Jonathan Meese – kurzweilig und dogmatisch

Es ist gut, dass an diesem goldenen Herbst Sonntag-Mittag immer auch der Hauch des Hofnarren mitschwingt, wenn Jonathan Messe, begleitet von seiner Mutter und Ratgeberin, Brigitte Messe, sowie Intendant Thomas Oberender im Foyer des Berliner Festspielhauses mit Pressevertretern durch die von ihm errichteten Installationen wandelt, die seine Opernregie bei „Mond-Parsifal Beta 9-23″* flankieren. Unterstrichen wird seine Rollenbesetzung dabei durch zahlreiche Anleihen an eine Stand-Up Performance.
Wollte man diese Rollenzuschreibung nicht zugestehen, blieben allerdings inkonsistente Eindrücke zurück.


Jonathan Meese, Mutter Brigitte Meese sitzend links

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Die Räumung der Volksbühne

Am 28.9.2017 wurde nachmittags auf Wunsch des Intendanten der Volksbühne Chris Dercon die Räumung der besetzten Volksbühne durch die Polizei Berlin vorgenommen.

Informationen zum Verlauf der sieben tägigen Besetzung

Presseschau Stand 28.9.2017

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Die selbsternannte Besetzung der Volksbühne

Parallel zur Bundestagswahl 2017 und dem Berlin Marathon hat am Freitagnachmittag, 22.9.2017, die Aktivistengruppe „Staub zu Glitzer“ das Gebäude der Berliner Volksbühne, nach Eigenaussagen, besetzt.

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Ein gescheiterter documenta-De-Kolonialisierungs-Versuch

Der folgende Text ist im Konjunktiv II verfasst.

Es hätte sich, wie programmatisch von dem künstlerischen Leiter der documenta 14 Adam Szymczyk (gemeinsam mit weiteren 15 Kuratoren geplant und) im Oktober 2014 in der Kunsthochschule Kassel angekündigt wurde, um eine kuratorische Variante der Dekolonialisierung von neokolonialen und neoliberalen Haltungen, von Kunstgroßausstellungen und damit des Kunstbetriebs, von etablierter Kunstgeschichte, künstlerischen Themen, bevorzugten Formaten und Medien, Institutionen und Gewissheiten, uniformen Erzählungen und universalen Definitionen handeln können, …

Parlament der Körper, Fridericianum.

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Ortsspezifische Klangarchitekturen in progress

1610 publizierte Monteverdi seine „Vespro della Beata Vergine“ (Marienvesper) gemeinsam mit der „Missa in illo tempore“ unter dem Titel „Sanctissimae Virgini Missa…“, in deutschsprachiger Übersetzung: „Messe der Heiligsten Jungfrau zu sechs Stimmen für Kirchchöre und Vesper für mehrere Stimmen mit einigen geistlichen Gesängen für Kapellen oder Fürstengemächer geeignet“, und widmete sie Papst Paul V.

2017 trifft Justin Doyle für sein Antrittskonzert als Chefdirigent und künstlerischer Leiter des RIAS Kammerchor Berlin im Rahmen des Musikfests Berlin drei grundlegende Entscheidungen:

© Matthias Heyde, 2017.

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Was war eigentlich modern gewesen? Monteverdi, Scharoun und Gardiner

Vorbemerkung:
Was als Konzertbesuch begann, mündete nach drei Monteverdi-Opern in der Berliner Philharmonie,  aufgeführt im Rahmen des Musikfests Berlin 2017,  in einen kunstwissenschaftlichen Kurzessay. Denn die Begegnung von Monteverdi-Komposition, Scharoun-Architektur und Gardiner-Musikproduktion setzte aufgrund der Anhäufungen und Verschaltungen von Asymmetrien in Musikgeschichte, Aufführungspraxis und Architektur Gedanken in Gang, die um den Begriff des Modernen kreisten. Scharoun triggerte bzw. katalysierte in Regie von Sir Gardiner Spezifika von Monteverdi, so dass von einer In-situ-Inszenierung mit übergreifenden Erkenntnisgewinnen die Rede sein kann. Daher:

Was war eigentlich modern gewesen?

Die Menge der Vielzahl an Bedeutungen von ‚modern‘ erschwert es, eine eindeutige Antwort auf die Frage zu formulieren, was eigentlich ‚modern‘ war:
Für das Adjektiv hat jüngst noch einmal Klaus Bartels die in diesen Begriff eingebaute Differenz herausgestellt: Das lateinische ‚modernus‘ (neu, neuzeitlich, gegenwärtig) stammt vom lateinischen Adverb ‚modo‘ (eben, jetzt, eben gerade, eben erst, kurz zuvor, kurz hiernach), das an eine Geste des Abstands zwischen Daumen und Zeigefinder geknüpft war, hinzu kommt die Doppelbedeutung des lateinischen ‚modus‘ als Maß und Art und Weise. Modern war zunächst nichts anderes als die Abgrenzung zum überlieferten Alten. Der Begriff transportiert also automatisch einen Referenzbegriff, wie es etwa auch die Begriffe White Cube, Umwelt oder Kontext praktizieren.

