereichert.
Cohen bzw. sein kreierter Archetypus wird dem Publikum (s)ein geheimnisvolles, phantastisches (oder auch phantasmatisches), verschlüsseltes Universum für einen Moment öffnen: ein Universum, das mit Symbolen, Metaphern, Chiffren und Zeichen ausgestattet ist, das mit Ritualen, Licht, Sound, Bewegungen, Weihrauch und künstlichem Nebel als geheimnisvoll und intim inszeniert wird, das aber auch ohne die Hermeneutik als Methode zugänglich und attraktiv ist: Wie Alice im Wunderland durchschreitet und zelebriert Cohens Kunstfigur eine Kapelle der Schmerzen – Schmerzen, die durch Tod, Verlust oder Misshandlung, durch körperliche Züchtigungen, Trauer oder Religionen, durch Nichtwissen, Angst und Liebe entstehen. Aber Cohens Kapelle tröstet über überwältigende Trauer hinweg: „Put your heart under your feet… and walk!“ Sein Universum lässt, obwohl übercodiert und chiffriert, Platz für eigene Projektionen. Bei Projektionen wird es bleiben, denn das Publikum wird die collagierte Bodeninstallation nach 60 Minuten nicht noch selbst durchwandern können. Die Kapelle bleibt damit ansichtige Zeremonie und Bild/Leinwand. Sie ist Elu gewidmet.
Als Lovis Corinth, Max Klinger, Walter Leistikow, Alfred Lichtwark, Max Liebermann, Max Slevogt und weitere 1903 in Weimar den Deutschen Künstlerbund gründeten, taten sie dies inmitten der Reglementierungen im Kaiserreich unter anderem mit dem Ziel, die Kunstfreiheit einzufordern. Auch für mich war das ein wichtiger Grund, mich für eine Mitgliedschaft in dieser 1936 erzwungen aufgelösten und dann 1950 wieder begründeten Vereinigung von in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Künstler:innen zu interessieren. Denn rechtliche Themen, insbesondere Verfassungsrecht und die Stellung der Kunstfreiheit begleiten meine künstlerischen Praktiken sowohl im- als auch explizit seit vielen Jahren.
Im Zusammenhang verschiedener auf der documenta fifteen 2022 in Kassel präsentierter Arbeiten wurden neben den medial erhobenen Anschuldigungen auch von Politiker:innen zum Teil eigenwillige Grenzziehungen der Kunstfreiheit behauptet, so dass ich nicht nur für Kunstschaffende etwas zur tatsächlich rechtlichen Einordnung beisteuern möchte. Um nicht missverstanden zu werden, per se glaubensfeindliche und rassistische Positionen gehören für mich zu verstörenden Formen menschlicher Begegnung und gleiches gilt für das Infragestellen des Existenzrechts von Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen. Das sollte aber nicht dazu verleiten, die auch hierzulande rechtlichen Grenzen der Kunstfreiheit anders zu zeichnen, als sie es historisch begründet und demokratische Rechtsstaaten konstituierend sind.
Freedom of Art – digital_series#no.2k0053 • CC BY-NC-ND 4.0 GeheimRat
Im Grundgesetz ist in Artikel 5 Abs. 3 Satz 1 die Freiheit der Kunst als ein Grundrecht unserer Verfassung verankert. Nähere Einordnungen ergeben sich aus Rechtsprechungen des Bundesverfassungsgerichts, dessen Entscheidungen gemäß § 31 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz in Verbindung mit Art. 1 Abs. 3 Grundgesetz bindend sind sowohl für die Legislative, die Exekutive als auch die Judikative, das heißt für Parlamente und deren Abgeordnete, für Behörden, Staatsanwaltschaften, Ministerien, Beamt:innen, Minister:innen, Bundeskanzler:innen, Bundespräsident:innen sowie für Richter:innen und Gerichte.
In der Mephisto-Grundsatzentscheidung (BVerfGE 30, 173) hat das Bundesverfassungsgericht bereits 1971 verdeutlicht, dass Art. 5 Abs. 2 GG gewisse Einschränkungen vorsieht, diese aber nur auf die in Art. 5 Abs. 1 verbriefte Meinungs-, Informations-, Presse- und Rundfunkfreiheit und nicht auf die in Art. 5 Abs. 3 genannten Freiheitsrechte für Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre anzuwenden sind.
Sofern gesetzliche Bestimmungen auf der sogenannten Einfachgesetzesebene nun Grundrechte einschränken sollen, müssen nach Art. 19 Abs. 1 GG die Grundrechte unter Angabe des Artikels in dem Gesetz genannt werden. Im Grundsatzurteil BVerfGE 83, 130 hat das Bundesverfassungsgericht erklärt, dass dies nicht für Grundrechte gilt, die nicht eingeschränkt werden dürfen. Zu diesen nicht einzuschränkenden Grundrechten zählt das Bundesverfassungsgericht die Kunstfreiheit. Um die Kunstfreiheit zu begrenzen, bedarf es damit mindestens einer Bestimmung, die sich unmittelbar aus der Verfassung beziehungsweise in aller Regel sogar aus konkurrierenden Grundrechten herleiten lässt; solchen Rechten also, die auf einer vergleichbar erhabenen Position unserer Verfassung positioniert sind.
Wird zum Beispiel die mit Art. 1 Abs. 1 GG verbriefte Menschenwürde durch ein künstlerisches Werk potentiell verletzt, dann handelt es sich um ein konkurrierendes Grundrecht, das sich auf der Einfachgesetzesebene bereits eingeschrieben haben kann. Im Fall der Menschenwürde ist dies erkennbar etwa mit Regelungen zu Volksverhetzung in § 130 des Strafgesetzbuches geschehen. Bei vollständiger Durchsicht dieses Paragraphen zeigt sich allerdings, dass analog zu § 86 Abs. 4 StGB in Abs. 7 Ausnahmen für Abs. 2, welcher für zahlreiche künstlerische Praktiken zutreffend ist, eingezogen sind: Die Strafandrohungen sollen nicht gelten, „wenn die Handlung der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient“. Die gesetzgebende Legislative hat mit diesen Bestimmungen auf der Einfachgesetzesebene festgelegt, wann volksverhetzende Inhalte, die „in Schriften, auf Ton- oder Bildträgern, in Datenspeichern, Abbildungen oder anderen Verkörperungen enthalten sind oder auch unabhängig von einer Speicherung mittels Informations- oder Kommunikationstechnik übertragen werden“, strafbar sind. Demzufolge sind sie es nicht im Rahmen einer Handlung, die „der Kunst […] dient“.
Wenn der Jurist Peter Raue in seinem Beitrag zur documenta fifteen in der Süddeutschen Zeitung vom 23.06.2022 schließlich erklärt, „[v]erfassungswidrige und strafrechtlich relevante Arbeiten haben in Deutschlands Öffentlichkeit nichts zu suchen“, dann kann das zwar als eine Meinungsäußerung Raues durchgehen, genau betrachtet zeigt sich darin wohl selbst eine verfassungswidrige Position. Denn mit der geltenden Rechtslage in Deutschland hat es in dieser Absolutheit wenig zu tun. Es gibt Strafrechtsnormen, die sich schwerlich aus der Verfassung herleiten lassen und damit nicht gegen die Kunstfreiheit rivalisieren können. Im Fall des § 130 StGB zu Volksverhetzung hat die Gesetzgebung, wie dargelegt, Ausnahmen unter anderem im Rahmen der Kunst vorgesehen. Und es existieren Verfassungsbestimmungen, die nicht in Konkurrenz zum Grundrecht der Kunstfreiheit treten und diese somit ebenfalls nicht überragen können.
In der Entscheidung 1 BvR 1738/16 von 2019 hat das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus verdeutlicht, dass nicht nur das Herstellen, sondern auch das Ausstellen von Kunst durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützt wird: „Die Kunstfreiheitsgarantie betrifft in gleicher Weise den ‚Werkbereich‘ und den ‚Wirkbereich‘ künstlerischen Schaffens. Nicht nur die künstlerische Betätigung, sondern darüber hinaus auch die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks sind sachnotwendig für die Begegnung mit dem Werk als eines ebenfalls kunstspezifischen Vorgangs. […] Die Anerkennung von Kunst darf nicht von einer staatlichen Stil-, Niveau- und Inhaltskontrolle oder von einer Beurteilung der Wirkungen des Kunstwerks abhängig gemacht werden.“
Die Freiheit der Kunst als ein Grundrecht in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aufzunehmen, war auch den Erfahrungen während des Deutschen Kaiserreichs und des Nationalsozialistischen Regimes geschuldet. Es würde mich wundern, wenn Liebermann, Corinth, Slevogt und die anderen, die 1903 den Deutschen Künstlerbund auch mit dem Ziel, die Kunstfreiheit einzufordern, gründeten, die heute tatsächliche Rechtslage nicht schätzen und verteidigen wollten.
Zum Autor: erwin GeheimRat arbeitet im Bereich digitale Konzeptkunst und ist ordentliches Mitglied des Deutschen Künstlerbund e.V.
When Lovis Corinth, Max Klinger, Walter Leistikow, Alfred Lichtwark, Max Liebermann, Max Slevogt and others founded the Deutscher Künstlerbund in Weimar in 1903, they did so amid the regimentations of the German Empire, partly with the aim of demanding artistic freedom. For me, too, this was an important reason for becoming interested in a membership of this association of artists living in the Federal Republic of Germany, which was dissolved by force in 1936 and then re-established in 1950. For legal issues, especially constitutional law and the position of artistic freedom have accompanied my artistic practices both im- and explicitly for many years.
In relation to various works presented at the documenta fifteen 2022 in Kassel and additionally to accusations made in the media, politicians have also drawn the boundaries of artistic freedom in a partly idiosyncratic way, so that I would like to contribute something for actual legal classification, and not only for artists. In order not to be misunderstood, positions that are per se hostile to faith or racist belong to disturbing forms of human encounters for me and the same applies to questioning the right to exist of member states of the United Nations. However, this should not tempt us to draw the legal boundaries of artistic freedom in a different way than they are historically justified and constitute democratic constitutional states.
