Die Eingangssequenz des Filmes zeigt eine sattgrüne, üppige, wunderschön geomorphologisch geschwungene Hochebene aus der Vogelperspektive, ungeschnitten aufgenommen als extremely long shot (Panorama), wie sie ein Touristikwerbevideo nicht besser hätte in Szene setzen können. Mit dieser Master Szene, die gleichzeitig als Übersichtseinstellung (establishing shot) dient und in die alle weiteren Szenen hineingeschnitten sind, ist der Handlungsrahmen des Filmes und der Grundkonflikt des Gesamtprojektes „Das Kongo Tribunal“ benannt:
Wie ist es möglich, dass die Demokratische Republik Kongo, die zu den rohstoffreichsten Ländern der Welt gehört (Diamanten, Gold, Kupfer, Mangan, Blei, Zink und Zinn) und mit ihren Coltan-, Wolframit und Kassiterit-Vorkommen, die für die Produktion eines nahezu jeden elektronischen Gerätes benötigt werden und daher im Ostkongo seit etwa 20 Jahren zu einem Boom, manche schreiben sogar von einem Goldrausch, führten, zu den ärmsten Ländern der Welt gehört, das im Demokratieindex von 2014 auf Platz 162 von 167 lag und im Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen 2016 auf Platz 135 von 188? 7 Millionen Toten werden seit 1996 geschätzt, die Rede ist von jahrzehntelanger Ausbeutung, Korruption und Bürgerkriegen, Importwirtschaft, Staatsverschuldung, vernachlässigter Infrastruktur, mangelnder Informations- und Pressefreiheit… Der Mapping-Report der Vereinten Nationen zählte zwischen 1993 und 2003 über 600 Menschenrechtsverletzungen im Kongo, dazu zählten Massaker, systematische Tötungen und Genozide.
Spiegelung der Diskussionsteilnehmer im Anschluss an die Filmvorführung am 18.11.2017 an der Berliner Schaubühne.
Die Ein- und Ausgangsthese von Film und Projekt heißt damit: „da, wo der Erdboden am reichsten ist, und die Menschen am ärmsten“ und ist erstens als Gegenüberstellung fortan im Film nicht (mehr) zu überwinden, führt zweitens dazu aus, dass statt von einem Postkolonialismus angesichts des Neokolonialismus‘ keine Rede sein kann, dass drittens unauflösbare Verwicklungen zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten existieren und dass viertens damit grundlegende epistemische Verschiebungen vorgenommen werden und zwar durch den Einsatz künstlerischer Mittel.
Am Samstagabend, 18. November 2017, führte der Schweizer Theater- und Filmemacher Milo Rau im Anschluss an die Filmvorführung des „Kongo-Tribunals“ an der Berliner Schaubühne in größerer Runde dazu aus, dass er Zusammenhänge, die überkomplex und nicht darstellbar sind oder zu sein scheinen, in einen Zusammenhang, einen Raum und/oder ein Format bringt, um ihnen genau hier zu begegnen. Das sei auch die künstlerische und dramaturgische Stärke des Tribunal-Formats, mit dem er sich in die Reihe des Nürnberger Tribunals 1945–49, des Vietnam-Tribunals (1966–67, initiiert von Jean-Paul Satre und Bertrand Russell in London, Stockholm und Roskilde), des Irak-Tribunals (2003–05 in Berlin, London, Mumbai, Brüssel …, initiiert von Arudhati Roy) und des Palästina-Tribunals (2014 in Brüssel) stellen möchte. Hieran zeigt sich, dass Rau sich in Tradition derjenigen Untersuchungen sieht, die erstens von Philosophen, Schriftstellern, Friedensaktivisten und Wissenschaftlern einberufen wurden und die zweitens über keine Mittel zur Durchsetzung ihrer Beschlüsse verfügen. Die Nürnberger Prozesse (nicht Tribunal!) fallen allerdings nicht in diese Reihe, da sie durch einen eigens von den alliierten Siegermächten eingerichteten Ad-hoc-Strafgerichtshof, dem Internationalen Militärgerichtshof stattfanden, der rechtshistorisch als Vorläufer des Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda gilt.
Rau verweist auf das Fehlen eines Tribunals zum Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan und Tschetschenien und auch eines das Ruanda-Tribunal komplettierende Burundi- und Kongo-Tribunal und markiert damit die Leerstellen der (noch) zu untersuchenden Kriegsverbrechen. Hier scheiterte bisher der Internationale Gerichtshof der UN in Den Haag ganz offensichtlich an seinem Ziel, Völkerrechtsverletzungen einem Gerichtsverfahren zu unterwerfen und damit der Straflosigkeit im Bereich von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord ein Ende zu setzen – auch aus dem Grunde, da die USA, Russland, China u. a. die Gerichtsbarkeit des IGH nicht qua einer sog. Unterwerfungserklärung anerkannt haben, obwohl alle Mitgliedsstaaten der UN automatisch als Vertragsparteien des Statuts des IGH gelten.