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Eine Übung des Vertrauens. Zu Adrian Pipers „The Probable Trust Registry“

„Ich werde immer zu teuer sein, um gekauft zu werden.“ „Ich werde immer meinen, was ich sage.“ „Ich werde immer das tun, was ich sage.“ Der Vertrag ergänzt: „(Eintritt höherer Gewalt ausgenommen)“. Könnten und/oder würden Sie diese drei Axiome, im Futur I verfasst, unterzeichen und damit eine Vertragsverpflichtung mit sich selbst eingehen (können), künftig „immer zu teuer sein, um gekauf zu werden“, immer zu „meinen, was ich sage“ und immer das zu „tun, was ich sage“? Das Futur I – im Englischen heißt es im Vertrag „I will…“ und setzt damit das Future Simple für Vorhersagen, Versprechungen und spontane Entscheidungen ein – weist Sie darauf hin, dass der Sachverhalt zum Sprechzeitpunkt schon aktuell ist. Ein Kalkül, das es in sich hat: Ein spontanes Versprechen in Form eines Axioms, also eines beweislos vorausgesetzten Satzes, der zum Redezeitpunkt, besser zur schriftlichen Vertragsunterzeichnung schon aktuell ist und mit der Vertragsunterzeichnung fortan für immer selbstverpflichtend wirkt.

Diese Selbstverpflichtungen abverlangte, besser gesagt ermöglichte die US-amerikanische Konzeptkünstlerin und analytische Philosophin Adrian Piper, die 1981 bei John Rawls promoviert wurde und zuvor an der Uni Heidelberg zu Kant und Hegel forschte, den BesucherInnen des Berliner Hamburger Bahnhofs in diesem Sommer. Zuvor wurde sie 2015 für diese Arbeit, die bereits 2013 in New York zu sehen war, auf der Biennale in Venedig im Arsenale mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. In der historischen Lichthalle des Museums waren nun für gut sechs Monate in klarer Formensprache drei identische, goldfarben runde Empfangstresen zentriert vor drei deckenhohen, grauen Wänden plaziert, die sich nach an der Form der gebogenen Eisenträger orientierten. An der Wand hinter dem jeweiligen Tresen war in goldfarbenen Buchstaben ein einzeiliger Wandtext angebracht, bei dem es sich um eben einen dieser drei Axiome handelte. Je ein/e Rezeptionist/in hinter dem Tresen, dunkel und seriös gekleidet, meist jugendlichen Alters und temporär für die Dauer der Ausstellung beim Hamburger Bahnhof angestellt, stand für Nachfragen, Gespräche und die Aushändigung des unterzeichneten Vertrags auf Papier zur Verfügung. Auf dem Tresen ermöglichte ein Screen, den Vor- und Nachnamen einzugeben, eine digitale Unterschrift zu leisten und qua Berührung mit dem resistiven Touchscreen die Vertragsbindung einzugehen, die durch einen Drucker hinter dem Tresen sofort als zweiseitiges Papier ausgehändigt wurde. Neben dem Tresen hielt ein aufgestelltes Stehpult ein Papier, das die BesucherInnen auf deutsch und englisch über die 11 „Handlungsanweisungen“ bzw. „Spielregeln“ aufklärte, und zwar, dass alle UnterzeichnerInnen des Vertrags nach Ende der Ausstellung ein Verzeichnis der alphabetisch geordneteten Nachnamen aller UnterzeichnerInnen desselben Vertrags zugesandt bekämen, eine Kontaktaufnahme dann untereinander möglich wäre, indem die Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin kontaktiert würde, die nach der Einwilligung zur Adressweitergabe die Daten weitergebe. Das Verzeichnis selbst würde für 100 Jahre nach Ende der Ausstellung für die Öffentlichkeit unzugänglich aufgewahrt.

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Wie eine Ausstellung zur Öffentlichkeit Öffentlichkeit abschleift

Sucht man den Begriff Demopolis in der Suchmaschine Startpage, wird man zunächst auf den Wikipedia-Eintrag zur US-amerikanischen Stadt Demopolis in Alabama geleitet, ein Ort, der von einer Gruppe Bonaparten, also Anhänger der napoleonischen Diktatur, gegründet wurde, die nach dem Sturz Napoléon Bonapartes in die Vereinigten Staaten flüchteten. Bereits der zweite Eintrag führt zu der Webpräsenz der Ausstellung Demo:Polis in der Berliner Akademie der Künste, die im Untertitel „Das Recht auf Öffentlichen Raum“ heißt. (Die Reihenfolge in der Suchmaschine Google ist umgedreht.)

Mit dem Begriff Demo:Polis, also mit einem Doppelpunkt als Wort- bzw. Raumteiler oder bei URL’s als Trennung des Protokolls als Kontexthinweis (http, file oder ftp) vom Pfad zur Verortung der genauen Ressource (adk-berlin.de oder artlabor.eyes2k.net), noch dazu in Großbuchstaben (DEMO:POLIS) ist den Kuratoren Wilfried Wang und Barbar Hoidn, gemeinsame Gründer des Berliner Architekturbüros Hoidn Wang Partner die Kreation eines Mems oder auch eines Hashtags, also eines Erhöhungszeichens gelungen, das mit dem integrierten Doppelpunkt den semantischen Raum der Informatik öffnet. Und so heißt es denn auch in der Ausstellungsankündigung, dass hier nicht nur der „reale“ Raum, sondern auch der „virtuell-öffentliche“ des Internets Gegenstand des Interesses sei – eine Ankündigung, die sich in der Ausstellung selbst leider nicht einlöst, abgesehen von einer optisch reizvollen, installativen Projektion von kontinuierlich strömenden Metadaten eines (welchen? gehackten? aktuell operierenden?) Netzwerkprotokolls sowie einer textlichen, essayistischen Auseinandersetzung in dem mit 48,- EUR recht kostenintensiven Katalog zur Ausstellung.