Freedom of Art – digital_series#no.2k0053 • CC BY-NC-ND 4.0 GeheimRat
Article 5 (3) sentence 1 of the German Basic Law enshrines the freedom of art as a fundamental right of the constitution. More detailed classifications result from the case law of the Federal Constitutional Court, whose decisions are binding for the legislative, the executive and the judiciary, i.e. for parliaments and their deputies, for authorities, public prosecutors, ministries, civil servants, ministers, Federal Chancellors, Federal Presidents, judges and courts, in accordance with Section 31 (1) of the Federal Constitutional Court Act in conjunction with Article 1 (3) of the German Basic Law.
In the Mephisto landmark ruling (BVerfGE 30, 173), the Federal Constitutional Court made it clear as early as 1971 that Article 5 (2) of the German Basic Law provides for certain restrictions, but that these are to be applied only to freedom of expression, information, the press and broadcasting guaranteed in Article 5 (1) and not to the freedoms of art, science, research and teaching mentioned in Article 5 (3).
If statutory provisions at the so-called simple law level are now to restrict fundamental rights, Article 19 (1) of the German Basic Law requires, that the law has to specify the basic right affected and the article in which it appears. In the landmark ruling of BVerfGE 83, 130, the Federal Constitutional Court stated that this does not apply to fundamental rights that may not be restricted. The Federal Constitutional Court considers the freedom of art among these fundamental rights that may not be restricted. In order to limit artistic freedom, at least one provision is required that can be derived directly from the constitution or, as a rule, from competing fundamental rights, i.e., rights that are positioned in a comparably elevated position in the constitution.
If, for example, human dignity, which is guaranteed by Article 1 (1) of the German Basic Law, is potentially violated by an artistic work, then this is a competing fundamental right that may already have inscribed itself at the level of simple law. In the case of human dignity, this is recognizably the case, for example, with regulations on incitement to hatred in § 130 of the Criminal Code. However, a complete review of this section reveals that, analogous to Section 86 (4) of the Criminal Code, exceptions for subsection (2), that applies to numerous artistic practices, have been included in subsection (7): The threats of punishment should not apply „if the act serves civic information, to prevent unconstitutional activities, to promote the arts or science, research or teaching, reporting about current or historical events, or similar purposes.“ With these provisions, the legislative body has determined at the simple-law level when inciting content that is „contained in writings, on audio or visual media, on data carriers, in images or other materialised content or which is also transmitted independently of any storage using information or communication technologies“ is punishable. Accordingly, they are not if the act „serves […] the arts […]“.
When the jurist Peter Raue finally declares in his contribution to documenta fifteen in the Süddeutsche Zeitung of June 23, 2022, „unconstitutional and criminally relevant works have no place in Germany’s public sphere“ [free translation], then this can pass as an expression of opinion by Raue, but if you look at it closely, it probably shows an unconstitutional position itself. Because it has little to do with the current legal situation in Germany in this absoluteness. There are criminal law norms that can hardly be derived from the constitution and thus cannot rival artistic freedom. In the case of Section 130 of the Criminal Code on incitement to hatred, the legislation, as explained, has provided for exceptions in the context of art, among other things. And there are constitutional provisions that can not compete with the fundamental right of artistic freedom and thus cannot override it either.
In the 2019 decision 1 BvR 1738/16, the Federal Constitutional Court further clarified that not only the producing but also the exhibiting of art is protected by Article 5 (3) sentence 1 GG: „The guarantee of artistic freedom concerns in equal measure the ‚area of the work‘ and the ‚area of effect‘ of artistic creation. Not only the artistic activity, but also the presentation and dissemination of the work of art are necessary for the encounter with the work as a process that is also specific to art. […] The recognition of art may not be made dependent on governmental control of style, level, and content or on an assessment of the effects of the work of art.“ [free translation]
Including the freedom of art as a fundamental right in the German Basic Law of the Federal Republic of Germany was also due to the experiences during the German Empire and the National Socialist regime. I would be surprised if Liebermann, Corinth, Slevogt and the others who founded the Deutscher Künstlerbund in 1903 – also with the aim of demanding freedom of art – did not appreciate and would defend the actual legal situation.
About the author: erwin GeheimRat works in the field of digital conceptual art and is a full member of the Deutscher Künstlerbund e.V.
Stalk ist eine französische TV-Serie von Simon Bouisson und Jean-Charles Paugam, deren erste Staffel mit 10 Folgen in der ARD-Mediathek zu finden ist. Bisher gab es in diesem Blog keine TV-Kritiken, aber zu dieser Serie ist eine solche angebracht.
In der deutschen Fernsehlandschaft sind in den letzten Jahren einige Versuche unternommen worden, Digitalisierung, Hacking oder Coding in Filmbildern zu fassen, oft mit bescheidenem Erfolg, mitunter wirkten Drehbuch und Regie eher hilflos, wie etwa bei der Serie Hackerville um den rumänischen Jung-Hacker Cipi, die zu allem Überfluss auch noch mit einem Grimme-Preis bedacht wurde.
Das ist bei Stalk anders. 10 Folgen in einer Länge von je 23 min bringen nicht nur technische Details des Codings in den Handlungsablauf mit ein, die Serie schafft es auch, Bilder zu produzieren, die mit digitalen Welten und Digital-Ästhetik in Form zahlreichen Rear-Kamera-Aufnahmen eine bisher ungekannte Fernsehkompatibilität herstellt. Musik und auch Sound-Design sind genauso eng mit der qualitativ hochwertigen Umsetzung verknüpft, wie Drehbuch, Regie und das erfrischende Schauspiel der verschiedenen Akteure dieser Serie; allen voran die beiden Hauptfiguren Théo Fernandez in der Rolle des Hackers Lucas alias Lux und Carmen Kassovitz als die von mindestens zwei jungen Männern begehrte Kommilitonin Alma.
Lucas startet gerade sein Informatik-Studium und wird mit allen übrigen Erstsemestern bei der Aufnahme durch Studierende höherer Semester mit der Zahl PI konfrontiert. Nacheinander sollen die Erstsemester eine weitere Ziffer nach dem Komma benennen. Lucas sagt nicht nur die nächste Zahl, er kann und setzt zunächst noch zögerlich, aber dann schier unendlich fort und beendet damit die Competition. Ob sein anfängliches Zögern schon die Vorahnung war, dass Brillianz regelmäßig Gegner produziert, erfüllt sich dies in der Figur des Fachschaftssprechers Alex, gespielt von Pablo Cobo, der Lucas auf einen Stuhl gebannt inmitten der feiernden Menge und nach reichlich Alkohol auch noch sein Urinat zu trinken verpflichtet. Nicht genug der Demütigung filmt er das Ganze und stellt es online dem gesamten Campus zur Verfügung.
Lucas ist allerdings nicht nur mit der Zahl PI vertraut, sondern auch mit dem Coden und Hacken. Für ihn ist kein Problem, sich aus seinem schlichten Studenten-Zimmer im Wohnheim in Laptop und Smartphone seines Widersachers einzuhacken und über die integrierten Kameras in die Welt von Alex und vielen weiteren einzutauchen und einzuweben.
Stalken ist also Programm bei dieser herausragenden TV-Serie, die so auch hochaktuelle Themen wie pervasives Filmen und Fotografieren sowie die nahezu unbegrenzte Anwesenheit von Smartphones in allen Lebensbereichen verarbeitet.
2021 GeheimRat solicited comments from experts at the United Nations (OHCHR, UNCOPUOS, UNOOSA), the ETO Consortium, NASA, ROSCOSMOS, ESA, CNSA, and from the legal field as part of the funded conceptual art work UniBase#no.6173. The subject is the 2020 announcement that Elon Musk had hired SpaceX’s general counsel to draft a constitution for the planet Mars: „I’m actually working on a constitution for Mars. No country can claim sovereignty over heavenly bodies“ (David Anderman, former SpaceX General Counsel, 2020). Comments received were forwarded to the General Counsel, Vice President, COO, and SpaceX CEO Elon Musk, who were also asked for their assessments.
Incidentally, if one of the contracting states (currently 110) fears interference with the use and exploration of outer space and celestial bodies, it may request consultations on planned undertakings and experiments (Article IX Outer Space Treaty).
2021 hat GeheimRat im Rahmen dieser geförderten Konzeptkunst-Arbeit Expert:innen der Vereinten Nationen (OHCHR, UNCOPUOS, UNOOSA), des ETO-Konsortiums, von Weltraumagenturen und aus dem Rechtsbereich um Stellungnahmen gebeten. Gegenstand ist die 2020 bekannt gewordene Ankündigung, Elon Musk habe den Chefsyndikus von SpaceX beauftragt, eine Verfassung für den Planeten Mars zu entwerfen. Die eingegangenen Kommentare wurden an den Chefsyndikus, den Vizepräsidenten, den COO und an den CEO von SpaceX, Elon Musk weitergeleitet und auch diese wurden um ihre Einschätzungen gebeten.
Grundlegend für alle Aktivitäten im Weltraum sind den eingegangenen Stellungnahmen zufolge der Weltraumvertrag von 1967, die Charta der Vereinten Nationen und das Völkerrecht. Die Beanspruchung von Hoheitsgewalt, wie etwa das Installieren einer Verfassung, durch eine einzelne Nation oder durch nichtstaatliche Rechtsträger (wie z.B. das Unternehmen SpaceX) wäre folglich rechtswidrig (siehe Art. II, VI und VIII Weltraumvertrag).
Befürchtet übrigens einer der Vertragsstaaten (aktuell 110) Beeinträchtigungen der Nutzung und Erforschung des Weltraums und der Himmelskörper, so kann er Konsultationen über geplante Unternehmungen und Experimente verlangen (Art. IX Weltraumvertrag).
