Sonntag, 19. November 2017, 20 Uhr, Berliner Sopiensäle. „Der Einlass hat begonnen!“ Kopfhörer werden verteilt, man könne ihn sich einfach überziehen, Lautstärke reguliere sich von selbst. Der große Saal ist zergliedert, MDF-Platten, knapp 3 Meter hoch, knapp 1 Meter breit, sind an Aluminiumrahmen im U-Profil geschraubt. Kabinen, Sperrungen, Unterteilungen bilden sich, locker im Saal verteilt, in unterschiedlichen Figurationen. Auf einigen Aluminiumprofilen sind Smartphones angebracht. Die etwa 50 Besucher (Zuschauer/Zuhörer) tragen ihre Kopfhörer und streifen durch den Raum, erkunden ihn.
Inmitten der begehbaren Installation eine Klangkünstlerin. Ihr Pult besteht aus waagerecht gestapeltem MDF, darauf ein Audiomischpult und ein selbstgebauter, horizontaler Saitenchor, der an einen Pianokasten erinnert. Daneben Gegenstände unterschiedlichsten Materials – Plastik, Borsten, Metall, Holz. Statt der Hebelkonstruktion beim Klavier oder der Zupftechnik bei der Harfe entsteht der Ton hier durch die zielgerichtete Begegnung der Materialien. Liegt vor ihr eine Notation? Mittelbar daneben: ein DJ mit mehreren Plattenspielern und 12-Zoll-Vinylschallplatten – weiß auf schwarz steht darauf geschrieben: Stadt (Land Fluss). Er scratcht mit der Nadel des Plattenspielers, das Vinyl ist in Abständen mit weißer Farbe belegt, die die Nadel ebenfalls abtasten muss.
Und überall Smartphones mit Bewegtbildern: Ein Flüchtlingslager? Dreigeschossige Container, offenbar in der Nähe eines Hafens, eines Flusses und einer Schnellstraße – Hamburg? „Stadt (Land Fluss)“. Die temporäre Unterkunft wird aus verschiedenen Perspektiven von einer statischen Kamera in den Blick genommen. Auf manchen Smartphones ist der Aufbau der temporären Architektur aus Stahl zu studieren, auf anderen das Sozialverhalten der Bewohner, Kinder spielen und in der Nähe dieser Bilder sind auch Kinderstimmen über den Kopfhörer zu hören. Eine Soundlandschaft, die sich mit den Bildern koppelt, mit Abstand zu ihnen entkoppelt und mit neuen Bildern im Raum neukoppelt. Manchmal ist eine Männerstimme zu hören, die zur Planbarkeit des Unplanbaren in der Urbanistik referiert und zur Offenheit auffordert, manchmal sind es die spielenden Kinder, manchmal Motorengeräusche vorbeifahrender Autos. Alles in Bewegung, parallel zu den eigenen Bewegungen.
In der anderen Ecke des Saales ein dritter Klangkünstler, mit Technikpult, Synthesizer und Digitaluhr, hinter ihm eine Nebelmaschine. Auf seinem Pult liegen 6 (die Anzahl sehe ich am Ende des Abends) A4-Seiten, die mein Interesse wecken. Eine minutiöse Notation von (wie ich auch erst später sehen werde) 70 Minuten. Ich denke an John Cages Kompositionen, an 4’33“, deren Länge durch das Schließen und Öffnen des Klavierdeckels bestimmt ist, alle verfügen über exakte Partituren. Und an Cages fünf „Imaginary Landscapes“, bestehend aus Geräuschen von Plattenspiegeln, Lautstärkereglern, Konservendosen, Radios, alle zwischen 1939 und 1952.
Neben mir montiert eine junge Frau mit einem Akkuschrauber eine MDF-Platte vom Alurahmen ab. Das Geräusch des Schraubers übertönt die des Kopfhörers. Ich nehme den Kopfhörer ab und sehe, höre und fühle den Unterschied. Wie unter einer Glocke nimmt man mit den Kopfhörern wahr, ein Grundsound, bestehend aus metallischen Geräuschen, einem Puls, Strombewegungen, Schwingungen (glaube ich), darüber je nach Aufenthalt im Raum die dazugemischten Klänge der Klangkünstler. Ohne Kopfhörer ist die Situation seltsam, denn der Raum ist still, bis auf die Geräusche der Akkubohrer, und die Besucher flanieren beinahe lautlos durch den Saal. Ich setze den Kopfhörer wieder auf, fühle mich wieder synchron mit den Ereignissen.
