Irgendwann im Laufe des frühen Abends, zu Beginn von Teil 3 der „Gala Conference“, fragte ich mich, wie wohl René Pollesch das 25. Jubiläum von Texte zur Kunst inszeniert hätte und mit welchen inszenatorischen Mitteln ihm die unfreiwillige Situationskomik des Finales auf der Bühne des Berliner Festspielhauses gelungen wäre. Spätestens da war meine Verwunderung über den dominierend affirmativen Umgang der eingeladenen ReferentInnen mit der Geste einer Selbstermächtigung „des Kanons“ durch die GastgeberInnen („The Canon“, so das Thema der 100. Jubiliäumsausgabe) auf eine Beobachtung der inszenatorischen Mittel dieses Nachmittagabends (von 14 bis 19:45 Uhr) am 27. November 2015 verschoben.
Pollesch hätte die Kunstprofessorin Michaela Meise am Akkordeon mit einer deutschsprachigen Übersetzung eines Mikis-Theodorakis-Songs über Arbeitslosigkeit nicht melancholischer auf die Bühne bringen können. Er hätte auch den Conferencier des Abends in ein Glittersakko gesteckt (großartig in der Rolle des Fließbandmoderators Andreas Beyer, Professor für Kunstgeschichte in Basel) und er hätte auch versuchen können, Dirk von Lowtzow, Sänger bei Tocotronic und redaktionelles Beiratsmitglied von TzK, die Rolle eines sentimental smarten Singersongwriters abzuringen. Selbst das zumeist jugendliche Publikum performierte sich als Volksbühnenpublikum, das sich unisono verlachte, als sei die Performance des störrischen, unangepassten, spröden Poems „Words are people“ von Karl Holmqvist Comedy. Und am Ende stand ein Gruppenbild aller Akteure der Konferenz: „Lets dance together here on stage in 2 hours… Please be back after a break“, rief Isabelle Graw, Herausgeberin und Autorin von TzK, in den gefüllten, komplett verdunkelten Saal. Vermutlich hätte Pollesch nur die Öffnung des großen Saales im Berliner Festspielhaus um 14 Uhr mit Madonnas „Celebration“ als endless loop offensiv als Karaoke oder als Polonaise aller Beteiligten inszeniert: „Come join the party, yeah, Coz‘ everybody just won’t do. Let’s get this started, yeah, Coz‘ everybody wants to party with you.“ Vielleicht hätte er auch für die GastgeberInnen eine Loge im Stil eines Foucaultschen Panoptikons (wie Ende 2014 die „Liebeslaube“ von Gregor Schneider im Rang der Volksbühne) bauen lassen, in der die Geburtstagsgrüße (unsichtbar) in Empfang hätten genommen werden können. Gleich mehrfach lagen die legendär gehauchten „Happy Birthday“-Grüße, wenn auch ironisch gebrochen, in der Luft…
„Gala-Konferenz“ – die Formaterfindung der Stunde? ‚Gala‘, so machte Graw eingangs klar, stehe semantisch für die Celebrity Prinzipien, wie sie die Zeitschrift Gala praktiziert und wie sie, so Graw, zunehmend auch im Kunstbetrieb zu finden seien. ‚Gala‘ stehe auch für eine festlich elegante Feier sowie als Referenz für Gala Èluard Dalí, die „bekannte Muse des 20. Jahrhunderts“. Nun eine smarte Performanz-Variante für Konferenzen? Ein Anschlussformat für feierfreudige Theorie(un)willige? Die Geburt eines neuen Theorie-Vermittlungsformats? Mit Madonna als Chiffre der Neuerfindung und Garantin für Greatest Hits? Wobei hier zu fragen wäre, ob es TzK gelungen sein soll, sich mit jeder der 100 Ausgaben inmitten der kanonischen Kunstgeschichte selbst als Kanon neu erfunden zu haben oder ob just now mit einer geschmeidigen Charmeoffensive an die nächste Generation eine Neuerfindung von TzK in Gang gesetzt werden soll…
Vor 25 Jahren gründeten der Kunsthistoriker Stefan Germer, Jhg. 1958, und die Politologin Isabelle Graw, Jhg. 1962, in Köln das Magazin mit dem schnörkellos pragmatischen Titel „Texte zur Kunst“, nach dem Vorbild der amerikanischen Kunst-Zeitschrift „October„, programmatisch benannt nach Sergej Eisensteins Film „October: Ten Days that Shook the World“ von 1928 über die einschneidenden Ereignisse der Oktoberrevolution 1917 in Russland. „October“ ist seither mit seinen Autoren Rosalind Krauss, Douglas Crimp, Hal Foster, Benjamin Buchloh, Yve-Alain Bois, Denis Holler… das sog. Zentralorgan für die Kritik zeitgenössischer Kunst und populärer Kultur. Die (noch zu schreibende) 25-jährige Geschichte von TzK erzählt also auch die Geschichte eines transatlantischen Ideen- und Theorieimports in die deutschsprachige Kunsttheorie (wobei TzK selbst mittlerweile bilingual erscheint und die Gala-Konferenz bis auf zwei Ausnahmen in englischer Sprache stattfand).