Händel verfasste seine eindrucksvolle Psalmvertonung für Soli, Chor und Orchester „Dixit Dominus“ während seiner vier Jahr währenden Italienreise, vermutlich begann er sie in Venedig und stellte sie 1707 und zwar im April in Rom fertig, so dass sie, ohne dabei einem Auftrag gefolgt zu sein, in der Kirche Santa Maria in Monte Santo, in Rom, im Juli 1707 uraufgeführt wurde. „Donna, che in ciel di tanta luce splendi“ war anschließend eine Auftragsarbeit von Papst Clemens XI. Die Kantante für Sopran, Chor und Orchester mit einem feierlichen Chorfinale schrieb Händel während seines Romaufenthaltes 1707/08 und wurde hier in Santa Maria in Ara Coeli im Februar 1708 uraufgeführt. Bachs frühe Choralkantate für Soli, Chor und Orchester „Christ lag in Todes Banden“, die Vertonung des gleichnamigen Osterliedes von Martin Luther aus dem Jahr 1524, entstand vermutlich während Bachs Aufenthalt in Mühlhausen 1707/08, wo er sich in der Blasiuskirche auf die vakante Organistenstelle vorstellte und wohl auch als Komponist empfehlen wollte.
„Donna, che in ciel di tanta luce splendi“: Herrin, die du voll Glanz im Himmel prangst
Es mag an einer vorangehenden Lektüre Michel Foucaults und an Gesprächen zu Foucaults Governementalitätsstudien („gouverner“ + „mentalité“), also zu Formen von Regierungen, Machtausübungen und Vermachtungen gelegen haben, dass hier im Folgenden statt einer Konzertrezension ein Essay entstanden ist, der sich an Ideenhistoriker*innen, Musik- und Kunstwissenschaftler*innen und ästhetische Philosoph*innen wendet:
Denn inmitten dieses Konzertes verschmolzen die von Foucault analysierte Pastoralmacht der christlich-religiösen Konzeption, die die Beziehung zwischen Hirt und Herde organisiert, mit derjenigen Macht, die sich zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert in weitere Bereiche des Regierens und zwar auf alle denkbaren Aktivitäten und Handlungen ausweiten sollte.
Zu Beginn der Neuzeit entsteht eine neue Form der Pastoralmacht, die sich als Totalisierungs- und Individualisierungstendenz moderner Staatlichkeit und moderne Subjektivität zeigt. Statt Seelen werden nun, so Foucault, Menschen regiert, weder die Gesetze Gottes noch die Interessen eines irdischen Herrschers würden sich nun mehr artikulieren, sondern eine Governementalität, die den modernen Menschen herausbilden lässt. An diesem Punkt weiten sich die innerhalb des Christentums entwickelten Führungstechniken (durch Beichte und Gehorsam) aus, erfahren eine Säkularisierung und entwickelten sich zu Mechanismen und Technologien der Disziplin. Christi Himmelreich ging bekannterweise in den Aufbau von geopolitischen Territorial- und Kolonialreichen über.
In genau diesen konzeptionellen Zwischenraum fallen Händel und Bach mit ihren Kompositionen von 1707/1708: Sie sind noch christlich pastorale und schon politische Machttechniken, die Regierungskünste sind zu diesem Zeitpunkt, so die These dieser Überlegungen, heterogen und diskontinuierlich, sie sind nicht mit religiösen oder staatlichen Institutionen identisch noch auf ein politisches System beschränkt, sondern sie zeigen sich in einer vielfältigen und doch eindeutigen Weise der Lenkung, Kontrolle und Leitung. Hier verknüpfen sich Herrschaftstechniken mit den Technologien des Selbst, Staatsformierung mit Subjektivierung. Fremdführung fällt mit Selbstführung, Beherrschung mit Selbstbeherrschung zusammen, und das umfasst sowohl die Instrumente, die Notensysteme, die Generalbassschrift, die Harmonien und Akkorde wie auch die Körper und Blicke, die Emotionen und Affekte, sowohl auf Seiten der Musizierenden als auch auf Seiten der Rezipierenden – mit einem akustischen und visuellen Ergebnis, das wahrlich zum Staunen bringt: „Halleluja“. So wird ansichtig, dass Macht keine einseitige Angelegenheit und das sich hierin entwickelnde (produ- wie rezipierende) „Subjekt“ auch nicht ohne Zwei- oder Mehrdeutigkeit zu haben ist.
Zeitlich nur knapp bevor das moderne, ästhetische Regime der Künste und dessen Betriebssystem in seinen Normativen der Präsenz, des Geniehaften und des Autonomen begründet und von einer Funktionslosigkeit befreit wurde, demnach Entregelungsprozesse in Gang gesetzt wurden, versetzen Händel und Bach beide Seiten des musikalischen Ereignisses in eine transitorische Lage. Mag hier die Ursache liegen, dass der Gründungsmoment des ästhetischen Regimes im 18. Jahrhundert noch von der Pastoralmacht überlagert war, so dass im ästhetischen Regime noch knapp die Dimensionen des Glaubens, der Wahrheit, der Schönheit, der Tugend und des Gehorsams eingenäht sind, so dass hier Versprechen (etwa ein Versprechen auf Freiheiten in Unabhängigkeit vom Regierungshandeln und damit ein machtfreies Areal) in Aussicht gestellt werden (können), die nicht einlösbar sind? Wurden so und zu dem Zeitpunkt die Bedingungen organisiert, unter denen beispielsweise die Freiheiten für die Kunst und Künste nicht produziert, sondern lediglich fabriziert werden? Und welche konstitutive (politische, historische) Rolle spielt innerhalb dieser Überlegungen die Generalbasspraxis (Basso continuo), die die polyphone Vokalmusik der vorangegehenden Epochen ablösten und auf eine Monodie umstellte? Deuten sich mit und in dem Basso continuo dieser Zeit bereits die im 18. Jahrhundert aufkommenden Sicherheitsmechanismen an, die dann zu der wichtigsten Aufgabe der Regierungsrationalität führen?
Hier wären Musik-, Kunst- und Kulturarchäologen aufgefordert, sich noch einmal mit dem 18. Jahrhundert auseinanderzusetzen und dessen Schichten freizulegen, an denen sowohl Bach und Händel, aber auch David Hume und Immanuel Kant beteiligt waren.
Literaturempfehlungen:
Foucault, Michel: Die Gouvernementalität, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/Main 2000, S. 41–67.
Lemke, Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg/Berlin 1997.
Zwei Vorbedingungen waren nahezu perfekt, um die preisgekrönte Performance-Oper der Biennale in Venedig 2019Sun&Sea (Marina) nach Luckenwalde in Brandenburg, 80 Kilometer südlich von Berlin, zu holen:
Erstens ist in Luckenwald 1928 ein von Hans Hertlein projektiertes Stadtbad errichtet worden, mit Wannen- und Duschbädern, Saunen und Massageräumen, mit einer überdachten Schwimmhalle und einer erhöhten, umlaufenden Galerie. Sun&Sea fand 2019 auf der Venedig Biennale in einer künstlichen Indoor-Beach-Kulisse in einem historischen Gebäude des Arsenale statt, hierfür wurden 30 Tonnen Sand nach Venedig transportiert. In Luckenwalde konnte Sun&Sea in einem tatsächlichen, noch dazu seit 15 Jahren verlassenen und zunehmend vom Verfall bedrohten Stadtbad stattfinden, so wie es sich die drei Initiatorinnen Rugile Barzdžiukaite, Vaiva Grainyte und Lina Lapelyte bei ihren Plänen für Sun&Sea ursprünglich gewünscht hatten.
Zweitens konnte der Strom des denkmalgeschützten Stadtbads für die Kunstproduktion durch die Abwärme des benachbarten Kraftwerks, gebaut 1913, generiert werden: Das frühere Kohlekraftwerk wurde 2019 als ein „Kraftwerk & Kunstzentrum“ reaktiviert, das seinen Strom durch Holzgasifizierung von Fichtenholz aus den brandenburgischen Wäldern herstellt und als sogenannten „Kunststrom“ in ein überregionales Netz einspeist. Sun&Sea, der Biennale-Erfolg von 2019, thematisiert den anthropogenen Klimawandel und die drohenden, vom Menschen verursachten Umweltkatastrophen – so zumindest die einstimmige Lesweise der Rezeption –, allerdings ohne das Thema auch nur ein einziges Mal explizit zu erwähnen. Eine gemeinnützige und zirkulierende Einspeisungsskulptur in Form des zusammengekoppelten „Kraftwerks und Kunstzentrums“ Luckenwalde bietet beispielhaft eine gegenwärtig-visionäre Gegenerzählung zu dem, was Sun&Sea künstlerisch performiert.