Nähe Hamburger Bahnhof, Berlin
Nähe Hamburger Bahnhof, Berlin

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Foucault, die Dritte: Die Ordnung der Kunst

1966 legt Michel Foucault seine Abhandlung zur „Ordnung der Dinge“ (Les Mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines) vor, in der er „das Wissen über Lebewesen, über die Gesetze der Sprache und über ökonomische Zusammenhänge“ von der Renaissance bis zur Gegenwart philosophisch und historisch untersucht. Er diagnostiziert in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts und um 1800 zwei Brüche, um dann im 19. Jahrhundert die Humanwissenschaften (Psychologie, Soziologie, Kultur-, Ideen- und Wissenschaftsgeschichte) und im 20. Jahrhundert mit der Linguistik, Ethnologie und Psychoanlyse weitere Wissensformen entstehen zu sehen.

1970 setzt Foucault in seiner Antrittsvorlesung zu seiner Berufung am Collège de France mit der „Ordnung des Diskurses“ (L’ordre du discours, 1971 veröffentlicht) sein Ordnungsmotiv fort, in der er diejenigen Prozeduren herausarbeitet, die den Diskurs kontrollieren, selektieren, organisieren und kanalisieren, um dessen „unberechenbares Ereignishaftes zu bannen“. Durch Ausschließungsprozeduren, durch interne Prozeduren (Klassifikation, Anordnung und Verteilung) sowie durch die Verknappung des Autors würden die Kräfte und Gefahren des Diskurses gebändigt.

2016 versucht sich nun die interdisziplinäre Veranstaltungsreihe mit dem Titel „Fearless Speech. Anschlüsse an Foucault“ mit einem Sprachspiel an einem dritten Teil, an der „Ordnung der Kunst„. Hierbei handelt es sich um nur einen Slot (am 17.4.2016), mit dem neben anderen wie „Foucault und der Neoliberalismus“ (16.3.2016) „Foucault 40 Jahre danach“ (22.6.2016) untersucht werden soll. Die Veranstaltungsreihe am Berliner HAU versucht sich also nach Eigenaussagen an einer Revitalisierung und Reaktualisierung Foucaults, die zunächst rhetorisch oder auch taktisch deklariert erscheint, da Foucault angesichts der Disziplinierungs-, Macht- und Wahrheitsrelevanzen (Stichwort Facebook, Bankenrettung und „Lügenpresse“) heutiger Debatten zumindest im Wissenschaftsmilieu keine Aktualität eingebüßt hat, man also durchaus von einer ungebrochenen Rezeption Foucaults sprechen kann. Genauer formuliert versucht die Veranstaltungsreihe eine „ästhetische Wende“ in der Rezeption Foucaults auszurufen (zu konstatieren? zu begleiten?), die der eingeladene Philosoph und Nachlassverwalter Foucaults (und GuattarisRoberto Nigro gegenwärtig im Anschluss an Foucaults zunächst politischer, dann moralischer Reflexion bzw. Rezeption beobachtet. Diese ästhetische Wende hätte, so Nigro, mit der Transformation des globalen Kapitalismus zu tun, die nun die Ästhetik in den Blick bringe und nehme. Der ebenfalls eingeladene Kunstsoziologe Ulf Wuggenig stützt diese These wenn auch aus methodologischer Perspektive, indem er den Poststrukturalismus als theoretischen Rahmen für die Kunst ohnehin geeigneter sieht als die Kritische Theorie. Ob es sich hier um rezeptionsrelevante, wissenschaftshistorische, politische oder gar hochschulpolitische Interessen handelt, die den Anlass zu der Veranstaltung gegeben haben, sei dahin gestellt, zumindest fällt sie zeitlich mit der Herausgabe weiterer Texte zum 90. Geburtstag von Foucault zusammen.

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Julian Rosefeldts „Manifesto“ als illokutionärer Akt: Ich offenbare (Verb), offenkundig (Adj.), unbestreitbar (Adv.)

In seiner neuesten Filmarbeit „Manifesto“ verschreibt sich Julian Rosefeldt (Jhg. 1965) dem Inhalt nach der Gattung und Textsorte Manifest, wie sie eng verbunden mit der künstlerischen Avantgarde und deren Proklamationen von Traditionsab- und Neuaufbrüchen auftritt (allein für die Zeit zwischen 1900 und 1947 zählen Asholt/Fähnders in „Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde“ von 1995 über 250 künstlerische Manifeste). Rosefeldt, Professor für digitale und zeitbasierte Medien an der Münchener Akademie der Bildenden Künste, hat für diese Filmarbeit eine Auswahl von 54 Manifesten getroffen, deren Quellen er im Eingangsbereich seiner aktuellen Ausstellung im Hamburger Bahnhof in Berlin mittels eines papier-gestapelten Handouts auf Hochglanzpapier offen legt und zur Mitnahme ermöglicht: vom Kommunistischen Manifest von 1848 über Manifeste des Dada, Futurismus, Surrealismus, Suprematismus, Kreationismus (aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts) bis hin zu Situationismus, Conceptual Art, Fluxus, No Manifesto und Dogma 95 (in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts). Durch das Montieren historischer Originaltexte von Künstlern, Architekten, Choreografen und Filmemachern (wie Filippo Tommaso Marinetti, Kasimir Malewitsch, André Breton, Claes Oldenburg, Yvonne Reiner, Adrian Piper, Sol LeWitt, Robert Venturi, Lars von Trier und Werner Herzog) sind im Ergebnis 13 themen-komprimierte Monologe entstanden, die die Hybridität ihrer Ausgangstexte aus realistischer Spekulation, politischer Propaganda, theoretischer Programmatik, sprunghafter Argumentationsstrenge, literarischer Poetik und ästhetischer Agitation, immer mit einem oppositionellen Gestus ausgestattet, beibehalten.

