Schlagwort-Archiv: Oct 7

Kultische Kapelle: Kunst, Empathie und Liturgie

Vermutlich hätte ich meinen Text anders begonnen. Ich hätte über die acht Einzelkapitel der Ausstellung geschrieben, die in einer der früheren Abfertigungshallen des Flughafenhauptgebäudes Berlin Tempelhof, direkt am Platz der Luftbrücke, installiert und inszeniert wurden. Ich hätte die Aufteilung der Räume, die Choreografie und Dramaturgie der Abläufe, die Inhalte und Materialien und das kuratorische Konzept in der ca. 100 Meter langen, ca. 50 Meter breiten Halle und ca. 20 Meter hohen Halle analysiert. Ich hätte mich gewundert, dass in dieser historisch monumentalen Naziarchitektur, gebaut ab 1936, ein so sensibles, empfindliches und sensitives Thema eingebettet und performiert wurde. Ich wäre auf die Initiatoren und weitere Kontextfaktoren, wie die Finanzierung eingegangen und hätte machtkritisch die Motive der Ausstellung und die Vermittlungsdimension dekonstruiert. Aber das Thema verlangt Empathie ab, sowohl als affizierte Forderung der Ausstellungsmacher und Initiator*innen, als auch als perzeptive Emotion durch die Ausstellung und ihre kuratorische Inszenierung selbst – und es dehnt die Grenzen dessen, was eine Ausstellung „ist“.

Daher setze ich früher an, über die Ausstellung „The Nova Exhibition Tempelhof“ in Berlin, die keine Ausstellung ist, zu schreiben. Ich starte mit der Polizeipräsenz vor den Türen des Flughafenhauptgebäudes am Platz der Luftbrücke. Ich erwähne die Sicherheitsprüfungen am Eingang, die den Checks in deutschen Gerichtsgebäuden und auf internationalen Flughäfen ähneln: das Prüfen von Taschen und Kleidung und die Frage, ob man Getränke, Feuerzeug oder Aufkleber dabei hätte – das alles eingebettet in eine Lichtinstallation, die mit ihren auf den Boden projizierten Schlüsselbegriffen erste Per- und Rezeptionskriterien setzt: „Community, Compassion, Recovery, Freedom, Strength, Support, Faith“. Und ich setze fort mit dem Entree, in dem ein raumhohes Textplakat weiß auf schwarz darüber informiert, das hier eine Public-Private-Partnerschaft stattfindet: zwischen der Berliner Landes- und Bundespolitik, dem Regierenden Bürgermeister von Berlin und der Kultursenatorin, zusammen mit dem Staatsminister für Kultur und Medien, der Bundesministerin für Bildung etc., unter anderem der Botschaft des Staates Israel, dem Zentralrat der Juden in Deutschland, der Bayer AG, der GEMA, der Axel Springer Freedom Foundation und anderen, in Zusammenarbeit mit vielen namentlich genannten Familien, Privatpersonen und Stiftungen. Als Vorspann erzählt die Informationstafel im Eingangsbereich, dass „The Nova Exhibition“ den getöteten Liebsten am 7. Oktober gewidmet sei und die Nova Community (und dazu zählen laut Infotafel unter anderem das Nova Exhibition Board, die Tribe of Nova Foundation und die Nova Exhibition Berlin) allen Beteiligten an dieser Ausstellung dankt. Die Tribe of Nova Foundation wurde unmittelbar nach dem 7. Oktober 2023 als Reaktion auf den Unterstützungsbedarf der 3.500 Überlebenden des Massakers und ihrer Angehörigen gegründet und kümmert sich nach Eigenaussagen nun um deren „Begleitung, um Resilienzaufbau und Unterstützung bei der Vernetzung mit anderen Betroffenen“. Mit Logo und Slogan der Foundation wird die Handschrift des Narrativs gesetzt: „Der Rhythmus is unsere Wurzel. Die Bewegung unser Gebet. Die Erinnerung pulsiert durch unseren Körper. Verpflichtung lebt in unseren Händen und Licht geht auf mit jedem Schritt […].“