Das leerstehende Bauhaus-Stadtbad als Bühne und Kulisse und das E-Werk Luckenwalde „Kraftwerk & Kunstzentrum“ als Gastgeber und Stromversorger von und für Sun&Sea liefern damit weitere, nicht unwesentliche Bedeutungsebenen, zum Beispiel eine bis auf die Anreise und die Unterbringungen nahezu 100-prozentige CO2-neutrale Energieerzeugung, wie Pablo Wendel auf der Eröffnungsfeier betont. Dies dürfte die Inszenierung der Produktion an dem Wochenende 17. und 18. Juli 2021 wesentlich von allen anderen Stationen ihrer bisherigen und künftigen Tour unterscheiden, denn Sun&Sea wurde bereits 2017 in der Vilnius’ National Gallery of Arts uraufgeführt und war seit der Biennale 2019 in Venedig an verschiedenen Orten (Bergen/Norwegen, Zürich, Kopenhagen) zu erleben. Der Kontext des verlassenen Stadtbads potenziert die dystopische Dimension der Performance-Oper; in dem Kontext des E-Werks Luckenwalde wird der Klimawandel nicht nur implizit thematisiert, sondern hier werden in Berücksichtigung der Produktionsbedingungen alternative Energiebedingungen hergestellt. Damit handelt es sich um ein prototypisches Beispiel, wie der Kontext der Produktionsbedingungen die Bedeutungsbildungsprozesse künstlerischer Arbeiten und damit ihre Glaubhaftigkeit und Visionsfähigkeit und zwar im besten Sinne der hier angelegten ökologischen Themen beeinflusst. Hinzu kommt der Ort Luckenwalde selbst, den die Besucher*innen, ob mit der Bahn oder dem Auto angereist, auf ihrem Weg zum Kunstereignis passieren: Ein erodierender Ort, welche Gründe auch immer sich hier treffen …
Daher dürfte es den künstlerischen Leiter*innen Helen Turner und Pablo Wendel, die vor einigen Jahren das E-Werk erworben und reaktiviert haben, nicht schwer gefallen sein, das Team von Sun&Sea um die Filmemacherin Barzdžiukait?, die Schriftstellerin Grainyt? und die Komponistin, Musikerin und Performancekünstlerin Lapelyt? sowie die Kuratorin Lucia Pietroiusti (verantwortlich für das Programm General Ecology der Serpentine in London) zu überzeugen, dass sich das Stadtbad Luckenwalde und das nachbarschaftliche E-Werk hervorragend als Produzent eigne, um Sun&Sea an genau diesem Ort ein weiteres Mal zu inszenieren. Nachdem durch die Covid-19-Pandemie die Produktion drei (oder vier?) Mal verschoben werden musste, wurde sie nun gerade an einem Wochenende aufgeführt, an dem hohe Temperaturen mit sehr hoher Luftfeuchtigkeit herrschten und im Westen der Republik viele Menschen gegen ein Jahrhunderthochwasser ankämpften. Auch diese Kontextbedingungen hinterlassen ihre Spuren im Rezeptionsvorgang von Sun&Sea.
Wie schon 2019 auf der Biennale in Venedig standen die Besucher*innen der Performance getrennt von dem Performance-Geschehen auf einer umlaufenden Empore, um aus erhöhter Position auf die annähernd einstündigen Ereignisse einige Meter unter ihnen hinabzublicken: auf ein älteres Paar, das sich gegenseitig ihre Körper eincremte, ein schwules junges Paar, das sich nicht von der Hand ließ, ein Teenager-Zwillingspaar mit langen dicken Zöpfen, Ball oder Frisbee spielende Kinder, eine Yoga-Sonnengruß praktizierende junge Frau, eine strickende ältere Dame… Instantan und synchron entstanden so viele kleine, fraktale, montierte Mieses en Scène, manche von ihnen kamen innerhalb des dramaturgischen Gesamtnarrativs miteinander in Kontakt. Die Besucher*innen blieben Zuhörer*innen und Zuschauer*innen, allerdings in einer trotz ihrer physischer Anwesenheit eigenwilligen Abwesenheit. Denn trotz ihres eindimensional gerichteten, voyeristischen, die Szenerie überwachenden, hierarchischen Blicks von oben nach unten stießen sie auf die undurchbrochene vierte Wand des Theaters, blieben von den Performer*innen von unten nach oben ungesehen und wurden zwischen unterschiedlichen (mit Gérard Genette extra-, intra- und metadiegetischer) Zeitlichkeiten der Erzählhandlung und der Eigenwelt gehalten.
Von den gut 30 Performer*innen sangen etwa die Hälfte, auf ihren Handtüchern oder ihren Strandstühlen liegend, jede/r Opernsänger/in zunächst ganz für sich in seinen/ihren Gedanken sinnierend: über Ferien am Great Barrier Reef, über das schöne Leben („Oh la Vida“) und das „Liegen am Strand“, aber auch über ihre sichtbaren Hautveränderungen, das Korallensterben, die Euthropierung der Meere, über unvorhergesagte Vulkanausbrüche, Ertrunkene in Meeresströmungen, Panikattacken, Überhitzungs- und Müdigkeitssymptome:
„… gib hier noch Creme / auf meine Beine / Sonst Schälen sie sich noch / Werden rissig / Komm, ich crem dich auch ein… / Rot wie ein Krebs wirst du dich sonst (noch) …“
„Es empfiehlt sich, am Ufer zu bleiben, Kinder nicht unbeaufsichtigt Sandburgen bauen zu lassen und Steinchen und Muscheln, Bernstein und Zähnchen sammeln zu lassen! …“
„Der Vulkanausbruch war plötzlich eingetreten. Alle Diagramme und Tabellen null und nichtig. Die Kliamforscher hatten dieses Szenario gar nicht vorhergesehen.“
Die, in die „Performance-Oper“ eingestreuten, apokalyptischen Themen kollidierten mit dem Sichtbaren und waren nur aus dem auf Papier verteilten Libretto herauszulesen, vereinzelt aus dissonanten Kompositionen herauszuhören oder durch bedrohliche Soundübersteuerungen der Synthesizer zu interpretieren: „Die Krisen der Gegenwart entfalten sich leicht und leise – wie ein Popsong am allerletzten Tag der Erde“, heißt es im Begleittext der Veranstaltung und thematisiert damit eine bedrohliche Trivialität, wie sie auch in etlichen Bildungsromanen vor gut 100 Jahren erzählt wurde. Hier knarrt und keucht eine erschöpfte Erde, schreibt die Kuratorin Pietroiusti und Sätze wie solche geben klar den Bedeutungskontext und -zusammenhang vor. Die Einzelstimmen, die in englischer Sprache Soloparts wie die „Arie der Sirene“, das „Lied des Wetterchaos“ oder den „Überhitzungschanson“ sangen, wurden zwischendurch immer mal wieder in einem viel- und mehrstimmigen „Urlauberchor“ zusammengeführt und hierin entweder vokal belassen oder durch einen minimalistisch reduzierten Synthesizer-Sound begleitet. Das Stadtbad verstärkte seinerseits durch Echobildungen im Raum.
Sichtbar war eine unaufgeregte und harmlose Ferien- und Strandszenerie mit allen erwartbaren und unschuldig wirkenden Sommer- und Strandutensilien: Sonnencreme und Wasserflaschen, Flip Flops und Strandtaschen, Bücher und Handys, Sonnenschirme und Strandmatten, so dass hier statt von einer (von den Initiatorinnen so bezeichneten) Performance-Oper vielleicht doch besser von einer theatral/kinematografisch performativen Installation die Rede sein und damit auch das ‚in between‘ prononziert werden könnte. Wie die Gattungszuweisungen untereinander standen auch Szenographie und Performance in Diskrepanz zu Musik und Libretto. Die Patina der historischen, vom Verfall bedrohten Architektur drängte zu der Annahme, dass es sich hier um mehr als um die sichtbare Oberfläche handeln könnte, dass hier ein Mosaik von visuellen, akustischen, räumlichen, gefühlten, erzählten, imaginierten … Bedeutungen aufgeschichtet wird, die sich nach meinem Eindruck zu einer noch fragileren und dysfunktionaleren Szenerie und zwar einer Kakophonie vieler Stimmen (nicht) hätte vereinen können, statt in dieser Balance gehalten zu werden. Mag das damit zu tun haben, dass seit der Uraufführung bereits vier Jahre vergangen sind und sich die Umweltzerstörungen auch sichtbar zeigen? Oder hat sich die Lesweise der künstlerischen Arbeit mittlerweile eindimensioniert auf die ökologische Dimension reduziert? Die inhaltliche Dimension jedenfalls findet sich auch in der formalen Entscheidung wieder, die Performance über mehrere Stunden hinweg als einen repetetiven Loop ohne Anfang und Ende, ohne Ein- und (tröstlichen) Ausstieg aufzuführen und damit die Besucher*innen in between in die performierte Illusionsbrüchigkeit einzufangen.
70 Tonnen Sand wurden hierfür aus einer 200 Meter entfernten Sandgrube in das Stadtbad transportiert, von Hand gesiebt und auf 500 Holzpaletten verteilt, um das Höhenniveau und die Schräge des leeren Schwimmbeckens zu überwinden. Ein unter dem Sand verlaufender Feuerwehrschlauch trocknete und wärmte den feuchten Sand mit der Abwärme des benachbarten E-Werks. Zusammen mit den umliegenden Scheinwerfern als falsche Sonnen, die das Farbspektrum der Szenerie überbelichteten, heizte sich das Strandbad zu einem feucht-warmen Raum auf, in dem sich die Besucher*innen, mit Corona-Schutzmasken ausgestattet und am Geländer lehnend, mit dem Librettopapier Luft zufächelten. Um diesen Kraftakt zu finanzieren, initiierten Turner und Wendel zusammen mit ihrem Team neben der finanziellen Unterstützung etwa durch die Neustarthilfe der Bundeskulturbeauftragten und private Stiftungen eine Crowdfunding-Kampagne auf kickstarter.com, die 43.044 € einwarb und damit ein Drittel der Kosten abdeckte. „E-WERK Luckenwalde is an example of an institution that thinks ecologically across all levels of its programming and infrastructure“, sagt die Kuratorin Lucia Pietroiusti. Damit könnte sie auch meinen, dass der in Luckenwalde im E-Werk produzierte „Kunststrom“ in ein überregionales Netz eingespeist wird und jederzeit zur eigenen Energieversorgung genutzt werden kann . Darüber hinaus werden 100 Prozent der Einnahmen wiederum in Kunst und Nachhaltigkeit der gemeinnützigen Organisation investiert.