Rosefeldt hat diese Texte zum Teil ins Englische übersetzen lassen und, indem er sie verschiedenen Arbeits- und Lebenswelten unserer Gegenwart und mit ihnen zugehörigen ProtagonistInnen zugeordnet hat, typologisiert: So spricht eine „tätowierte Punkerin“ zum Kreationismus/Estridentismus, eine „Börsenmaklerin“ zum Futurismus, ein „Obdachloser“ zum Situationismus, eine „konservative Mutter mit Familie“ zu Pop Art, eine „Puppenspielerin“ zum Surrealismus und eine „Nachrichtensprecherin“ mit ihrer „Außenreporterin“ zur Konzeptkunst. Im dunklen Raum des Hamburger Bahnhofs sind diese Text-Bild-Positionen nun als Projektionen auf 13 Leinwänden in Form einer multikanalen Installation plaziert, die sich zueinander räumlich und inhaltlich in Beziehung setzt. (Es existiert außerdem eine 90 minütige, lineare Filmversion, die auf Festivals und 2018 im Bayrischen Rundfunk gezeigt werden soll). Jede einzelne Filmszene ist dabei zunächst für sich geschlossen und erzählt mittels ihrer Bilder aus der jeweiligen Lebenswelt der in dieser Lebenswelt situierten Person. D. h. die Manifeste werden nicht nur als Text rezitiert, sondern sie sind transponierter Bestandteil einer Szenerie, wenn beispielsweise die russische Choreografin ihren TänzerInnen die Forderungen des Fluxus und der Performance auf einer Tanzprobe nahezu einpeitscht, eine Lehrerin ihren GrundschülerInnen Forderungen zum Film in ihre Hefte diktiert oder eine Galeristin die Gäste eines Empfangs Kandiskys und Marcs Forderungen der Blauen Reiter (1912) als Rede verliest. Die verbildlichten Texte werden über einen sensiblen Kameraeinsatz ins Bewegtbild gebracht: die Räume werden schleichend, gleitend, verzögernd abgetastet, die Kamera nähert sich dem weiteren Geschehen meist aus der Vogelperspektive und fährt skulptural über die Oberflächen des Sicht- und Wahrnehmbaren, der Architekturen, der Requisiten und weiter der Körperhaltungen, der Gesichtshaut, der Mund- und Halspartien, der Fingernägel der Protagonistin – wie ein Körperscanner, der das zugehörige Subface unter dem Surface zu erfassen versucht.

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Julian Rosefeldt, Manifesto, 2014/2015, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

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Stören! Alain Badiou zu „Flüchtlingskrise“, Politikerneuerung und Theater

Als „ehemaliger Maoist und politischer Aktivist“ wurde Alain Badiou in Berlin angekündigt, als „Verfechter der Idee des Kommunismus“, auch als Philosoph, Mathematiker und Romancier, dem Theater und der Inszenierungspraxis zugetan.

Im Format eines Interviews traf Badiou am 4.2.2016 im Berliner Gorki-Theater in der vom Wiener Passagen Verlag veranstalteten Reihe Passagen Gespräche auf seinen Verleger und Herausgeber Peter Engelmann und die erste Frage zielte auf die aktuellen Ereignisse.

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Badiou klärte seine Sicht der Dinge: Vor der sog. Flüchtlingskrise hätte es eine Krise im Nahen Osten gegeben, deren Verantwortung bei den verursachenden westlichen Staaten liege: bei den Vereinigten Staaten von Amerika für die Zerstörung des Irak und bei Frankreich für die Zerstörung von Libyen. Die EU müsse nun darlegen, ob es eine Politik der Regelung der Ursachen gebe, wenn nicht, dann müssen die Flüchtlinge akzeptiert werden – denn Menschen gehen dorthin, wo sie leben können. Wenn die Ursachen nicht behoben würden, so Badiou, müssten die Wirkungen akzeptiert werden. Angst sei zudem nie ein guter Ratgeber, ein Einschließen in die eigene Identität führte bisher immer zum Desaster.

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Was ist Kritik?, Teil x+2

Nachdem Ende Januar Jean-Luc Nancy mit seinem Vortrag „Unser Zeitalter ist nicht mehr das eigentliche Zeitalter der Kritik” das Symposium „Was ist Kritik?“ eröffnete und hier einen weiten Blick auf unser Zeitalter, auf Schnittmengen zwischen Kritik, Krise, Kriterien und Kunst warf, folgte nun am 6. und 7.2.2016 Teil zwei des Symposiums, bevor sich Teil 3 Anfang April im IFCAR (Institute for Contemporary Research) an der Zürcher Hochschule der Künste anschließen wird, wo insbesondere künstlerische Praktiken im Fokus des Interesses stehen werden.

Teil zwei ließ KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen und auf unterschiedlichem Niveau und Verdichtungsgrad zu Wort kommen:

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Marcus Steinweg sprach am Samstag aus philosophischer Perspektive über die Kritik, Kritik der Kritik und deren Charakteristika, Alenka Zupancic aus philosophisch-psychoanalytischer Perspektive über die Verbindung von Kritik, Psychoanalyse und Realität (Kritik als Weigerung, aus dem Traum der Alternativen aufzuwachen), Thomas Hirschhorn über die Kritik in seiner aktuellen künstlerischen Arbeit „Pixel-Collage“ („Es gibt nur die kopflose Entscheidung, ohne Grund, keine Kriterien.“), Eva Illouz aus soziologischer Perspektive über Kritik und dem von Objektivitäten eines ökonomischen, politischen, sozialen Raumes durchsetzten Subjekts, den genau wir zu verstehen hätten, um überhaupt kritisieren zu können. Elena Esposito sprach am Sonntag aus soziologischer Perspektive über die historische Entwicklung von Kritik mit Einführung des Buchdrucks und deren Kriterien (rational, nicht neutral, mit Blindheit ausgestattet, zirkulär, selbstreflexiv, normativ, allerdings mache eine normative Haltung Kritik wiederum schwierig), Sabeth Buchmann aus kunsthistorisch-kritischer Perspektive über Formen der Kunstkritik seit Diderot, es folgten die Schriftstellerin Ann Cotten über Literatur und Kritik sowie abschließend, am Ende eines kompakten Wochenendes und in Anwesenheit von etwa 300 (am Samstag) bzw. etwa 150 (am Sonntag) Interessierten ein Gespräch zwischen Maxim Biller und Claudius Seidl, Feuilletonchef der FAS, über Kritik als Show und Ware. Selbst ein sog. „Stauraum“ im hinteren Bereich der Räume des n.b.k., in den die Vorträge per Livestream übertragen wurden, war Samstag gut gefüllt. Und wenngleich die vielen schwarzen Flächen verteilt an den weißen Wänden und weißen Decken einen akustischen Zweck zu erfüllen hatten, verhinderten sie nicht, unweigerlich an die schwarzen Malewitsch-Vierecke zu denken, die als Ikone der Moderne gelten. Gemeinsam mit ihrer Markierung des Raumes als Kunstraum und gleichzeitig mit der Farbwahl als Signet für Dokumentarisches und Authentisches riefen sie zusammen mit dem signifikanten Titel der Veranstaltung wie auch mit dem großen Besucherinteresse die (unbedingt zu kritisierende) Hoffnung hervor, hier könne „etwas“ (was?) entstehen.

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Was der Völkermord in Ruanda mit Beethoven zu tun hat

Wir? Mitleid? Mit den aus Syrien Fliehenden? Mit im Mittelmeer Ertrinkenden? Mit Toten durch Selbstmordanschläge in Afghanistan oder dem Irak? Mit Opfern von Massakern in Ruanda (1994) oder Srebrenica (1995)? Mit Hungertoten in der eingekesselten Stadt Madaja (2016)? Wir? Die wir Maschinengewehre liefern, mit denen getötet wird? Die wir Arbeitskraft und Bodenschätze ausbeuten, Müll und Erderwärmung hinterlassen? Die wir Schutzsuchende auf dem Seeweg nach Europa nicht auf die Fähren oder Kreuzfahrtschiffe nehmen, sondern in fahruntüchtigen Booten ihrem Schicksal überlassen?

Um zu dieser Bruchstelle im Text zu gelangen, lässt Autor und Regisseur Milo Rau in seinem Stück „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ an der Berliner Schaubühne die Schauspielerin Ursina Lardi zunächst eine lange Stunde über „ihr“ Engagement in der NGO „Teachers in conflict“ im Kongo erzählen, zeitgleich zu dem Völkermord in Ruanda zwischen April und Juli 1994: über ihre Versuche, mit Workshops, Friedenserziehung und Tanzkursen die Kriegsparteien zu befrieden; über vergewaltigte und gepfählte Frauen, die ihr Leben seither ohne Unterleib leben müssen; über Beethovens 7., mit der sie die Schreie der Massakrierten zu überdecken versuchte; über ihre auch finanziellen Engagements, vom Tod Bedrohte zu retten; über Dîners in der Schweizer Botschaft in Bujumbura und sie langweilende Gesprächspartner; über tägliche Regenschauer und nächtlich quakende Frösche, über die Absurdität der Namen der etwa Tausend aktiven NGO’s (Heal Africa, Konvoi der Hoffnung) und über ihre direkte Zeugenschaft eines Blutbads in einem Flüchtlingslager für aus Ruada geflohene Hutu-Täter, indem sie in sicherem Abstand als „Weiße auf dem Feldherrenhügel“ Richard Strauss‘, durch Nietzsche inspirierte Alpensinfonie imaginierte und bei Maschinengewehrsalven eine genugtuende Freude empfand.

Theaterstück von Milo Rau, Aufführung an der SCHAUBÜHNE/ Berlin/Januar 2016Theaterstück von Milo Rau, Schaubühne Berlin, Jan. 2016. Foto: Daniel Seiffert

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Lehrstück der Hagiographie

Die Philosophie sei mit der De-Heroisierung entstanden, als die Götter gegangen seien. Nun werden die Philosophen als Götter präsentiert.

Die Anmoderation des Gesprächs von Alain Badiou und Jean-Luc Nancy durch Alexander García Düttmann stellte es als bemerkenswert heraus: Nicht in der Philosophie oder in einer philosophischen Fakultät würde diese erste Begegnung beider französischer Philosophen stattfinden, sondern mit der UdK an einer Kunstakademie – zu ergänzen ist: initiiert durch das an der Fakultät Bildende Kunst situierte Institut für Kunstwissenschaft und Ästhetik.

AlainBadiou+Jean-LucNancy

Im Rahmen der zwei-tägigen Konferenz „Badiou and The Presence of Philosophy. Crossing the French-German Border“ am 29. und 30.1.2016 fand am Abend des ersten Konferenztages die Begegnung beider Philosophen statt, die im Konferenzprogramm als „Debatte“ angekündigt wurde, aber damit dann doch mehr über die Initiatoren und über die „French-German Border“ aussagte: Badiou, Jhg. 1937, Prof. em. für Philosophie der Universität Paris VIIIund Nancy, Jhg. 1940. Prof. em. für Philosophie der Université Marc Bloch Straßburg, verwoben sich in einen feinsinnigen, geistreichen, humorvollen und wortgewandten Dialog auf französisch, ohne sich ihre Differenzen zu nehmen, ganz im Gegenteil: Ihr Gespräch fiel inhaltlich nicht wenig konträr aus, stieß aber bei beiden auf Wohlwollen, Großzügigkeit und Neugierde am Anderen. Ein Paradebeispiel, wie „différance“ konstitutiv und integrativ statt hemmend und erschwerend stattfindet.