Die Nova Exhibition, die seit 2023, von den Gründern des Nova Music Festivals produziert, als Wanderausstellung unterwegs ist und bisher in New York City, Los Angeles, Buenos Aires, Miami, Toronto und Washington D.C. gezeigt wurde, ist nun in Berlin zu sehen, bevor sie voraussichtlich nach London weiterziehen wird. „Oct 7, 06:29 a.m. – The moment music stood still“ thematisiert den Terrorangriff der Hamas und ihrer Unterstützer und das Massaker während des Open Air-Trance-Musikfestivals am 7. Oktober 2023 im Gebiet Eschkol, zwischen Re’im und Be’eri, im Grenzgebiet Israels zum Gazastreifen (Gaza Envelope), bei dem 411 Menschen getötet und 43 Festivalbesucher*innen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt wurden. Um den Plot vorweg zu nehmen: Die Ausstellung startet in einem für die Besucher*innen verpflichtenden Videovorführraum mit dem Prolog eines fünf-minütigen Films, in dem Festivalbesucher*innen Auskunft zur programmatischen Schönheit, Kollektivität und Solidarität des Nova-Festivals geben und in ihren Erzählungen auf den unfassbaren Moment des Wendepunktes am 7. Oktober, um 6:29 Uhr, „als die Musik still stand“, zusteuern. Die Ausstellung endet mit Zuversicht: „We Will Dance Again“. Wir werden wieder tanzen.

Doch bevor die chronologisch linear erzählte Ausstellung zu einem Gedenk- und später zu einem Ort der Zusammenkunft mit infrastruktureller Sorgearbeit wird, werden die Besucher*innen mit den Ereignissen am Morgen des 7. Oktobers 2023 konfrontiert, als der „Rote Alarm“ startete. Gut ein Drittel der abgedunkelten Halle ist mit einzelnen, in Orange ausgeleuchteten Inseln des Grauens konzipiert. Unterhalb von Eukalyptusbäumen aus Plastik sind, so wird informiert, eine Auswahl der rund 20.000 Originalutensilien versammelt, die auf dem Festivalgelände aufgefunden wurden: umgeworfene Klappstühle und Campingliegen, einzelne Badelatschen, zurückgelassene Bücher, Sonnenmilch, aufgerissene Zelte, überrannte Kuscheltiere, zerfetzte Kleidung und Schlafsäcke, Volleybälle, Chipstüten, Abfälle … In diese einzelnen dezentralen Inseln sind Screens unterschiedlicher Größe, zusammen mit je eigenen Lautsprechern, platziert, deren Videos in Endlosschleife in anonymer Urheberschaft und unbenannter Autorperspektive Auskunft geben über die Raketenangriffe, die Durchbrüche der Sperranlagen mit Baggern, die Angriffe der Terroristen auf Motorrädern, die rennenden Menschen über die Felder Richtung Osten, die brennenden Autos entlang der Nationalstraße, aber auch konkret über das Festivalgelände, das hier nachempfunden wird. Diese Bewegtbilder stellen automatisch eine Relation zu der hier ausgestellten und kuratierten Situativität her und informieren über den Vergleich, dass hier näherungsweise eine Originalität in situ kuratiert und inszeniert ist, die zusätzlich durch die eingesetzten Medialitäten virtualisiert und hyperrealisiert wird. Skelette ausgebrannter Autos in der Ausstellung sind weitere (originale?) Zeugen des Grauens, das die etwa 3.500 internationalen Partygäste aus 17 Ländern an diesem Morgen erlebt haben. Nachbauten (?) von Bunkern, von Kugeln durchlöcherten mobilen Toilettenanlagen und einer Getränkebar zeigen, wo und wie die Fliehenden versuchten, sich zu verstecken und doch keinen Schutz fanden. Audioaufnahmen bezeugen die letzten Telefonate, die Ermordete mit ihren Familien geführt haben.

Das Ergebnis des knapp neun-stündigen Massakers ist erschütternd: 411 Menschen, darunter Zivilisten und Sicherheitskräfte, wurden getötet und 43 Besucher*innen des Trance-Festivals als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt; 3.710 Überlebende wurden seither als zivile Opfer von Terroranschlägen anerkannt, davon sind 76% junge Menschen zwischen 18 und 24 Jahren, 14 der verschleppten Geiseln wurden freigelassen, 15 ermordet. Die ersten israelischen Soldaten trafen zur Mittagszeit ein, das Festivalgelände wurde gegen 15 Uhr final durch das israelische Militär gesichert, so heißt es in dem Wikipedia-Eintrag zum Thema.