For further reading in English please see the bachelor thesis by Sandrina Welte 2020: The Lithuanian Pavilion of the 58th Venice Biennale: Sun & Sea (Marina), A Cacophonous Beach Humming with the Artistic Rhetoric of Performative Reflection, Studiengang Kunstgeschichte, Department Kunstwissenschaften, Ludwig-Maximilians-Universität München
In den Räumen eines brutalistischen Gebäudes aus den 1970er Jahren, in denen zuvor ein Supermarkt, ein Casino und Firmen aus den Bereichen Film-, Fotografie- und Musikproduktionen untergebracht waren, eröffnete im September 2020 das „Laboratory of Form-Idea“. SAVVY wurde 2009 von dem promovierten Biochemiker Bonaventure Soh Bejeng Ndikung als „Kunstraum, diskursive Plattform, Ort für gutes Essen und gute Getränke, Njangi-Haus und Raum für Gastlichkeit“ gegründet und positioniert sich heute nach mehreren Ortswechseln innerhalb Berlins als SAVVY Contemporary „an der Schwelle zwischen Vorstellungen und Konstrukten des Westens und des Nicht-Westens“. SAVVY will/soll nach Vorstellung der Initiator*innen ein Raum sein, der die Forderung des portugiesischen Soziologen Boaventura de Sousa Santos, dass ein anderes Wissen möglich sei, verkörpert und herausschreit. Verkörpern und Schreien gelingt allein durch die Architektur und die Lage des Hauses, an der prominenten Weddinger Kreuzung Reinikendorfer/Gerichtstr., gegenüber dem Nettelbeckplatz, inmitten des noch jungen Quartiers Pankstr. , in der Nähe der S- und U-Bahn-Station Wedding. An der brutalistischen Fassade flattern und formen nun größerformatige Pailletten den Namen des Kunstraums und können durch die eingefangenen Lichtreflektionen kaum übersehen werden. Um „die Kolonialitäten von Macht“ (Anibal Quijano) zu reflektieren und „darüber nachzudenken, wie diese Geschichtsschreibungen, Geographien, Gender und Ethnizität beeinflussen“, kommen hier Formate wie Ausstellungen, Workshops, Publikationen, Residenzen und Performances zum Einsatz.
Ndikung, 2020 vom Land Berlin mit einem Verdienstorden ausgezeichnet, ist jüngst zum neuen Intendanten des Berliner Hauses der Kulturen der Welt ab 2023 berufen worden. Parallel zu SAVVY war er 2015 als Curator-at-Large Teil des kuratorischen Teams der documenta 14, zuvor und im Anschluss verantwortete er verschiedene Ausstellungen in Algier, Dakar und Sonsbeek, 2019 kuratierte er zusammen mit dem Miracle Workers Collective den finnischen Pavillon auf der Venedig Biennale. Ndikung ist Initiator und Chefredakteur der Zeitschrift SAVVY art.contemporary.african, im Untertitel „critical texts on contemporary art“, und veröffentlichte im März den Essayband „The Delusions of Care„, in dem Ndikung sich mit dem Begriff der Fürsorge (care) auseinandersetzt, dabei sowohl die Fallstricke des korrumpierten Begriffs in den Blick nimmt, als auch versucht, Wege zur Rehabilitation, Wiederherstellung und Wiedergutmachung „durch einen nicht selbstsüchtigen Geist der Fürsorge“ zu denken.
Zweien dieser drei Substantive, „rehabilitation“ und „restitution“, widmet sich auch die aktuelle Ausstellung im SAVVY (23.6. bis 22.8.2021) und reichert sie mit einem dritten an, mit „reparation“. Gemeinsam mit den Kuratorinnen Elena Agudio und Arlette-Louise Ndakoze stellt Ndikung hier künstlerische Positionen von 20 Künstler*innen* aus, um die aktuelle Restitutionsdebatte, die sich auf den Teilbereich der Rückgabe konzentriert, anzureichern beziehungsweise, wie Ndikung formuliert, zu verkomplizieren. Rückgabe ginge von einer „Vorstellung von Raum und Zeit des Fortgangs“ aus und berücksichtige nicht die Wunden, die Gewalt, die Entbehrungen und Zerstörungen, die mit den Enteignungen einher gehen. „Wie können wir über Restitution in einem Kontext nachdenken, in dem sich Zeit und Raum nicht nur verändert haben, sondern noch prekärer geworden sind und die Grausamkeit der Kolonialität andere Formen angenommen hat?“
Mit dem Ausstellungsprojekt „For The Phoenix To Find Its Form In Us. On Restitution, Rehabilitation, and Reparation“, das in Kooperation mit der ifa Gallery Berlin** und dem Jameel Arts Centre in Dubai stattfindet und u. a. durch die Kulturstiftung des Bundes finanziert wird, widmet sich SAVVY den Bereichen Restitution, Rehabilitation und Entschädigung als Möglichkeiten, über die bloße Rückgabe von Objekten hinauszugehen. Für den Titel leiht sich das Kurator*innenteam eine Zeile aus einem Gedicht des palästinensischen Schriftstellers Mahmoud Darwisch: „Tuesday: The Phoenix. It is enough that you pass by words. For the phoenix to find its form in us …“ Die Mythologie des Phönix‚, der am Ende seines Lebenszyklus‘ verbrennt, um aus seiner Asche wieder neu zu erstehen, soll für die Ausstellung das Narrativ einer Wiederherstellung, Rehabilitierung und Wiedergewinnung jener Subjekte/Objekte/Wesen/Technologien erzählbar machen, die durch europäische Institutionen und ethnografische Museen, durch Menschen, Länder und Kulturen „in den Klauen des kolonialen Unternehmens weltweit“ waren – und sind.
Mit Fotografien, Videos, Audios, Objekten, Installationen, Zeichnungen, Performances, Vorträgen und Workshops sowie lokalen Laboratorien in Kamerun, Nigeria, Ruanda, Palästina, Kolumbien, Philippinen und den Vereinigten Arabischen Emiraten versucht das künstlerische Konzept, die trennende Unterscheidung von Objekten und Subjekten aufzuheben. Denn viele der sogenannten Objekte, die in westlichen Museen und Institutionen ausgestellt werden, waren/sind keine Objekte, auch keine Kunstobjekte, sondern Rituale, spirutelle Wesen, kulturelle Entitäten und Essenzen, so dass zunächst die deklarierten Objekte von ihrer Objekthaftigkeit befreit werden müssen. Dafür wären, so das Ausstellungskonzept, drastische Verschiebungen im westlichen Verständnis von Kunst, Autorschaft und Gesellschaft notwendig.
Diese drastischen Verschiebungen umfasst auch das Sprechen und Schreiben dessen, was zu sehen und zu hören, was nicht zu sehen und nicht zu hören ist. Zwar sind Autor*innen namentlich im ausliegenden Konzepttext genannt, finden aber im Ausstellungsraum selbst keine Erwähnung. Auch ist die Zuordnung zu den genannten Medien und Gattungen nicht so eindeutig und zweifelsfrei, wie es scheint: Ist die Grünpflanze im Eingangsbereich ein Exponat, ein Ausstellungsdisplay, eine Designposition, eine solidarische Gemeinschaft zwischen Non-Humans and Humans im Urban Space oder ein urbaner Agent? Gleiches gilt für verschiedene Einzelobjekte im Raum. Außerdem: Welcher Sound gehört zu welcher Visualisierung? Ist er überhaupt einer Visualisierung zugeordnet? Sind Objektaus- bzw. überleuchtungen oder Verdunklungen kuratorische Entscheidungen oder Bestandteil des künstlerischen Konzepts? Sind Blickverweigerungen kuratorische Entscheidungen, Resultat räumlicher Vorgaben, Bestandteil des künstlerischen Konzepts oder strategische Regimesichtbarmachungen? Und sind Überblendungen durch Sonneneinstrahlung auf Computerdisplays oder verblasste Farbfotografien in den Schaufenstern Kollateralschäden oder intendierte und implementierte Bedeutungsebenen? Das „Haus der Weißen Herren“ steht hier nicht mehr nur zur Diskussion und Disposition, sondern wird bereits im Ansatz affektuell, emotional und rezeptiv angegangen. Ich zitiere anonym: „SAVVY trifft als nicht-weiße Institution einen Nerv mit seinem Ansatz multi-direktionaler Erinnerung. Die haben kritisches Potenzial …“ und mache den Vorschlag, den hier verhandelten Komplex durch weitere drei R’s auszudifferenzieren und zwar durch Repatriation, Redress und Reconciliation.
*SAVVY Contemporary, 24.06.-22.08.2021, Do-So 14-19h. Mit Basel Abbas & Ruanne Abou-Rahme, Rand Abdul Jabbar, Tanya Aguiñiga, Nora Al-Badri, Daniela Zambrano Almidón & Pablo Santacana López, Memory Biwa, Benji Boyadgian, Hamze Bytyçi, Nora Chipaumire, Julien Creuzet, Ndidi Dike, Gladys Kalichini, Maurice Mboa, Senzeni Mthwakazi Marasela, Noara Quintana, Michael Rakowitz, Gabriel Rossell Santillán, Akram Zaatari.
**ifa-Galerie Berlin, 24.06.-29.08.2021, Di-So 14-18h. Mit Pio Abad, Samia Henni, Jumana Manna, Oumar Mbengue Atakosso, Bhavisha Panchia, Michael Rakowitz
Kleiner gleich 15 zu 1 lautet die magische Formel, die Adrian Piper in ihrem jüngsten Kunstprojekt in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stellt. Diese Formel bezeichnet das maximale Verhältnis zwischen Studierenden und Lehrenden, damit Bildung – ob in Schulen, Universitäten oder Berufsschulen – wirksam sein kann. „Jedes Kind und jede*r Studierende verdient diese Bildungsbedingungen.“ Nun setzt die Kausalkette ein: Ohne Bildung, so Piper, wären die Chancen eingeschränkt, das Leben selbst zu bestimmen und beispielsweise für die drängenden Probleme wie Armut, Klimawandel, Extremismus kluge Lösungen zu finden. Das wiederum führe dazu, dass die Wahlbedingungen, auch die politischen Wahlbedingungen eingeschränkt seien, denn: „Um wirksam zu wählen, müssen die Meinungen rational und ausführlich informiert sein.“ Ein gut informierte Meinung und die hieraus resultierende Wahl (auch die politische Wahl) setze eine gute Bildung voraus. Piper notiert ihre Argumentationskette demnach als linearen Dreierschritt: Ohne Bildung —> keine Chance —> keine Wahl. und baut dabei noch eine semantische Doppeldeutigkeit ein: „The German word Wahl means both ‘choice’ and ‘vote’“.