Mit Social History, Genderstudies, Poststrukturalismus, Feldtheorie, Diskursanalyse, Dekonstruktion und Psychoanalyse starteten die Initiatoren ihren Angriff auf den Kanon der akademischen Kunstgeschichte und deren traditioneller Ausrichtung auf eine historisch-kulturell orientierte Ikonologie und formal-ästhetisch geprägte Phänomenologie. Begriffe wie Apparat, Macht, Feld, Kontext, Betrieb, Diskurs, Institution und Kritik wiesen den französischen Soziologen Pierre Bourdieu, den „Transparentmacher von Produktionsbedingungen“ von Kunst, als Haustheoretiker aus und eine Vielzahl von Künstlern wie Mark Dion, Andrea Fraser, Renée Green, Thomas Locher und Christian Philipp Müller wurden zu Künstlern des Hauses und zwar in Form eines Untersuchungsgegenstands, als Autoren des Magazin und als Editionslieferanten – Künstler, die in den 90er Jahren parallel zur Redaktionsarbeit in der Galerie Nagel ausgestellt wurden, mit der sich TzK das Gebäude, die Telefone und offenbar auch die Kunst teilte. Generationen von Kunstgeschichtsstudierenden können seither mit Texte zur Kunst sozialisiert sein, der Vorwurf des hermetischen Abschlusses inkl. Exklusionsmaßnahmen durch „Cliquesierung“ und der Instrumentalisierung von Kunst für angesagte Theorien war/ist seither ebenso existent wie Stolz, Freude und Begeisterung, AutorIn von/für TzK zu sein, die sich in der Währung „Fame“ aggregier(t)en.
Allerdings machte sich auch schon frühzeitig ein Verdacht bemerkbar: Arbeiten die „glorreichen Entmystifizierer“ an ihrem eigenen Mythos? Vergessen sie bei aller Dekonstruktion der Produktionsbedingungen, der Geschlechterordnungen, der Betriebsverhältnisse die Dekonstruktion der eigenen Prämissen? Wie steht es um die Einführung von Selbstreferenz als operationalem Akt? Wie um die Beobachtung der eigenen Ausschließungen? Wie um die eigenen blinden Flecke? Wie um eine Institutionskritik der eigenen Institution? Wie um die poetische Wirkkraft der Kunstkritik? Wie um die kritische Überprüfung der Kritik selbst? Wie um die Prämisse, zeitgenössische Kunst eigne sich als Ressource der Kritik? Stand der hier veranschlagte und immanent transportierte Kunstbegriff je zur Debatte? Oder wurde er von Adorno durchgereicht, inkl. der Unsichtbarkeit der Prämissen? Warum wird aus der Position der selbst verliehenen Legitimation, der Autorität einer Institution, der inhaltlichen Richtigkeit und der moralischen Integrität argumentiert? Wie gestaltet sich das Verhätnis von Be- zu Entgrenzung, von Ver- zu Entmachtung, von Ver- zu Entfaltung? Und wie steht es um ausgeblendete (technologische, digitale, mediale) Themen?
Vor diesem Hintergrund zeigt sich nun mit der 100. Ausgabe und der Jubiläumskonferenz eine eigenwillige Operation: 1990 angetreten als Stimme, die klassische Kunstgeschichte um weitere Perspektivierungen jenseits von Stilgeschichte, Hagiographie und Ikonologie anzureichern, proklamiert TzK nun 25 Jahre später mit ihrer 100. Ausgabe „The Canon“, auf dem Cover in Großbuchstaben: „THE CANON“. Eigenwillig insofern, als dass
- erstens bisher keine selbstreferentielle Beobachtung vorgenommen wurde,
- zweitens nun mittels der Strategie der Appropriation der programmatisch angehalten zu dekonstruierende Kanon für sich selbst in Anspruch genommen wird,
- damit drittens nach 25 Jahren eine Umpositionierung, ein Positionswechsel behauptet wird,
- viertens dieser Kanon und Positionswechsel in der Geste einer Selbstermächtigung ausgerufen wird,
- fünftens entgegen aller Dekonstruktions-, Multikulturalisierungs- und Migrationsüberlegungen (es gibt keine Mehrheitsgesellschaft) von „dem“ Kanon im Singular die Rede ist,
- hier sechstens eine Hagiografie vom Gegen- zum Kanon zu erzählen versucht wird, diese aber einen bezeichnenden Moment der Unbestimmtheit trägt, da sie grafisch mit der 100. Ausgabe auf dem Konterfei des Modernismusapologeten Clement Greenberg stattfindet, für die das Cover der 1. Ausgabe von 1990 nun in schwarz-weiss, leicht gezoomt und angeschrägt zum Einsatz kommt.
