Die angekündigte Kontextverschiebung Alban Bergs Oper „Lulu“ in Raum, Zeit und Musik des Südstaaten-New-Orleans der 50er Jahre und ins New York der 70er Jahre erscheint zunächst als ein interessantes Gedankenexperiment. Was mag passieren, wenn Lulu, die junge Protagonistin in Bergs unvollendeter Oper von 1937 (nach literarischer Vorlage von zwei Tragödien von Frank Wedekind 1895 bzw. 1902) und ihr sozialer Auf- und Abstieg in ein gesellschaftliches Setting von Rassismus und Black Power Movement eingepasst würde? Was mag darüber hinaus passieren, wenn die Hautfarbe zum zentralen Thema und als Ursache für den Auf- und Abstieg der jungen Frau indiziert, wenn ihre Biografie als eine doppelte Emanzipation, sowohl von Geschlecht als auch von Ethnie erzählt und wenn lesbische Liebe als Moment widerständiger Selbstverwirklichung vorgeschlagen würde? Und was mag passieren, wenn Bergs ersten zwei Akte für ein 27-köpfiges Jazz-Ensembles neuinstrumentiert und der dritte neu geschrieben würde (die Rechte sind seit 2005 frei) und nun Blech- und Holzbläser, ein elektrisches Klavier, E-Gitarre, ein paar Streicher und eine Mississippi-Orgel den Klang des Geschehens bestimmen?
Grundlegendes Motiv für die Komponistin Olga Neuwirth, die sich nun als zweite Österrreicherin (nach Friedrich Cerha 1979) im Auftrag der Komischen Oper Berlin an die kompositorische Vollendung der im 3. Akt unvollendeten Berg’schen Oper traut, scheint eine Kontextualisierung zu sein: Sie zeichnet in der Berliner Uraufführung nicht mehr den individuell, singulären, geschlechtlich determinierten Lebensweg einer in-sich-selbstverliebten jungen Frau, sondern erzählt „American Lulu“ kulturell, historisch, gesellschaftlich und ethnisch bedingt.
Was nun mag passieren, wenn die Inszenierung des russischen Regisseurs und Ausstatters Kirill Serebrennikov mit historischem Audio- und Videomaterial von Marthin Luther King und anderen Bürgerrechtlern versehen wird, wenn neben Lulu ein schwarzer Clarence (Bergs Schigolch) und eine schwarze Eleanor (Bergs Gräfin Geschwitz) auftreten, wenn das Geschehen rund um eine New Yorker Bar nach Vorbild Edward Hoopers „Nighthawks“ versetzt wird, wenn Blues, Jazz und Ragtime den kulturellen Rhythmus vorgeben?
Erstaunliches. Jede gedankliche Verschiebung wird in dieser Inszenierung still-gestellt, wird einzementiert und ein-gerichtet: Die zu verhandelnden Größen (Blackness) werden zu Determinanten, Martin Luther Kings stimmgewaltige Redefragemente aus dem Off garniert mit historischen Fotos und Videos werden durch die inszenatorische Beiläufigkeit und Beliebigkeit zum Ornament, schwarz-weisse Kulturkämpfe werden duch Bühne und Requisite zur stilisierten Dekoration. Eine farbige (keine schwarze, wie es das Programmheft behauptet) Lulu setzt sich als Design gegen weisse Möbel, weisse Kleidung und weisse Männer ab. Hier geriert alles zu einer unüberwindbaren Ein-Richtungs-Deko, nebenbei wird die weisse Droge geschnupft.
Eine Fundgrube für alle Ikonografen, die sich mit der Bestimmung und Deutung von visuellen Motiven befassen und dabei die Symbolik von Bildgegenständen erforschen. Aber auch für Kulturwissenschaftler_innen, die Gender und Blackness schon lange nicht mehr naturalistisch (die Rollen in Neuwirths Oper werden nach Hautfarben besetzt), sondern als kulturelle und damit bewegliche Größe denken. Wäre insofern das Gedankenexperiment nicht bei Weitem aktueller und spannender, wenn auf den inszenatorisch und popularisierend anmutenden Griff auf eine Blackness verzichtet und sie nicht mit einem nur Schick von Bürgerrechtsbewegung, Emanzipation und politischer Revolte ausgestattet worden wäre? Wenn Lulu im 3. Akt zu Eleanor sagt: „there is not enough to make a man out of you and you are too smart for a women!“, kann dies nur zusätzlich unwohl stimmen, wird hier im Libretto Geschlechtlichkeit re-tro-biologisiert.
Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass mit „American Lulu“ erstmalig das Felsenstein’sche Diktum gebrochen wurde, an der Komischen Oper Berlin ausschließlich in deutscher Sprache zu inszenieren.
Weitere Informationen:
Lulu: Marisol Montalvo
Eleanor: Della Miles
Dr. Bloom: Claudio Otelli
Clarence: Jacques-Greg Belobo
Musikalische Leitung: Johannes Kalitzke
Uebersetzung: Catherine Kerkhoff-Saxon
Uraufführung: 30.9.2012
Weitere Rezensionen:
Peter Uehling in der BZ http://www.berliner-zeitung.de/theater/-american-lulu–verboten-fuer-weisse-kunden,10809198,20072550.html
Udo Badelt in Zeit Online http://www.zeit.de/kultur/musik/2012-10/american-lulu-2
Georg-Friedrich Kühn in der NZZ http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/buehne_konzert/einsam-in-new-york-1.17657326
Chrstiane Tewinkel in der FAZ http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/oper-american-lulu-in-berlin-landschaft-mit-berg-und-blues-11912535.html