Kindern, Studierenden und Auszubildenden „sollte es möglich sein, umfangreich die Fakten zu erforschen, sie kritisch zu anaylsieren, ihre Folgen rational zu berechnen, alternative Möglichkeiten kreativ vorzustellen und sie fachkompetent auszudrücken und zu verwirklichen“. Die in New York geborene Adrian Piper, die seit 2005 in Berlin lebt und arbeitet, ist promovierte Philosophin, hat über 30 Jahre an sechs verschiedenen Universitäten gelehrt, ist emeritierte Professorin der American Philosophical Association und wurde als Konzeptkünstlerin mehrfach prämiert, u. a. mit dem Goldenen Löwen der 56. Biennale in Venedig 2015, dem Käthe Kollwitz-Preis 2018 und 2021 dem Goslaer Kaiserring. Ihre Arbeit „Wahlkampagne“ fordert ein Schüler-Lehrer-Verhältnis von nicht mehr als 15 Schüler*innen pro Klasse, in Deutschland befände sich der Schnitt zwischen 13 und 33. Während dieses Anliegen zunächst wie eine bildungspolitische Kampagne in Wahlkampfzeiten anmutet, handelt es sich um eine, schon seit 2019 stattfindende Substantiierung, Formuntersuchung und Kausalitätsbegründung von Demokratie, deren „wichtigster Teil nach der Bundestagswahl“ beginnen würde, nämlich die kontinuierliche, nachhaltige und dringliche Betreuung dieser Forderung. Beabsichtigt ist eine langfristige Politisierung, Selbstermächtigung und Demokratisierung.
Soweit der konzeptionelle Unterbau: Mit schwarz-weissen Sandwichboards vor dem Bauch und hinter dem Rücken (in 10er Auflage), die sowohl über die Formel kleiner gleich 15 zu 1 als auch die Kausalkette informieren, begaben sich Piper und einige Mitstreiter*innen am 15. Mai 2021 im Rahmen einer angemeldeten Demonstration vor den Bundestag, um mit Passant*innen ins Gespräch zu kommen und Handouts zu verteilen, in denen das Projekt „Wahlkampagne“ textlich vermittelt wurde. Das Handout informiert, dass es sich hierbei um den 3. Teil der von der APRA Foundation Berlin urheberrechtlich geschützten und finanzierten Aktion handelt: „Standardgröße, Auflage von 10 Schichtentafeln, in der Nähe des Bundestags auf der Staße mindestens einmal für eine Stunde zwischen 10 und 18 Uhr in der Öffentlichkeit zu tragen und dabei den Anstecker kostenlos zu verteilen.“
Die nächste Demonstration findet am Dienstag, 22. Juni 2021, zwischen 12 und 14 Uhr, wieder vor dem Bundestag statt. Teil 1 und 2 von „Wahlkampagne“ umfassen die Installation von Schildern an den Fassaden öffentlicher Berliner Gebäude und die kostenlose Verteilung von 15:1-Ansteckern in der Größe 3,5 x 4,5 cm, in unbegrenzter Auflage. Plakate von Argumentationskette und Formel sind zur DIY-Anfertigung downzuloaden – damit wird die ästhetische Tradition künstlerischer „giveaways“ fortgesetzt, allerdings ohne aus dem Öffentlichen zu verschwinden. Die Kosten für Platzierung und Befestigung der Schilder, bevorzugt an Fassaden in der Nähe des Bundestags, übernimmt die APRA Foundation Berlin.
Teil 2 von „Die Balkone“ startete am gestrigen Freitag, 30.4.2021. Nachdem dieses Format 2020, wenige Woche nach dem Beginn der COVID-19-Pandemie, von den beiden Public Art-Kuratorinnen Övül Ö. Durmusoglu und Joanna Warsza ohne Budget ins Leben gerufen wurde, findet „Die Balkone“ nun schon das 2. Mal und in ähnlicher personeller Beteiligung statt – diesmal aber zeitlich parallel zum Berliner Gallery Weekend und vom Hauptstadtkulturfonds unterstützt. Währenddessen wird das Leben noch immer von der Pandemie bestimmt und die Ausnahme ist längst zur Regel geworden.
Durmusoglu und Warsza entdeckten während des 1. Lockdowns die Balkone als zugleich private wie öffentliche Orte, als Schwellen und „Terrassen der Offenheit und Hoffnung“, um genau hier und hierdurch kuratorische Begegnungen zu initieren. Sie luden im Prenzlauer Berg lebende Künstler*innen, Kurator*innen, Schriftsteller*innen, Architekt*innen und Choreograph*innen ein, um in ihrer Nachbarschaft erstens Gemeinschaftlichkeit und zweitens Öffentlichkeit herzustellen – beides drohte durch die isolierenden Lockdown-Maßnahmen abhanden zu kommen.
Während Teil 1 der Kunstaktion im halb-öffentlichen, halb-privaten Bereich der Balkone noch zeitspezifisch mit „Life, art, pandemic, proximity in windows&balconies“ benannt wurde, lautet der Untertitel der diesjährigen Aktion „Scratching the Surface“. Diesmal geht es um Ortsspezifizitäten in Form von Gentrifizierungsprozessen im Prenzlauer Berg, von verteidigten Orte wie das Ernst-Thälmann-Denkmal und von (kunst-)historischen Orte wie die frühere Berliner Wohung des Performancekünstlers Rirkrit Tiravanija, die nun im Rahmen von „Die Balkone“ als Künstlerarchiv zu Be-/Deutung gelangen soll:
Tiravanija hatte hier zwischen 1998 und 2004 neben New York und Chiang Mai eine seiner nomadischen Residenzen, auch hier fanden in-situ einige seiner Essen und Treffen mit Künstlerkolleg*innen statt: Seit den 1990er Jahren besteht ein Teil seiner künstlerischen Arbeit darin, Besucher*innen seiner Austellungen zu bekochen und provisorische Situationen für ein gemeinsames Essen herzustellen. Während Tiravanija mit seinen „Food Pieces“ in Galerien und Ausstellungshäusern „Privates“ öffentlich performierte und damit auch den Disziplinierungsrahmen White Cube strapazierte, fügen die beiden Kuratorinnen mit einem „privaten“ Ort in der Greifswalder Straße, an dem Tiravanija seine legendäre Tom Kha Soup gekocht haben soll, der Tiravanija-Rezeption einen weiteren (deutungspotenten) Baustein hinzu. Ein 20-Liter-Topf auf dem Herd in der Küche soll Tiravanija in der Wohnung zurückgelassen haben, das Rezept der Tom Kha Soup wird den heutigen Besucher*innen als Schwarz-Weiss-Kopie überreicht.
Der am Erker-Fenster platzierte, digitalisierte 8mm Film „Greifswalder Strasse“ von Tiravanija zeigt größtenteils Schwarz-weiss-Aufnahmen des städtischen Lebens 1998 um das Ernst-Thälmann-Denkmal, das sich schräg gegenüber befindet. Hierdurch überschneiden sich kuratorisch klug positioniert die Blicke der Ausstellungsbesucher*innen heute einerseits mit Tiravanijas früheren Blicken, andererseits mit malerischen Rezeptionen des Denkmals von Timur Celik, der das Denkmal auf mattem Grau in hyperrealistisch, aber doch verschwommener Malweise auf ungerahmter Leinwand porträtiert und mit Stahlnägeln an die rauhe Wohnungswand geheftet hat.
Video, Denkmal, Leinwand, alles platziert in Tiravanijas ehemaliger Wohnung, nun zu einem (kunst-)öffentlichen Ort transformiert – für die Besucher*innen ergibt sich hiermit (und mit weiteren, selten oder nie gezeigten Arbeiten, die für „Die Balkone“ in der Wohnung installiert wurden, z.B. der Film „Eva and Ulrike“ (1998), der die Kunstrestauratorin Eva Wein, mit der Tiravanija die Wohnung teilte, und ihre Schwester Ulrike genius loci beim Kammerkonzert zeigt, ebenso Videos aus Tiravanijas Residenzen in NY und Chiang Mai) eine anregend zu dekonstruierende Überschneidung von Zeiten, Blicken, Orten, Ost/West, Bedeutungsschichten, Zuweisungen etc. Hier wird in Zusammenarbeit mit Jörn Schafaff, dem Leiter des Rirkrit-Tiravanija-Archivs in Berlin, installativ und kuratorisch die Wohnung als ein Archiv entfaltet.
An dem sich schräg gegenüber befindlichen, öffentlichen und politisch prekären Denkmal Ernst Thälmanns, bei dem es sich seit 2014 unter Denkmalschutz gestellt um eines der wenigen erhaltenen DDR-Denkmäler handelt, fand gestern Nachmittag die Vernissage von „Die Balkone“ und der Start der laufenden Aktion „Complaints to Ernst, Ongoing“ von Sam Durant und Ana Prvacki statt: Bezogen auf die Idee der Seifenkiste oder des Zócalo als improvisierte Plateaus, die der öffentlichen Rede dienten, lädt „Complaints to Ernst, Ongoing“ ein, der Kolossalstatue Thälmanns mit Megaphonen seine/ihre Sorgen oder Beschwerden mitzuteilen. Aus einer öffentlichen Geste wird dabei unvermutet inmitten eines Publikums und am Rande der stark befahrenden Greifwalder Straße eine leise, intime Zweier-Situation zwischen dem/der Klagenden und dem Denkmal.
Südlich des Thälmann-Denkmals Richtung Mitte befinden sich um die Greifswalder Straße herum verteilt etwa 40 Balkone, nach denen das Gesamtprojekt benannt wurde. Manchmal existieren konkrete Hinweise auf die Autorenschaft, manchmal kann man* nicht sicher sein, ob es sich um eine Arbeit im Rahmen der Balkon-Ausstellung handelt und manchmal schärfen sie den Blick auf Graffitis oder andere Stellungnahmen im Stadtraum.
