Zur Zukunft des Tanztheaters Pina Bausch
Schon 1978 hatte Pina Bausch die Idee, ihre Produktion „Kontakthof“ 30 Jahre später noch einmal mit der Originalbesetzung aufzuführen. In diesen 30 Jahren wurde „Kontakthof“ zu einem ihrer Schlüsselwerke, ausdifferenziert in drei Versionen: für die Tänzer*innen ihres Tanztheaters, für Schüler*innen und für Rentner*innen Wuppertals. 46 Jahre später sollte nun die Idee auf Anregung ihres Sohnes Salomon realisiert werden, jedoch nicht als Re-Produktion, wie ursprünglich angedacht, sondern als eine cineastische Montage. Meryl Tankard, damalige Tänzerin des „Kontakthof“s, mittlerweile diplomierte Filmregisseurin, nahm sich der 24 Archivbänder der Videodokumentationen an, die seinerzeit Bauschs enger Mitstreiter und Lebensgefährte Rolf Borzik aufgenommen hatte, kürzte die drei Stunden des Originalstücks auf eineinhalb Stunden und behandelte „das Werk wie ein Drehbuch“. (Quelle: Programmheft). Diese auf eineinhalb Stunden gekürzte und neu geschnittene Version von „Kontakthof“ wurde nun als „Kontakthof – Echos of ’78“ im Rahmen des Berliner Theatertreffens aufgeführt. Von den damaligen 20 Tänzer*innen standen neun auf der Bühne und begegneten ihren 46 Jahre jüngeren Videobildern.

Pina Bausch, Meryl Tankard, Kontakthof – Echos of ’78, Foto: Oliver Look.
Die neugeschnittenen Schwarz-Weiss-Archivbilder wurden auf eine Gaze projiziert, die zwischen Bühne und Publikum und damit als die vierte Wand des Theaterhauses gespannt war. Dahinter öffnete sich das Originalbühnenbild, ein in Grautönen gehaltener, fensterloser Ballsaal mit einer großräumigen, grauen Tanzfläche, mittig eine Kinoleinwand, zunächst von einem schwarzen Vorhang verdeckt, flankiert von Stühlen, Mikrofonen und einem Klavier in der hintersten Ecke. Borzik hatte dieses Bühnenbild 1978 als Zitat der Lichtburg entworfen, ein ehemaliges Kino in Wuppertal-Barmen, in dem Bausch und ihre Company damals probten. Eine Lichtquelle links tauchte den Tanzsaal/die Bühne in entsprechende Farben – anfänglich in das kontrastreiche, gedämpfte Schwarz-Weiss oder Grau der Filmaufnahmen, später in warme Lichttöne, als sich die Farben und mit ihnen die Live-Ereignisse auf der Bühne immer stärker durchsetzen sollten. Doch bis es dazu kommen sollte, bestimmten die Archivbilder das Geschehen auf der Bühne. Denn meist fielen die Projektionen der Tänzer*innen, die diese ja ohnehin überblendeten, weitaus größer aus als die Personen in realita; die Tänzer*innen orientierten sich für ihre Bewegungen an den Kamerabildern und Kameraperspektiven Borziks, sie wurden damit zu (asynchronen) Echos ihrer 46 Jahre jüngeren Videobilder; auch die O-Töne der Archivbilder waren maßgeblich und wurden hin und wieder um weitere Live-Töne angereichert, die sich dann zeitversetzt, daneben, darüber, dazu mischten. Der Film wurde damit zu der bestimmenden Matrix, das Theaterhaus zu einem Filmhaus im Theater, in dem das intermediäre Geschehen stattfand: Live-Bewegungen und Video, Live-Klänge und O-Töne des Archivmaterials stellten ein ästhetisch multisensorisches Medien-Crossover dar, sie blieben in ihren Differenzen und spezifischen Merkmalen bestehen, hin und wieder fusionierten sie konzeptionell, wenn sich wechselseitige Interaktionen zwischen dem Material oder Variationen in den Wiederholungen andeuteten. Doch die Kontextbestimmung, die bei Intermediärem durch den Text erfolgt, blieb in diesem Teil der Aufführung uneindeutig.