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Was ist Kritik?, Teil x+1

Mit dem Titel „Was ist Kritik?“ schließt das Internationale Symposium, das am 28.1.2016 mit einem Vortrag des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy im Berliner HAU startete, an prominente Vorläufer an:

Zunächst an Michel Foucaults Vortrag 1978 vor der Société française de philosophie, in dem Foucault die noch heute gängige Definition in Frageform vorschlägt: „Wie ist es möglich, dass man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird – dass man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird?“ (Foucault 1992, S. 11f.) Und weiter: „[…] schlage ich also die allgemeine Charakterisierung vor: die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden.“ (Ebd., S. 12) Seinen Vortrag setzte Foucault 1983 mit der Vorlesung „Was ist Aufklärung?“ fort, da sich bereits in seinem Vortrag zur Kritik abzeichnete, dass er einer „Verschickung“ des Unternehmens Aufklärung in das Projekt Kritik auf die Spur kam (S. 41) und zitierte mit dem Titel Kants Essay „Was ist Aufklärung?“ aus dem Jahr 1784, dessen Titel sich schon Kant aus Textvorläufern lieh.

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Nun also greift ein Internationales Symposium die Frage auf und will ihr in drei Einzelterminen auf den Grund gehen: mit Nancys Eingangsvortrag, mit einem Symposium am 6.2. und 7.2.2016 im Berliner n.b.k., sowie am 1. und 2.4.2016 im IFCAR (Institute for Contemporary Research) an der Zürcher Hochschule der Künste.

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Dürer und Kentridge als bildwissenschaftliche und museologische Trigger

Wie stellen Bilder und mit ihnen ihre Präsentationsbedingungen, z. B. in einer Museumsausstellung Erkenntnis, Sinn und Evidenz her?, fragt das Transferprojekt „Evidenz ausstellen. Praxis und Theorie der musealen Vermittlung von ästhetischem Verfahren der Evidenzerzeugung“ der FU Berlin und geht hierfür eine Kooperation mit dem Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin in den Räumen des Berliner Kulturforums ein.

Eine Ausstellung als konkreter Fallstudie soll zu der grundlegenden Hypothese des initiierenden Forschungskollegs „BildEvidenz. Geschichte und Ästhetik“ arbeiten, dass Bilder zweifach bestimmt seien, erstens durch einen Bezug zur sog. Wirklichkeit in Form des Verfahrens der Repräsentation, zweitens durch eine autoreflexive Eigenwirklichkeitserzeugung: D. h. Bild/Evidenz ist die Entfaltung von Eigenwirklichkeit und Wirklichkeitsbezug sowie deren Wechselseitigkeit. Und diese zweifachbestimmte bildeigene Evidenz kann wiederum durch museale Präsentations- und Vermittlungsformen fortgesetzt entfaltet werden, indem hierdurch Sinnzusammenhänge und Erkenntnisgewinne hergestellt werden.

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Bei diesen konzeptuellen und kontextuellen Grundlagen handelt es sich allerdings um den wissenschaftlichen Subtext, um das Programm, auf deren Sichtbarkeit die Ausstellungsmacher in der Ausstellung „Double Vision: Albrecht Dürer & William Kentridge“ verzichten, einmal abgesehen von einem die Ausstellungsräume vermessenden Längsspiegel, der das Geschehen symbolisch durch einen „beobachtenden“ Blick reflektiert, hinter dem aber auch beobachtende und notierende KunsthistorikerInnen vermutet werden könnten.

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Bewegt Euch!

Nachdem in den bisherigen 23 Jahren der Intendanz Frank Castorfs die produktionsästhetische Ebene erprobt und die Multimedialität der Inszenierungen experimentell auf der Volksbühne (Liveperformance, Video, Bühne, Sound, Licht) ausdifferenziert wird, scheinen Castorf/Neumann ihre aktuelle Inszenierung der Brüder Karamasow nun auf das Rezeptionsverhalten ihres Publikums auszurichten und sowohl die ästhetische Erfahrung (1) als auch den theoretisierenden Umgang (2) herauszufordern.

Nach „Dämonen“, „Erniedrigte und Beleidigte“, „Der Idiot“, „Schuld und Sühne“ und „Der Spieler“ hat die Berliner Volksbühne Dostojewskis letztes großes Werk, geschrieben zwischen 1878 und 1880, in der Inszenierung von Frank Castorf auf die Bühne von Bert Neumann gebracht: Vier Brüder im Kampf um und mit ihrem Vater Fjodor, eine Geschichte um den Mord an dem Vater als ein erzählerisches Geflecht aus Schuld, Moral, Religion und Religionsgeschichte, Psyche, Familienaufstellung, Politik, Geschlecht, Glaube, Erziehung, Bildung, Emanzipation und Kultur. (Inhaltliche Ausdeutungen hier und hier, Szenenbilder hier).