Zwei weitere Personen demontieren die MDF-Platten, die begehbare Installation wird durchlässiger, neue Blickachsen entstehen, neue Klangkorridore. Die Bewegtbilder auf den Smartphones haben sich zwischenzeitlich vertikal zweigeteilt, zeigen aber trotz Split Screen (beinahe, nur minimal zeitversetzte) zusammengehörige Handlungen. Hier wird nichts gegenmontiert, konfrontiert, parallel gestellt, die eine Bildseite ist lediglich minimal verschattet. Oder habe ich es vorher nicht bemerkt? Wird es dunkler? Im Bewegtbild? Oder im Saal? Können die rhythmisch streng angeordneten Leuchtröhren unter der Decke sich langsam runterdimmen?
Ich denke an Dan Flavins Installationen aus Leuchtstoffröhren und erinnere angesichts der von der Decke herunterhängenden elektrischen Kabeln, dass Robert Barry für seine räumlichen Installationen Drähte und Nylonfäden verwendete, aber auch akustische Frequenzen und Geräusche mit Edelgasen und radioaktivem Material herstellte. Auf der Empore des Saales sitzt, wie ich bei der Gelegenheit sehe, ein Techniker, der offenbar von oben die gesamte Klangsituation, die Induktionskopfhörer, die Lautstärken, die elektromagnetischen Klänge steuert. Tragen die herunterhängenden elektrische Kabel auch zur Akkustik bei? Sind hier ebenfalls Klänge eingespeist? Und verstärken die großen Stahlträger, die den etwa 400qm großen Saal statisch tragen? In der Ecke der Subwoofer und eine zweite Nebelmaschine. Es wird dunkler – weil die hellen Reflexionsflächen der MDF-Platten fehlen? Die Smartphones werden zu einer eigenen Lichtquelle, darunter sind kleine Lichtklammerspots angebracht. Die Besucher setzen sich mit der Zeit, auf MDF-Stapeln am Rand, in der Mitte, auf den Fußboden. Nachdem sie durch den Raum flaniert sind, finden sie nun Ruhe. Denn es stören keine Disruptionen, alles ist gleichbleibend kontinuierlich, auch die beinahe unmerklichen Änderungen, keine Peaks. Oder entziehen sie sich den immer neuen Bild- und Klangperspektiven?
Mittlerweile stehen nur noch Alugerippe im Raum, in ihnen spiegelt sich das Neolicht. Die Blickachsen zwischen den drei Klangkünstlern sind freigelegt, die drei Personen (oder sind es Performer, die szenische Abläufe einziehen?) mit den Akkuschraubern sind aus dem Bild an den Rand gerückt. Überall kleine rote Punkte der statischen und der noch immer wandernen Kopfhörer. Auch im Bewegtbild ist es dunkler geworden, jemand fegt den Platz in der Dämmerung. Oder konstruiere ich hier Zeit? Genauso, wie ich zuvor den, meinen Raum geschaffen habe? Einige Bilder werden verschwommener, der Mond scheint, es existieren also doch Interrelationen. Auch das Schreiben im Dunkeln fällt (mir) immer schwerer, ich suche nach den Klemmspots, sie reichen als Beleuchtung nicht aus.
Nach 70 Minuten verlassen die drei ihre Pulte, das Licht geht an, nachdem noch einige MDF-Platten mit lautem Knall zerstört werden. Ton aus, es wird geklatscht, eingeleitet von einem der drei Performer. Danach laufen die Screens weiter, Abend- und Nachsituationen sind zu sehen, auf 1:50 programmiert (ich habe den Display berührt), bei 1:40 dunkeln sie komplett ab.
Wie darüber schreiben? Wie eine Plausibilität, eine Kausalität, einen Überblick in das Gesehene, Gehörte und Bewegte bringen? Wie die Material- und Formatexperimente formulieren? … indem ich (so entscheide ich später) meine Notizen in ihrer Experimentalität und Fragmentiertet belasse – als Reisenotizen. Nein, es ist keine begehbare Installation (Museum), auch kein filmischer Raum durch die Bewegtbilder (Kino), auch keine Klanginstallation (Festival) oder eine Klangperformance (Konzert), sondern ein Oszillieren dazwischen, unentschieden entschieden bzw. entschieden unentschieden, daher auch final für einen kleinen Moment uneindeutig, ob die Anwesenden wie im Theater applaudieren oder wie im Museum nicht stören. Sie klatschen ein wenig verschämt, dann freudig, anfangs wie in der Kirche, später wie bei einer Performance.
Stadt (Land Fluss), 16. bis 19.11.2017, Sophiensäle Berlin
Künstlerische Leitung: Daniel Kötter (Bewegtbild), Hannes Seidl (Komposition)
Elektromagnetische Klänge: Christina Kubisch
Klangkünstlerin: Andrea Neumann
Turntables: Martin Lorenz
Synthesizer: Sebastian Berweck
Performance: Niklas Herzberg, Rune Jürgensen, Désirée Sophie Meul
Raum: Peter Zoller
Technische Leitung: Norbert Zacharias
Text: Birte Kleine-Benne
Fotos: Wenke Kleine-Benne