In diesem polyphonen Stimmen- und Bildergewirr bahnen sich die Besucher*innen ihren je individuellen Weg, sie bücken sich, um unter den Eukalyptusbüschen in die geöffneten Zelte zu schauen oder Handys in die Hand zu nehmen (hierzu wird offensiv durch ein Textplakat am Eingang aufgefordert), auf denen nächste Zeitzeugenvideos zu sehen sind. Informationstafeln geben punktuell Auskunft zum Beispiel zu den Bunkeranlagen entlang der Nationalstraße, zu geschlechtsspezifisch und sexuell eingesetzter Gewalt oder zu einzelnen Personen, die Opfer des Massakers wurden, wie zum Beispiel die Barkeeperin Liron Barba, die Verletzten half, bevor sie selbst getötet wurde. So entsteht im vorderen Teil der Halle eine immersiv-theatral-interaktive Ausstellung, die forensisches Material mit multimedialen Installationen, persönlichen Augenzeugenberichten, künstlicher Vegetation und Memorabilia kombiniert und in orangene Scheinwerferspots taucht.

In der Mitte der Halle treffen die Besucher*innen unter einem farbigem Festivalzelt auf die Originalbühne und die Originallautsprecheranlagen (von Function One) des Festivals, vor denen nun nicht mehr die Festivalbesucher tanzen, sondern statt ihrer stellvertretend ein kreisrunder, strahlend angeleuchteter „Alter Code des Lebens“ von Roee Aminof installiert ist. Eine Texttafel informiert, das hier drei Heiltraditionen – der jüdischen Kabbala, der mexikanischen Curanderos und der internationalen Kunst – genutzt würden, „um Wunder und Heilung hervorzurufen“. Aus den Boxen dringen Trance-Klänge, auf herabhängenden wehenden Stofffahnen werden Animationen fliegender Vögel projiziert, dahinter sind Bewegtbilder im Sonnenaufgang tanzender Menschen zu sehen – und damit wird eine In-situ-Situation zu kreieren versucht, für die Originalgegenstände transloziert wurden, sowie Abwesenheiten kultisch und medial kompensiert werden.

Wie durch ein Nadelöhr der Trance-Kultur und deren psychedelischen, kultischen und mystischen Effekten gelangen die Besucher in den hinteren Teil der Halle, der im Unterschied zu dem nachgestellten Chaos des Terrors eine klare, strikte, strenge Ordnung praktiziert:

Neben der Ansprache an die Besucher*innen, ihre Gedanken und Gefühle auf weißen Kärtchen zu notieren und im Raum zu verteilen, informiert eine 40 Meter lange Gedenktafel, in vier Reihen übereinander, über jeden einzelnen der 411 ermordeten Festivalbesucher*innen mit einem Porträtfoto und einem kurzen Text. Zu diesem Raum der Erinnerung gehört eine ebenso lange Tafel, auf der Kerzen und die handschriftlichen Erinnerungen der Besucher*innen platziert sind. Auf daneben singulär positionierten Tischen sind die auf dem Festivalgelände gefundenen Originalgegenstände nach ikonischem Vorbild der musealisierten Holocaust-Erinnerung geordnet: ein Tisch mit Taschen, einer mit Oberbekleidung, einer mit Technikutensilien wie Uhren, Fotoapparate, Handys und Brillen, einer mit Schuhen, einer mit Kopfbedeckungen, einer mit Tüchern, einer mit Trinkflaschen. Eine interaktive Karte sortiert die gesammelten Daten, Zahlen und Zeugenaussagen und rekonstruiert sie als Ereignisse des 7. Oktobers, zusammen mit den anderen Massakern des Tages entlang der Route 232, in den Schutzräumen und auf den angrenzenden Feldern. Ein Board fordert „Bring Them Home“, bevor die Abbildung eines Lebensbaumes verspricht: „We Will Dance Again“. Wir werden wieder tanzen.