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Diese Geschichte wird im Haus der Volksbühne in sich an- und ineinander anschließenden Räumen inszeniert: in einer für das Publikum blick-unzugänglichen Sauna mit dampfendem Edelstahlrohr und anderen Holzverschlägen, im Esszimmer eines Jagdhauses in der weiten Tiefe der Bühne, in das das Publikum in der Ferne durch die Fenster einsehen kann, in einem russisch-orthodoxen Gebetsraum, der sich irgendwo im Haus der Volksbühne befindet, in einem Gartenpavillon, der beinahe als einziger „Raum“ mit direkten Blicken zugänglich ist, davor ein Wassergraben, den alle Schauspieler durchqueren (müssen), ein Wohncontainer im Rücken des Publikums, dessen zwei Etagen mit einer Feuertreppe verbunden sind, die eindringlich metallische Geräusche erzeugt, wenn die Schauspieler hoch- und runterlaufen, runter- und hochlaufen, deren Innenleben aber wie das der uneinsichtigen Sauna oder des Gebetsraumes oder der vielen Gänge neben der Bühne, auf dem Dach oder im Keller durch live gestreamte Videobilder auf einer großen, schräg auf der Bühne installierten Leinwand zu sehen sind. Die Bühne selbst, die zum Teil auch vom Publikum besetzt ist, ist größtenteils leer, denn sie löst sich in einen, mit schwarzer Folie ausgelegten Längsraum durch den Saal auf, in dem Bewegung, Geschwindigkeit, Tempo gemacht werden können. Überall und immerzu befinden sich alle in einem dauerhaften Transit und in permanenter Mobilität und Überstürzung – außer dem Publikum.

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Statt „furios sperrig“* galaesk smart – Vorschläge zum 27. Jubiläum von Texte zur Kunst

Irgendwann im Laufe des frühen Abends, zu Beginn von Teil 3 der „Gala Conference“, fragte ich mich, wie wohl René Pollesch das 25. Jubiläum von Texte zur Kunst inszeniert hätte und mit welchen inszenatorischen Mitteln ihm die unfreiwillige Situationskomik des Finales auf der Bühne des Berliner Festspielhauses gelungen wäre. Spätestens da war meine Verwunderung über den dominierend affirmativen Umgang der eingeladenen ReferentInnen mit der Geste einer Selbstermächtigung „des Kanons“ durch die GastgeberInnen („The Canon“, so das Thema der 100. Jubiliäumsausgabe) auf eine Beobachtung der inszenatorischen Mittel dieses Nachmittagabends (von 14 bis 19:45 Uhr) am 27. November 2015 verschoben.

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Pollesch hätte die Kunstprofessorin Michaela Meise am Akkordeon mit einer deutschsprachigen Übersetzung eines Mikis-Theodorakis-Songs über Arbeitslosigkeit nicht melancholischer auf die Bühne bringen können. Er hätte auch den Conferencier des Abends in ein Glittersakko gesteckt (großartig in der Rolle des Fließbandmoderators Andreas Beyer, Professor für Kunstgeschichte in Basel) und er hätte auch versuchen können, Dirk von Lowtzow, Sänger bei Tocotronic und redaktionelles Beiratsmitglied von TzK, die Rolle eines sentimental smarten Singersongwriters abzuringen. Selbst das zumeist jugendliche Publikum performierte sich als Volksbühnenpublikum, das sich unisono verlachte, als sei die Performance des störrischen, unangepassten, spröden Poems „Words are people“ von Karl Holmqvist Comedy. Und am Ende stand ein Gruppenbild aller Akteure der Konferenz: „Lets dance together here on stage in 2 hours… Please be back after a break“, rief Isabelle Graw, Herausgeberin und Autorin von TzK, in den gefüllten, komplett verdunkelten Saal. Vermutlich hätte Pollesch nur die Öffnung des großen Saales im Berliner Festspielhaus um 14 Uhr mit MadonnasCelebration“ als endless loop offensiv als Karaoke oder als Polonaise aller Beteiligten inszeniert: „Come join the party, yeah, Coz‘ everybody just won’t do. Let’s get this started, yeah, Coz‘ everybody wants to party with you.“ Vielleicht hätte er auch für die GastgeberInnen eine Loge im Stil eines Foucaultschen Panoptikons (wie Ende 2014 die „Liebeslaube“ von Gregor Schneider im Rang der Volksbühne) bauen lassen, in der die Geburtstagsgrüße (unsichtbar) in Empfang hätten genommen werden können. Gleich mehrfach lagen die legendär gehauchten „Happy Birthday“-Grüße, wenn auch ironisch gebrochen, in der Luft…

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Hacktivisten im Apparat der Kunst

In diesem Sommer zeigte die in Berlin neugegründete Galerie NOME, angesiedelt „zwischen Kunst, Politik und Technologie“, mit ihren ersten Ausstellungen die Arbeit von drei Hacktivisten:

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Paolo Cirio, in New York und Turin lebend und arbeitend, wurde bekannt u. a. mit seiner Softwareentwicklung für das Kunstprojekt Amazon Noir (2006), mittels derer er gemeinsam mit dem Künstlerduo ubermorgen komplette Bücher des digitalen Archivs des Online-Buchhändlers mit der Amazon-eigenen Search-Inside-the-Book-Funktion hätte spidern und als kostenlose pdf-Downloads verteilen können. Seit 2013 bietet Cirio mit Loophole For All (loophole4all.com) Anteile zuvor gehackter 200.000 anonymer Briefkastenfirmen im Steuerparadies Cayman Islands im Wert von 99 Cent aufwärts an, „to improving offshore business for the general public“.

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Context is Half the Work

…heisst es schon in den 60er Jahren in den programmatischen Texten der zunächst britischen, später dann multinationalen Artist Placement Group, die innerhalb der Gesellschaft und ihrer Institutionen sog. Placements organisierten, mit denen Künstler vor Ort beobachten, recherchieren, prüfen, forschen, entwerfen, modellieren, entwickeln, dokumentieren, intervenieren, kritisieren, implementieren, ändern, handeln, vermitteln, stören, riskieren… konnten.