So pendelt aus einem Balkon ein Vogelkäfig, in dem Adam Broomberg mehrere Utensilien eingeschlossen hat: die Zähne seiner Großmutter, die den Holocaust überlebt hat, ein Knochen seines Hundes Olly aus Kindertagen, das geschenkte Skellett eines Seepferdchens, eine Armbanduhr mit dem Porträt von Sadam Hussein und eine Schachtel Antidepressiva, dazu ein Zettel, der diese Bestandteile auflistet. Eyse Erkmen hat mit „Lonesome George“ eine kleine Bronzeskulptur des letzten Exemplars der mittlerweile ausgestorbenen hawaiianischen Baumschnecke (Achatinella apexfulva) 1:1 gefertigt, die von Eva Scharrer an einem Baum in einem Hinterhof platziert wurde und von einer Studierenden der Weißensee Kunsthochschule bewacht wird. Daher heißt die Arbeit auch paradox formuliert „Lonesome George (with guard)“.
Pinar Ogrenci lässt einen scharz-weißen Stoffdruck mit dem Bild der Kommunalpolitikerin und Widerstandskämpferin Ella Kay von einem Balkon in der Winsstraße flattern, um daran zu erinnern, dass diese Straße vor 1933 nach Kay benannt war.
Christine Würmell montiert schwarz-weiss verschiedene Zeichen der Friedensbewegungen der 1980er Jahre sowohl in der DDR als auch in der BRD, von der Friedenstaube in unterschiedlichen Versionen über das Friedensbanner Stop the Arms Race hin zu Schwerter zu Pflugscharen.
David Rych referenziert mit „Untitled (Our Time)“ die Arbeit „Untitled (Perfect Lovers)“ von Félix González-Torres, mit dem dieser 1991 die noch verbleibende gemeinsame Lebenszeit mit seinem an AIDS erkrankten Partner Ross Laycock thematisierte. 2021 hängen jetzt die beiden Uhren, durch die Tektonik der Fassade vorgegeben, in (epidemischer) Distanz.
In jedem einzelnen Fall werden die Balkone durch die rezeptorischen Blicke eines sich hier nomadisch, fragmentarisch und mobil konstituierenden Kunstpublikums aus einer tendentiell privaten Zurückhaltung herausgerissen und sind damit Akteur potentieller Vergemeinschaftungsprozesse. Gleiches gilt für den öffentlichen Raum: Dieser weitet sich über die rezeptorischen Blicke des Kunstpublikums auf die Kunstwerke als Mittlungen in Privatheiten/Privates, zum Beispiel wer wo wie wohnt. Die Ausstellungsreihe „Die Balkone“, die mittlerweile auch an anderen Orten wie in Kreuzberg, in Paris, Stockholm, Santiago de Chile, São Paulo und Taipeh stattfindet, hat damit das Potential, zusammen mit den anderen Bausteinen der Ausstellung die Fragen zu verhandeln, was Privates/Privatheit/Privatisieren ist, wie Öffentlichkeit/en entstehen, was Kunst im öffentlichen Raum heute (auch im Vergleich zu früheren Konzepten) bedeutet und was Kunst als öffentlicher Raum in Gang zu setzen in der Lage ist.
Die Ausstellung Shifting Patterns | Dönüsen Paternler in der Galerie Nord | im Kunstverein Tiergarten zeigt bis zum 27.03.2021 ausgewählte künstlerische Positionen von sieben Bildhauerinnen „aus der Türkei in Deutschland“. Geboren zwischen 1932 (Yildiz Tüzün) und 1986 (Ekin Su Koç) teilen sie die Erfahrungen von Ortswechseln in verschiedenen Varianten: Einige der Künstlerinnen sind nach Deutschland immigiriert, andere haben zeitweise in Deutschlang gelebt oder wechseln zwischen den Ländern.
Laut Konzeption der Kuratorinnen Veronika Witte und Ay?e Güngör geht es um die Frage, „ob und in welcher Weise die Erfahrungen von Aus- und Einwanderung die bilhauerischen Strategien von Künstlerinnen aus der Türkei im 20. und 21. Jahrhundert formal wie inhaltlich geprägt haben“. Perspektiviert wird also, ob und wie sich die Biografien der ausgestellten Künstlerinnen in ihre künstlerischen Strategien und ihren Umgang mit Materialien einschreiben.
Zu sehen sind Objekte, Skulpturen, Keramiken, Installationen, Videos und eine Animation, aus den 1990er Jahren und jüngster Zeit. Installiert an der Wand, auf Sockeln unterschiedlicher Höhe, am Boden oder im Raum hängend sind Werke von Burçak Bingöl, Gülsün Karamustafa, Evrim Kavcar, Ekin Su Koç, Azade Köker, Yasemin Özcan und Yildiz Tüzün zu sehen (bzw. corona-bedingt nicht zu sehen, da auch diese Kulturinstitution geschlossen ist). Allerdings sind die von außen einsehbaren Räume mit ihren großformatigen Fenstern dazu geeignet, einen großen Teil der Exponate von außen sehen zu können. Hinzu kommt in der Dämmerung ein Screening der Multi-Image-Arbeit von Evrim Kavcar „Odd Friends, They Are“ (2016) in den Fenstern der Galerie.
Danke an Lusin Reinsch für die Möglichkeit, die Ausstellung gesehen haben zu können!
Der Berliner Aktions- und Performance-Künstler Daniel Chluba wurde im Rahmen des von Lukas Pusch initiierten Formats der Antist, Zeitschrift der Wiener Avantgarde zu einer Ausstellungsbeteiligung in der Knoll Galerie Wien, Gumpendorfer Str. 18, Vernissage am 08.November 2017, 19:00 Uhr eingeladen, um dokumentierendes Material seiner in Wien durchgeführten Performance Hasskäppchen auszustellen. Die Performance fand unter anderem am 7. Oktober 2017 auf dem Stephansplatz in Wien statt.
Gegen 11:00 wurde Chlubas Performance durch Polizeibeamte wegen eines vorgeblichen Verstoßes gegen das erst wenige Tage zuvor in Kraft getretetene Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz abgebrochen und der Künstler in sogenannter Vorhaft genommen. In einem offenen Brief hatte der artLABOR e.V. 2017 die Interessen von Daniel Chluba formuliert.
Drei Jahre später hat das Verfahren bemerkenswerte Wendungen durchlaufen, weshalb wir im November 2020 für Chluba nochmals ein Schreiben an das Verwaltungsgericht Wien sowie das Präsidium der Landespolizeidirektion Wien formuliert haben.
Sehr geehrte XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX,
mit Vollmacht vom 06.11.2020 (siehe S. 4) geben wir für Herrn Chluba die nachfolgenden Erklärungen ab. Aufgrund der aus unserer Sicht bemerkenswerten Abläufe und Vorkommnisse im Verfahren mit dem Geschäftszeichen VStV/0000000000/2017 halten wir es für gegeben, das Verwaltungsgericht Wien wie auch das Präsidium der Landes-polizeidirektion Wien über alle Erklärungen gleichermaßen zu informieren:
1. Fortgang des Verfahrens
Herr Chluba verzichtet auf Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Wien vom 28.08.2020 (Eingang am 17.10.2020).
Die verfassungsrechtlichen Fragen, die wir in unserem Beschwerdeschreiben vom 14.12.2017 dargelegt und aufgeworfen haben, würden nach unserer Einschätzung und nach Rücksprache mit einem Verwaltungsrichter nicht thematisiert werden können. Es ginge allenfalls um die Fragen, ob eine Verfahrenseinstellung nach § 43 VwGVG oder ob die Versagung einer Revision vor dem Verwaltungsgerichtshof den Beschwerdeführer verfassungsrechtlich in seinen Rechten einschränkt oder nicht. Beides sind für den Beschwerdeführer derzeit keine bedeutsam zu klärenden Fragen.
Auch wenn es zu einer ähnlichen Rechtsauffassung gelangte wie die Beschwerdeführerseite, wäre beim entstandenen oder herbeigeführten Verfahrensstand selbst dem Verwaltungsgericht Wien die Möglichkeit einer Prüfvorlage beim Österreichischen Verfassungsgerichtshof verstellt. Da die in der Beschwerde aufgeworfenen Fragen aus Sicht des Beschwerdeführers jedoch von einiger Bedeutung für gleichwertige Beurteilungen in unterschiedlichen Staaten der Europäischen Union sind und vor diesem Hintergrund auch die weiteren Einlassungen von Herrn Chluba verständlich werden, rufen wir den Beteiligten die verfassungsrechtlichen Fragen, die wir durch Vorlage beim Verfassungsgerichtshof zu prüfen beantragten, hier noch einmal in Erinnerung:
Wie im Beschwerdeschreiben vom 14.12.2017 dargelegt, sehen wir in der ersatzweise Haftstrafe androhenden Regelung im Falle von Uneinbringlichkeit einen schwerwiegenden Verstoß gegen Artikel 1 des 4. Zusatzprotokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention, denn hierin ist ein Verbot der Freiheitsentziehung wegen Schulden verbrieft. Da Menschenrechte zunächst immer das Verhältnis zwischen Bürger:innen und Staat regeln, kann gesetzlich, so wie im konkreten Fall, keine Ausnahme für den Staat bestimmt werden, ohne damit gleichzeitig Art. 17 EMRK zu verletzen.
Wie im selben Schreiben dargelegt, machen wir in der ersatzweisen Haftandrohung in Höhe von 9 Tagen und 8 Stunden gegenüber der verhängten Geldstrafe in Höhe von € 100,-, abzüglich € 0,36 für 49 min. erlittener Vorhaft, insgesamt also € 99,64, eine Verletzung jeden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus.