Aus dem Raum des Horrors und dem Raum der mystisch-kultischen Heilung wurde ein Raum des Requiems, der mit seinen Tropen unter anderem die Erinnerungskultur  der Gedenkstätten des Holocaust aufruft – bevor in den finalen, vier kleineren Räumen ausserhalb der großen Halle der Epilog stattfindet. Dieser Epilog denkt das Geschehen in Form von Infrastrukturen und Institutionen: Zunächst informieren Texttafeln über die Aktivitäten der Tribe of Nova Foundation, über ihre Überlebens- und Heilungskonzepte. In einem anschließenden Ruheraum mit Kissen, Teppichen und Stühlen in braun-beige finden terminierte Gespräche mit Überlebenden im Wechsel mit musikalischen Einlagen statt. Es folgt ein Raum, in dem in einem Film die selben Protagonisten aus dem Film zu Beginn der Ausstellung über ihre Zukunft und über die Zukunft der Festivalkultur sprechen. Abschließend können die Ausstellungsbesucher*innen spenden oder kaufen: T-Shirts, Ketten, Kappen, Kunst.

So entsteht statt einer Ausstellung eine Kapelle, die den 7. Oktober als Unschuld, Trauma, Schmerzen, Heilung und Gedenken erzählt und synästhetisch vereint. In dieser Kapelle werden liturgische Zeremonien und Riten im Parcour bereit gehalten, mit deren Hilfe ein Umgang mit dem Ausgangsereignis gefunden werden kann. In diesen Parcour sind die Besucher*innen der Nova Exhibition einbezogen, sie durchlaufen die Etappen der Ereignisse und Gefühlslagen, ausgehend von einer Welt vor dem 7. Oktober, 6:29 Uhr, die in eine Welt danach kippt. Die historische Zäsur wird im Zeitraffer erzählt, die Geschichte des Nova-Festivals steht pars pro toto für die des 7. Oktobers als eine Schmerz- und Heil(ung)sgeschichte, die die Welt grundlegend verändert (hat). Wenn in der Ausstellung geschrieben steht, dass das Massaker das „Leben Zehntausender für immer verändert hat“, dürften in diesem Rahmen diejenigen gemeint sein, für die sich die Tribe of Nova Foundation verantwortlich fühlen und für die bisher 130 Gedenkveranstaltungen und 71 Workshops organisiert wurden. Dabei sind es weitaus mehr Menschen, deren Leben sich für immer verändert hat – denn wessen Leben hat sich direkt oder indirekt nicht verändert, sei es im Gazastreifen, in Israel, Westjordanland, Libanon, Syrien, Iran, Ägypten, durch die israelische, die US-amerikanische oder die deutsche Politik … 

NOVA EXHIBITION BERLIN, 7. Oktober bis 16. November 2025, Platz der Luftbrücke 5, Di.–Do. 11–20 Uhr, Freitag 11–18 Uhr, Samstag und Sonntag 11–20 Uhr

Weitere Veröffentlichungen zum Thema:

Lea Wolters: Zwischen Trauma und Hoffnung, in: taz, 06.10.2025, https://taz.de/Ausstellung-ueber-das-Nova-Musik-Festival/!6115240

Ben Ratskoff: Prosthetic Trauma at the Nova Exhibition: Holocaust Memory, Reenactment, and the Affective Reproduction of Genocidal Nightmares, in: Journal of Genocide Research, 02.10.2025, https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/14623528.2025.2551946

Naomi Klein: How Israel has made trauma a weapon of war, in: The Guardian, 05.09.2024, https://www.theguardian.com/us-news/ng-interactive/2024/oct/05/israel-gaza-october-7-memorials

Tom Holert: Die Nova Ausstellung – immersives Entertainment und trügerische Eindeutigkeit, in: krisol, 11.09.2025, https://debatte.krisol-wissenschaft.org/die-nova-ausstellung-immersives-entertainment-und-truegerische-eindeutigkeit/

Julian Daum: Nova-Ausstellung: Noch mehr politische Einflussnahme durch Senat, in: nd, 17.11.2025, https://www.nd-aktuell.de/artikel/1195528.berlin-nova-ausstellung-bildungssenat-koennte-neutralitaet-verletzt-haben.html



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