Das Kongo-Tribunal ist mittlerweile zu einem multimediales Gesamtprojekt (künstlerische Leitung: Milo Rau, Dramaturgie: Eva-Maria Bertschy) angewachsen und besteht aus einem mehrtägigen Hearing in Bukavu (Hauptstadt der Provinz Süd-Kivu, Ostkongo, am Collège Alfajiri), einem zweiten Hearing in den Sophiensälen Berlin, aus Zeichnungen von Yves Kulondwa (publiziert im Programmheft „Das Kongo Tribunal“, das zur Filmvorführung in der Berliner Schaubühne herausgegeben wurde), einem Film, einem Buch, einer Webseite und einer VR-Installation. Ungeplant hat sich in der Folge der gemeinnützige Verein „Doctivism“ gegründet, der künstlerische, soziale und politische Projekte in eine Verbindung mit dem Format des Dokumentarfilms bringen und zunächst ein erstes Folgeprojekt unterstützten will: Der kongolesische Menschenrechtsanwalt Sylvestre Bisimwa, der in dem Tribunal als Untersuchungsleiter auftrat, wird ab 2018 gemeinsam mit Prince Kihangi, Anwalt für Bodenrecht und Mitglied der Jury des Tribunals in Bukavu, nach dem Vorbild des Kongo-Tribunals fünf weitere zivilgesellschaftliche Tribunale stattfinden lassen, um über diesen Weg der Straflosigkeit in der Demokratischen Republik Kongo zu begegnen und einen Teil von bereits registrierten, aber noch nicht geahndeten Verbrechen aufzuarbeiten und zu dokumentieren. Ziel sei, bei den Betoffenen die Last zu verringern und ein Vertrauen in eine Gerichtsbarkeit zu entwickeln, um im besten Fall mithilfe der internationalen Gemeinschaft ein unabhängiges Tribunal für den Kongo einzurichten. Hierfür werden zunächst DVDs des Films mit einem Suaheli-Voiceover erstellt.
In den Hearings des Kongo-Tribunals trafen die verschiedensten Beteiligten und Beobachter im Rahmen einer inszenierten Gerichtsverhandlung und der hier verhandelten Fälle aufeinander: Umgesiedelte und enteignete Kleinbergbauern, lokale Unternehmer und Coltan-Schürfer, Lokalpolitiker und Regierungsbeamte, Polizisten und aufständische Milizionäre, Menschenrechtsaktivisten und Anwälte machten ihre Aussagen vor einer sogenannten Jury (die sich in Bukavu und in Berlin unterschied) und einem Hohen Gericht, das von Jean-Louis Gilissen, Experte für Internationales Strafrecht, vorsitzend geleitet wurde. Abwesend blieben trotz Einladung die Vertreter der abbauenden, multinationalen Unternehmen, etwa des kanadischen Start-Ups Banjo oder von MPS Alphamin. Beide Unternehmen sind von der kongolesischen Regierung für die Zeit des Minenbetriebs steuerbefreit; die gesetzlichen Regelungen (OECD-Richtlinien für sog. Konfliktmineralien, Dodd-Frank Act), die den Unternehmen, die sog. Konfliktmineralien verwenden, eine Dokumentations- und Publizitätsverpflichtung auferlegen, um sicherzustellen, dass die bewaffneten Konflikte in der DRC nicht durch Rohstoffe finanziert werden, dienten, so die Anwesenden der Hearings und der Filmpräsentation lediglich der Industrie. Außerdem fehlten Vertreter der Weltbank, deren Förderrolle in dem Komplex nicht zu ignorieren ist und (zumindest in Bukavu) Vertreter der UNO, denen vorgeworfen wird, Hilfe verweigert zu haben.
Dem anwesenden Publikum, der Zivilgesellschaft wurde abschließend die Möglichkeit gegeben, sich an der Debatte zu beteiligen. Denn: das Tribunal sollte der öffentlichen Debatte dienen und, wie es in der Erklärung der Menschenrechte und in der Verfassung der DRC verbrieft ist, eine Freiheit der Rede praktizieren. Ziel des Tribunals war, so Rau, denjenigen eine Stimme zu ermöglichen, die bisher ungehört sind: der kongolesischen Bevölkerung.
Und obwohl Rau immer wieder den symbolischen Gehalt des Tribunals betont („It is a symbolic tribunal, a court of the people and for the people, who is ultimately only responsible to the eyes of the public opinion“) und die Hearings selbst von Anweisungen des Regisseurs Rau unterbrochen werden („Ruhe bitte.“ „Aufnahme läuft“, „Action!“), also eines selbstrererenzielle Ebene in Bezug auf das Medium Film in die Wahrnehmung eingezogen wird, statt sie zu verdecken, wurden in der Folge der Innenminister und der Minenminister der DRC entlassen, zu einem späteren Zeitpunkt trat der Gouverneur der Provinz Süd-Kivu Marcellin Cishambo zurück: Ein fiktives Tribunal, das real ist und real wirkt.
Die Frage, ob es sich hierbei um Postkolonialismus oder Neokolonialismus handele, wurde bereits während des Produktionsprozesses (von Esther Slevogt und Sophie Dieselhorst) diskutiert. Denn zwischen den Kolonisatoren und den Kolonisierten sind, wie bereits Gayatrik Spivak herausarbeitete, Komplizenschaften zu beobachten: So liegt das © des Films bei der Schweizer Bernhard Lang AG (Produzent von Spiel- und Dokumentarfilme) und werden die folgenden Tribunale im Ostkongo von der Fruitmarket Filmproduktion unterstützt. Mit der deutschen Fruitmarket Kultur & Medien GmbH (Produzent von hochwertigen Dokumentarfilmen), dem International Institute of Political Murder und der Kongo Tribunal Transmedia, neu jetzt auch mit Doctivism e. V. in Gründung sind Netzwerkarchitekturen gebaut, die auf ihre Zusammenhänge zu untersuchen wären. Rau dazu: „Was wir mit dem ‚Kongo-Tribunal‘ machen, ist kapitalistischer Realismus in Reinform“ und nimmt rhetorisch klug jede mögliche Kritik vorweg. Der Soziologe Harald Welzer, der sich neben anderen (wie der Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck) im Anschluss an die Filmvorführung an der Berliner Schaubühne äusserte, hielt sich in dem vom ihm bereits beim Berliner Hearing angesprochenen Verantwortungskomplex auf: Die „double speech“ der westlichen Gesellschaft gehe nicht mehr durch, sie falle ihr selbst auf die Füße…