2. Stichtag und seine Folgen
Zunächst festzuhalten ist, dass die Landespolizeidirektion Wien die Ablehnung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand mit § 43 Abs. 1 VwGVG begründet und das Verwaltungsgericht Wien dies als rechtmäßig bestätigt hat.
Mit dieser rechtlichen Einordnung lässt sich nun aber auch ein Stichtag in den Blick nehmen, nämlich Freitag, der 15.03.2019. Denn das ist genau der Tag, an dem 15 Monate nach Einreichung der Beschwerde die Verjährung dieses Verfahrens einsetzte. Für die weiteren Verfahrensabläufe zeigt sich wohl XXXXXXXXXXXX verantwortlich, der, wenn unsere Recherchen es richtig einordnen, aufgrund langjähriger und verdienstvoller Tätigkeit für den Bundesstaat Österreich durch den Bundespräsidenten zudem als XXXXXXXX ausgezeichnet wurde. Wir können also davon ausgehen, dass auf Seiten der Landespolizeidirektion Wien kein Anfänger am Werk war, sondern jemand, der wusste, was er tat. Es kann auch davon ausgegangen werden, dass XXXXXXXX aus langjähriger Erfahrung weiß, dass ein Verfahren 15 Monate nach Einreichen der Beschwerde ohne rechtskräftiges Urteil verjährt und, wie das Gericht folgekonsequent entschieden hat, eine möglicherweise bestehende Forderung damit uneinbringlich ist. Schauen wir uns also an, was die Landespolizeidirektion Wien nach dem Stichtag 15.03.2019 in Gang gesetzt hat:
Mit Datum 28.11.2019, also mehr als 8 Monate nach Eintritt der Verjährung des Verfahrens, verschickt Herr XXXXXXXX einhergehend mit der Tatsachenbehauptung, dass der Bescheid nun vollstreckbar sei, eine Mahnung in Höhe von € 115,- an Herrn Chluba. Dies geht einher mit der Drohung, dass der Geldbetrag durch Exekution hereingebracht würde und im Fall der Uneinbringlichkeit durch Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt würde. Herrn Chluba wurde damit also nicht nur eine falsche Tatsachenbehauptung, die bei ihm zu einer Vermögensverfügung führen sollte, entgegengehalten, ihm wurde bei Uneinbringlichkeit zudem mit einem empfindlichen Übel, in Form einer Haftstrafe gedroht.
Abgesehen vom unzeitgemäß befremdlichen und auch irreführenden Vokabular lässt sich bei dieser Mahnung, so wie Herr Chluba dies auch in seinem Schreiben vom 18.12.2019 formuliert hat, vielleicht noch von einem bedauerlichen Irrtum sprechen. Etwas anders stellt es sich bzgl. der nachfolgenden Entwicklungen dar, die dann schon annähernd 12 Monate nach Verjährung des Verfahrens in Gang gesetzt wurden und ihren Höhepunkt etwa 15 Monate nach der Verjährung erreichten. Aufgrund unserer Einlassungen vom 19.02.2020 hat das Verwaltungsgericht Wien mit seinem Schreiben vom 26.02.2020 an die Landespolizeidirektion darüber aufgeklärt, dass die Beschwerde des Beschwerdeführers vom 14.12.2017 erstmalig durch Schreiben des Beschwerdeführers vom 19.02.2020 dem Gericht zur Kenntnis gelangte und fügte hinzu: „eine Vorlage durch die Behörde erfolgte bis dato nicht.“
Dem Schreiben des Verwaltungsgerichts Wien an die Landespolizeidirektion Wien war die Beschwerde des Beschwerdeführers vom 14.12.2017 dabei angefügt.
Selbst wenn, wie später behauptet, die Beschwerde im Zuge des Verfahrens im Dezember 2017 oder etwas später nicht in die Akte gelangt sein sollte, dann musste die LPD Wien spätestens ab dem 26.02.2020 Herrn Chluba entlastet und sich selbst gleichermaßen erheblich belastet sehen.
Dennoch erwirkte die Landespolizeidirektion Wien im Mai 2020 einen sofort vollstreckbaren Haftbefehl gegen Herrn Chluba und ließ am 02.06.2020 über das Berliner Finanzamt Prenzlauer Berg eine Vollstreckungsankündigung zustellen, in der ausdrücklich auf den durch die LPD Wien erwirkten Haftbefehl hingewiesen wurde. Erschwerend musste diese Drohung von Herrn Chluba empfunden werden, da bereits in der Mahnung vom 28.11.2019 nur die Möglichkeit der Zahlung eines Betrages von € 115,- als auflösende Handlung angeboten wurde.
Es hat uns zwar nicht vollends überrascht, dass das Erfüllen wesentlicher Tatbestandsmerkmale des § 146 StGB durch die LPD Wien über die Begrenzung der Strafbarkeit mit § 7 Abs. 1 StGB gleich wieder aufgehoben wird, gleichwohl sehen wir im Verhalten der Landespolizeidirektion Wien mindestens Fahrlässigkeit, wenn nicht gar grobe Fahrlässigkeit erfüllt und erheben hiermit auch aufgrund des mithin doch sehr eigenwilligen Rechtsstaatsverständnisses der Behörde
Dienstaufsichtsbeschwerden gegen
1. den XXXXXXXXXXXXXXXX sowie 2. die verantwortlich involvierten Mitarbeiter:innen der Landespolizeidirektion Wien.
3. Durchführung der Kunstperformance in Wien
Bereits zweimal wurde die Kunstperformance Hasskäppchen in rechtswidriger Anwendung des Anti-Gesichtsverhüllungsgesetzes und mit Verstoß gegen die grundgesetzlich garantierte Kunstfreiheit durch Polizeibeamte in Wien abgebrochen und Herrn Chluba damit auch die freie Ausübung seines Berufes als Performance-Künstler verwehrt.
Wir kündigen hiermit an, dass die Kunstperformance Hasskäppchen von Daniel Chluba erneut in Wien zur Aufführung gebracht werden wird und Herr Chluba einem nochmals rechtswidrigen Abbruch vorbereiteter begegnen wird, um ggf. die bereits in diesem Verfahren aufgeworfenen, aus unserer Sicht verfassungsrechtlich bedeutsamen Fragen tatsächlich zur Verhandlung zu bringen.
Wie in der Vollmacht ersichtlich, machen wir abschließend auf die geänderte Postanschrift von Herrn Chluba aufmerksam: XXXXX Berlin
Mit freundlichen Grüßen,
erwin liedke [member of board, artLABOR e.V., Berlin]
ANHANG
Vollmacht für artLABOR e.V. vom 06.11.2020 – [1 Seite]
A live field study of the seminar Everything is live now. Das Kunstsystem im Ausnahmezustand, at the Institute for Art History, Ludwig-Maximilians-University Munich, in summer term 2020, Prof. Dr. Birte Kleine-Benne, supported by Praxisbüro of the Department Kunstwissenschaften of the LMU Munich.
The term Ausnahmezustand / State of Exception becomes more important in times of crisis – both in everyday life and in the sciences. What is the significance today of the term technicus, which was first coined by Carl Schmitt[1] and later further investigated in by Giorgio Agamben[2]?
The Corona-Crisis has created new dynamics within society and the systems of the state generating new rules and policies. Almost everybody is now used to keeping a distance, to being isolated and to covering their mouth and nose e.g. wearing a mask. Politics, medicine and medical care and sciences permeate each other, becoming and acting together as a force, by working in constant exchange. But what impact does the pandemic have on the arts? Isn’t the system of arts itself in a state of exception?
The 15th of March stresses the beginning of the so-called first lockdown[3] for all museums, galleries, theatres and all cultural institutions as well as for all the people working in a cultural context. Museums are called upon to digitise their collections and make them accessible online. Theatres are moving their rehearsals to video chats and their premieres to the internet. Artists (m / f / d), actors (m / f / d), art directors (m / f / d), curators (m / f / d), art educators (m / f / d) and scientists (m / f / d) are looking for strategies to secure their existence. It is (still) unknown how long this state of exception will last and what this means for them, for exhibitions, productions, income, fees, the art market and art institutions. Furthermore, the pandemic reveals structures, strengths and weaknesses, doubts and uncertainties. Newspapers as well as technical literature are reporting about the corona crisis. The 15th of July is representative for a first and provisional end point, explained by the gradual opening of cultural institutions.
The reports by art magazines, feuilletons, blogs and social-media- accounts enable one to investigate the development of the pandemic through Live field studies. Hence texts have been collected, archived, classified and made accessible, from the 15th of March to the 15th of July. These can be found via online channels, search engines and social media on the topics state of exception, pandemic, corona and the art system and are still accessible on World Wide Web with an URL. The outcome is an Open Source- and Open Access Archive which broaches the issue of the corona pandemic and its impact on the arts from the 15th of March to 15th of July. The archive is publicly available, usable and also editable through an editing link for which everybody can be authorised for per e-mail. Just send your requests here: dock@artlabor.eyes2k.net
The sources were mainly collected with Twitter[4] and edited with CryptPad[5]. The documents of this software can be shared and edited in real time. CryptPad uses a hundred percent client-side encryption (Zero-Knowledge-Encryption) to protect the content in its entirety. Even if the link to the document is shared, only a cryptographic key is transmitted. The archive can be used anonymously and free of charge and also can be used for research, reading and knowledge gain.
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[1] Cf. Schmitt, Carl: Politische Theologie, Duncker & Humbolt, Berlin 1922.
[2] „Der Ausnahmezustand ist in diesem Sinne die Eröffnung eines Raumes, in dem Anwendung und Norm ihre Getrennheit zur Schau stellen und worin reine Gesetzeskraft eine Norm umsetzt (sprich: sie anwendet, indem sie sie nicht anwendet), deren Anwendung suspendiert worden ist.“ Cf. Agamben, Giorgio: Ausnahmezustand, Suhrkamp, 7. Edition, Frankfurt am Main 2017, p. 51.