Die AGP ist eine Gründung unter Künstlerkollegen der St. Martin’s School of Art im Jahr 1966 in London als ein loses Netzwerk, das sich zunächst als Stiftung mit Kuratorium und künstlerischem Beirat, später dann als gemeinnützige GmbH (APG Research Ltd.) organisierte. Gründungsmitglieder waren Barbara Steveni und John Latham sowie Barry Flanagan, David Hall, Anna Ridley und Jeffrey Shaw, später kamen zu unterschiedlichen Zeiten Ian Breakwell, Stuart Brisley, Roger Coward, Hugh Davies, Andrew Dipper, Garth Evans, Leonard Hessing, George Levantis, Ian Macdonald Munro, David Toop, Marie Yates sowie Nocholas Tresilian, Rolf Sachsse und Ros Sachsse-Schadt hinzu.

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Statt Showdown theatraler Mediatisierungsprozess, oder: Showdown als theatraler Mediatisierungsprozess?

Sicherlich ließe sich zur Frage spekulieren, ob Frank Castorf den US-Amerikanischen Performancekünstler von der Westküste Paul McCarthy in die Berliner Volksbühne eingeladen hat, nachdem Chris Dercon als sein Nachfolger bestellt wurde oder schon bereits zuvor. Entsprechend ließen sich „Rebel Dabble Babble Berlin“ und „Van Gogh Revisited“ deuten: Als nachträglich gesetzter Impuls im Umgang mit einer narzistischen Kränkung oder als längst schon praktizierte Zukunft, wie sie der Volksbühne unter Dercon prognostiziert wird. Also Perfekt bzw. Plusquamperfekt oder Futur, ggf. Futur II.

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Unabhängig von dieser mit boulevardesker und z. T. kunstwissenschaftlich reaktionärer Provinzialität geführten Debatte im Stil eines Showdowns zweier Männer als Repräsentanten zweier angeblich konträrer Systeme ließen sich „Van Gogh Revisited“ (eine Kooperation McCarthys mit dem Filmemacher und Performer Theo Altenberg) und „Rebel Dabble Babble Berlin“ (eine Kooperation McCarthys mit seinem Sohn Damon), als äußerst spannende Mediatisierungsprozesse, auch der Künste verstehen:

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Prototyp Black Mountain College

„Unser zentrales und konsequentes Bestreben is es, Methoden zu lehren, nicht Inhalte; den Prozesse gegenüber den Ergebnissen zu betonen; den Studenten zur Erkenntnis zu bringen, dass die Anwendung des Wissens […] für uns wichtiger ist als die Fakten selbst.“ (John Andrew Rice, Gründer Black Mountain College, 1933)

Eine kunsthistorische Ausleuchtung des wohl einmaligen kunst- und lebenspädagogischen Experiments des Black Mountain College von 1933 bis 1957 in der Nähe von Asheville, in den Blue Ridge Mountains im US-Bundesstaat North Carolina, am See Eden gelegen, stand seit längerem an (siehe auch den nur schmalen Eintrag in der deutschen Wikipedia). Nun sind zahlreiche Leihgaben der Josef und Anni Albers Foundation in Connecticut im Hamburger Bahnhof in Berlin zu sehen, angereichert um einen Blog sowie um ein Symposium am 25. und 26.9.2015 zum Thema Education.

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Nicht zufällig fällt der Beginn des Experiment, das heute als ein „inter- und trans-disziplinäres sowie multimediales“ bezeichnet wird, mit der erzwungenden und im Kollegium beschlossenen Selbstauflösung des Bauhauses zusammen – und wohl auch nicht zufällig endet das Experiment 1957 in der McCarthy-Ära aufgrund eines kommunistischen Generalverdachts unter nicht unähnlichen Umständen wie das Bauhaus in Deutschland unter den Nationalsozialisten. Einige der damaligen Bauhaus-Beteiligten wie Josef und Anni Albers wechselten übergangslos – wenn auch nicht unproblematisch, hatten doch Regierung, Kultusministerium, Devisenamt und das amerikanische Konsulat ein Mitspracherecht – zum 26.11.1933 in den Lehrbetrieb in North Carolina. Ein ausgestellter Briefwechsel zwischen Albers und einem der beiden Gründer Theodore Dreier zwischen dem 28. September 1933 und dem 31. Oktober 1933 gibt eindrucksvoll Auskunft nicht nur über die damaligen Kommunikationswege, die Geschäftssprache, die Verhandlungsformen, die Geschlechterhierarchien und Bezahlungen (1000,- Dollar plus „room and board for yourself and your wife“), sondern auch über die damaligen politischen Verhältnisse in Deutschland wie auch über die finanziellen Möglichkeiten und den Gründergeist für „Methoden“, „Prozess“ und „Wissensanwendung“ statt „Inhalte“, „Ergebnisse“ und „Fakten“. Dreier stellt „a progressive education“, „an adventurous and a pioneering one“, „an experiment“ und „no restrictions on the teaching methods“ in Aussicht, er genrefiziert Black Mountain als „college of liberal arts“ und als „educational organism“ und konstatiert: „we feel that the arts should play an important part both in our communitylife and in the educational process“ – Formulierungen, die 2015 für die Aquise von Spenden für eine Institutsgründung taugen würden. Auch andere Emigranten kamen: der Architekt und Bauhausgründer Walter Gropius, die Psychiater Fritz und Anna Moellenhoff, der Schönberg-Schüler Heinrich Jalowetz, die Musikerin Johanna Jalowetz, Xanti Schawinsky, Cellist und Saxofonist der Bauhaus-Jazz-Kapelle und ehemaliger Mitarbeiter von Oskar Schlemmer.

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Zur Kommunikation zeitgenössischer Kunst | For communication of Contemporary Art