Pina Bausch, Meryl Tankard, Kontakthof – Echos of ’78, Foto: Ursula Kaufmann.
Im typischen Pina-Bausch-Repertoire der Bewegungen kombinierten die Tänzer*innen Pantomime, Alltagsgesten, manchmal auch Sprache, Klänge und Gesang, sie durchschritten den Bühnenraum, sie koordinierten sich in der Gruppe oder in Gruppen, sie tanzten ein Spektrum an raumgreifenden Gesellschaftstänzen als Solo-, Paar- und Gruppentanz (Walzer, Jive, Tango, Swing, Disco) – selbst dann, wenn der frühere Partner, die frühere Partnerin fehlte. Dieses Fehlen wurde durch offensichtliche Lücken sicht- und fühlbar gemacht: manchmal fehlte das Gegenüber im Paartanz, manchmal blieb ein Stuhl leer, manchmal fing niemand beim Hinuntergleiten auf den Boden auf. So formte sich eine berührende Wehmut, die das Publikum mit einer überwältigenden Offenherzigkeit gegenüber dem Ensemble, das hier vermutlich ein letztes Mal zusammen performen dürfte, auszugleichen versuchte. Denn selbst die Verdoppelungen der Figuren, manchmal sogar Verdrei- und Vervierfachungen durch weitere Projektionen und Schattenbildungen an der rechten Bühnenwand vermochten nicht, die Lücken auszugleichen – zumindest nicht in der ersten Hälfte des Stücks … Diese endete mit einer Zäsur, die ab dem Moment auch den Kontext eindeutig bestimmen sollte: Die neun Tänzer*innen platzierten sich an der Bühnenrampe, mit direktem Blick in das nun nicht mehr abgedunkelte Publikum, in einer Reihe und mit Lücken zwischen sich. Eine nach der dem anderen stellten sich persönlich vor, nannten ihren Namen, ihr Alter (zwischen 69 und 81), ihre aktuellen Hauptbeschäftigungen und ihre vordringlichen Befindlichkeiten: Elisabeth Clarke, Arthur Rosenfeld, Josephine Ann Endicott, Meryl Tankard, John Giffin, Beatrice Libonati, Ed Kortlandt, Anne Martin, Lutz Förster.

Pina Bausch, Meryl Tankard, Kontakthof – Echos of ’78, Foto: Ursula Kaufmann.
Nach der Pause war Schluss mit den farbschluckenden, auf Abstand bringenden, verschattenden Überblendungen. Das Reenactment, das sich bis dahin am Film als bestimmender Matrix orientierte, indem die Tänzer*innen für ihre Bewegungen sogar die Kameraperspektiven übernahmen, emanzipierte sich. Das Theater eroberte sich seinen Raum zurück und bot sich als eindeutiger Kontext an, in dem eine Medienemergenz stattfinden konnte. Die Archivbilder wurden nun auf der Kinoleinwand hinter den Tänzer*innen, deren Vorhang zwischenzeitlich geöffnet wurde, gezeigt. Teilweise wurden sie durch eine zweite, gleiche Projektion neben der Leinwand, direkt auf der Wand des Tanzsaals gedoppelt. Hierfür wurde ein Filmprojektor ins Bild geschoben, der in seiner überdimensionierten Behäbigkeit auf Rollen wie ein weiterer Zeitzeuge, nun des Technisch-Apparativen wirkte. Die Kostüme wurden farbig, das Licht strahlte, nun überblendete nicht „1978“ „2025“, nun orientierte sich nicht „2025“ an den Bildern von „1978“, sondern „2025“ setzte im Kontext Theater Motive, die manchmal nur an den Rändern der Videoaufnahmen oder sogar außerhalb ihres Rahmens zu erahnen waren, fort, nahm hierauf neu interpretierend Bezug oder interagierte mit dem Archivmaterial. Darüber wurden die bisherigen Lücken zu Spuren, Spuren, die durch einen komparatistischen Blick 1978 mit 2025 zu vergleichen in der Lage waren und bemerken ließen, dass zum Beispiel geschlechterhierarchisch angelegte anzügliche Blicke und Bewegungen im Alter abschwächen und nachlassen (können), dass geschlechterunterwerfende Requisiten, Kostüme. Gesten und Schlager („süßes Fräulein“) inhaltslos und banal und damit auch ungefährlich werden (können), dass Meryl Tankard, 1978 von einer Gruppe männlicher Tänzer in schwarzen Herrenanzügen belästigt, 2025 dieser bedrängenden Filmszene gegenüber stehen, sich mit diesen Bildern konfrontieren und schlussendlich die Rezeption dieser frühen Bilder verweigern konnte, indem sie die Bühne verließ. Die anfänglichen Zweifel, ob das stark ausgedünnte Stück, medial durch den Film überblendet, dramaturgisch gehalten werden könne, wurden durch sich allmählich herausbildende Bedeutungsebenen aufgefangen: Es bildeten sich verschränkte Zeitschichten, Alterungsprozesse wurden sichtbar, unterschiedlichste „Kontakte“ hergestellt, Körperpolitiken thematisiert, Lücken fühlbar und Schmerz aushaltbar. Durch Interaktion, Reaktion und Resonanz entstand währenddessen ein theaterhistorisch und tanzgeschichtlich magisches Gewebe, das eine Ahnung gab, wie die Zukunft von Pina Bauschs Tanztheater aussehen könnte: genau dann, wenn das Reenactment zu einem Preenactment wird.

Pina Bausch, Meryl Tankard, Kontakthof – Echos of ’78, Foto: Uwe Stratmann.
Kontakthof – Echoes of ’78 ist eine Produktion von Sadler’s Wells, Pina Bausch Foundation und Tanztheater Wuppertal Pina Bausch. Sie wird koproduziert mit Amare-The Hague, LAC Lugano Arte e Cultura, Festspielhaus St. Pölten, Seongnam Arts Center und China Shanghai International Arts Festival und wird als Beitrag zur Vorbereitung des Pina Bausch Zentrums aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen und der Stadt Wuppertal gefördert.
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