War das über sechs Stunden komplett abgedunkelte Publikum im (Kino- weniger im Theater-) Saal mehr als nur ein inszenatorisches Mittel und fand hier eine Ausblendung des Blicks der Anderen, eine Ausblendung des Blicks im Anderen, eine Verhinderung des Austauschs von Blicken, aber auch eine Verhinderung der (notierenden) Reflexion der Anderen statt? (Von diesem verwehrten Blick des/im/durch die Anderen erzählt die Geschichte des Narziss, der als Narzisse endete…)
Denn obwohl Juliane Rebentisch (Philosophie- und Ästhetikprofessorin in Offenbach und amtierende Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik) gleich eingangs der Gala das Jubiläumsprojekt ‚Kanon‘ und zwar als eine unweigerliche Einsicht der InitiatorInnen von TzK theoretisierte und damit auch problematisierte – von den 25 eingeladenen ReferentInnen unterschiedlicher Generationen nahmen nur wenige Gäste die Herausforderung an, im Duktus des Kritisierbaren zu „arbeiten“: Das Duo Gertrud Koch (Filmwissenschaftlerin an der FU Berlin) / Alexander Garcia Düttmann (Professor für Philosphische Ästhetik an der UdK Berlin) probierten sich an einem Kriterienkatalog des Kanons: er sei auslegungsbedürftig, ändere sich unmerklich merklich, begrenze, fände nachträglich statt, erst wenn sich die Kunst aus dem Staub gemacht hat. Das Trio Sabeth Buchmann (Kunstgeschichtsprofessorin in Wien) / Susanne Leeb (Kunstprofessorin an der Leuphana Universität Lüneburg) / Helmut Draxler (Kunsttheorieprofessor in Wien) wies auf eine „Kanonparanoia“ im jungen Jahrtausend hin und lieferte mit der Formel ‚Kanon = Verflechtung von Wert und Bedeutung‘ ein Kalkül, den es zu falsifizieren gilt. Auf den technologisch digitalen Kontext gab es nur einen Hinweis, von Paul Feigelfeld (Mitarbeiter des Digital Cultures Research Lab der Leuphana Universität Lünebug), parallel dazu war auf der weißen Bühnenleinwand der Sample einer graphit-bombardierenden Waffe zu sehen, die ihre Wolken mit Blickrichtung des Publikums auf eine White-Cube-Wand abfeuerte. Eine Drehung um 180 Grad hätte „uns“ nicht partizipativ, sondern konfrontativ in den Blick nehmen können: Macht die Augen auf!, stattdessen ertönte der Madonna-Loop: „Come join the party, yeah.“
Unzweifelhaft hat TzK die deutschsprachige Kunstgeschichte einer Dekonstruktion unterzogen, dabei aber in ihre Form keine Selbstreferenz und zwar in Form einer Selbstbeobachtung untergebracht. Die Geste der Proklamation des Kanons könnte daher auch weniger als ein Framing, eine Nachträglichkeit, ein Übermut oder eine Zähmung des eigenen Projektes, sondern auch als eine Geste der GastgeberInnen gedeutet werden, TzK offensiv zur Dekonstruktion freizugeben und aufzufordern, das kunstkritische Unternehmen mit Mitteln des methodischen Zugriffs von poststrukturalistischen, diskursanalytischen, feministischen, marxistischen, kunstsoziologischen Verfahren einer Untersuchung zu unterziehen und dabei die Personenstrukturen (Clique, Netzwerk, Freundeskreis), die Themen (Gossip, Berlin, Galeristen), den Finanzbackground (Oetker Holding), die ökonomischen Strukturen (Bezahlung der Autoren, Honorarentwicklung), die Währungen (Fame, Celebrity), die Künstlertreue bzw. das Protegieren von Künstlern, den Transfer ins akademische Fach Kunstgeschichte, die Besetzung von Professuren durch TzK-Autoren, die Setzung von Themen, die Fixierung von Prämissen, die Lancierung von Theorien auf den Markt der Theorien, die Performierung eines Jargons, die kompetitiven Kämpfe, die freiwillig ausgeschiedenen Künstler (Fareed Armaly), kurz, die Narrative, Normative, Imperative, Prämissen, Ökonomien und Politiken von TzK zu prüfen. Diese Prüfung würde verhindern, die bisherige Institutionalisierung aus Theoretikern, Künstlern, Instituten, Akademien, Galerien und Annonciers nur zu verwalten und über die nächsten Jahre zu retten.
„TzK – eine Fortsetzungsmaschine des Modernismus?“ wäre ein geeignetes Thema für den 27. Geburtstag und dieser eine ausreichend schiefe Zahl für eine selbstkritische Zäsur, die dann aber besser im Maschinenraum der Kunst(-kritik) stattfinden sollte.
* Quelle: Freitag, 10.11.2015 >>
Birte Kleine-Benne