Von der Restringiertheit des Codes aufgefressen…

Um einen entscheidenden Unterschied vorweg zu nehmen: Es ist kein iPad, wie kommuniziert wird, mit dem die Besucher die Raum-Installation Situation Rooms von Rimini Protokoll durchstreifen. Es ist ein Minibildschirm, montiert an einem Holzgriff, mit angeschlossenen Kopfhörern, dessen visuelle Bewegtbilder und akustische Einspieler die abzulaufenden Wege vor-schreiten und das vom Besucher einzunehmende Verhalten, seine Blickrichtungen und Perspektiven vor-geben, damit den Besucher in ein leicht zeitversetztes, wenn möglich aber zeitgleiches Re-enacten versetzen, z.B. eine Suppe zu rühren, ein Werkstück zu vermessen, einen Hut aufzusetzen, sich eine Jacke an- oder ausziehen zu lassen oder aber die Hand eines anderen Besuchers zu schütteln.

Voraussetzung für diese Koordination innerhalb von 20(+) Raumsituationen, 20 Geschichten und 20 Besuchern ist ein striktes Script und genau dieses Script, das Personen, Räume, Zeitfenster und Requisiten zu einem reibungslosen Ablauf der 75-minütigen Ereignisse in Einstimmung bringt, hat zu dessen Erfüllung zwingend einen so hohen Grad an Restriktivität, das der Besucher zu einem nur kleinen Rädchen in dem größeren, durchkomponierten, durchchoreografierten und durchinszenierten Gesamtgefüge „Situation Rooms“ wird.

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Im Programmheft von Rimini heißt das positiv gewendet so: „So setzt sich ein Zuschauer an den Schreibtisch einer Führungskraft aus dem Rüstungsgeschäft. Eine andere Zuschauerin folgt gleichzeitig dem Film eines pakistanischen Anwaltes von Opfern amerikanischer Drohnenanschläge in ein enges Kabuff mit Überwachungsmonitoren. Auf ihrem Weg dorthin sieht sie einen dritten Zuschauer, der seinem Film in den Schießstand eines Berliner Schützenvereins folgt, an dem er dem deutschen Meister im Parcours-Schießen zuhört. Um die Ecke steht ein anderer Zuschauer in der Rolle eines Arztes, der in Sierra Leone Amputationen durchführt, während im Zimmer daneben ein Pressefotograf Bilder von Bundeswehreinsätzen in Afghanistan sortiert um wenig später selbst im Schießstand zu stehen um genau das zu tun, was er vorhin beiläufig beobachten konnte – und dabei für andere zum Gegenstand der Beobachtung zu werden.“

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Rezeptionsästhetisch ist die Umfunktionierung eines iPads zu einem Bildschirm programmatisch verstehbar – Interaktions- oder Partizipationsmöglichkeiten (um mit Hans-Dieter Hubers Systematisierungsangebote für Netzkunst zu arbeiten) sind nicht vorhanden, von Kollaboration – d.h. der Einflussnahme auf das Script selbst – kann schon gar keine Rede sein. Der Besucher ist ganz damit beschäftigt, die durch die Bewegtbilder oder zusätzlich eingeblendeten Icons mitgeteilten Koordinationshinweise zu erfüllen, es entsteht ein „reaktives Werk“, bei dem sich (wieder Huber für die Netzkunst) „der User nur durch Klicken und Scrollen“ (hier durch Gehen, Sitzen, Knien und Liegen) „durch das Projekt bewegen kann“.

Das inhaltliche Dilemma ist in der Folge, dass die eingespielten inszenierten, 7-minütigen Geschichten von 20 Menschen, deren Biografien sich im Thema Waffen treffen (etwa eines Kindersoldaten aus Kongo, eines Kriegsfotografen im Einsatz in Afghanistan, eines israelischen Soldaten, eines Schweizer Feinmechanikers, eines Aktivisten am Produktionsstandort der Waffenschmiede Heckler & Koch Oberndorf, eines Berliner und von H&K gesponserten Sportschützen) nicht memoriert oder gar reflektiert werden können. Vermutlich sollte das Konzept, den Besucher in konkrete (narrative, zeitliche und räumliche) Situationen zu bringen, ihn nach-zeichnen, nach-schießen, nach-messen zu lassen, zu einem intensive(re)n emotionalen Zugang als über das im klassischen Theater standardisierte Hören und Sehen führen: Helgard Haug kündigte bei ihrer Präsentation im Mai auf dem Theatertreffen in Berlin an, den Besucher hier mittels des Formats der Augmented Reality in die Subjektive bringen zu wollen. Durch die stoische Wiederholung der pro-formatierten Handlung werden Sinne und Emotionen aber gerade nicht aktiviert und die inhaltliche Ebene geht – von der performativen ganz zu schweigen – in der Konzentration auf die Anweisungen verloren. Nicht im „räumlichen und inhaltlichen Labyrinth des Filmsets verfängt sich das Publikum“, wie der Ankündigungstext verkündet, seine Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit, seine Neugierde und Sensibilität für Wahrnehmung (dass es wahrnimmt, was es wahrnimmt und wie es wahrnimmt) wird von der Restringiertheit des Codes der Inszenierung aufgefressen.

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Die begeisterten Kommentare des Publikums im ausgelegten Gästebuch, zuvor auch des Feuilletons, das zur Einladung dieser Produktion zum Berliner Theatertreffen 2014 führte, sind wie auch die Selbstbeschreibungen von Rimini Protokoll (ein „komplex ausgetüfteltes multiperspektivisches ‘Shooting‘“, „ein multiples Simultan-Kino. Augmented Reality, die so dreidimensional ist, wie es nur Theater sein kann!“) zunächst erst einmal – und dies zu Recht – einer Begeisterung für den Innovationsgrad des Genre Theaters auf formaler Ebene, für die Selbstreflexion und Erweiterung des Theaterbegriffs, den „Technologie“-Einsatz im Theater, die Ausdifferenzierung der Konzepte Re-enactment und Performativität (durch die Paradoxie sychronen Delays) und die raffiniert kalkulierte Choreografie von Personen, Räumen, Requisiten und Bewegungen geschuldet – kann aber nicht den Grad der Involviertheit, das Maß an Performativität, die emotionale Berührtheit, die Sinn- und Sinnesansprache, die Intensität oder auch Multiperspektivität von Subjektivierungsprozessen meinen. Stattdessen wird in den und durch die „Situation Rooms“ eine Einsamkeit, eine Handlungsbegrenztheit und eine Sprachlosigkeit in Gang gesetzt, so dass die in der Mixed Reality nie zum Einsatz gebrachte Stimme des Besuchers auch programmatisch gedeutet werden kann: Er/sie ist seiner/ihrer Stimme beraubt. Oder ist etwa das die Pointe Riminis als ein aktueller kulturpessimistischer Kommentar?

Weitere Kritiken hier

Hebbel am Ufer, 14.-22.12.2014, 27.-30.12.2014, 2.-11.1.2015 http://www.hebbel-am-ufer.de/programm/spielplan/rimini-protokoll-situation-rooms/1570/

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