Übersetzungen von Poesie in Musik in Tanz in sozialen Raum

Was passiert, wenn Lyrik von Richard Dehmel (1), vertont von Schönberg, Strauss und Sibelius (2), kammermusikalisch (3) im Berliner Landgericht (4) zur Aufführung gebracht und in zeitgenössischen Tanz (5) übersetzt wird? Es entstehen Situationen (6), die an Tino Sehgals Perzeptionsexperimente erinnern, mit denen sich das Publikum den ihm zur Verfügung gestellten Zwischenraum (Landgericht, Aufführungsraum, Kunstraum) in einen sozialen Raum übersetzt. Im Detail:

„Ist denn Alles tot und trübe? Horch –: ein ferner Mund –: vom Dom – Glockenchöre … Nacht … Und Liebe …“. Die Lyrik des promovierten Wirtschaftswissenschaftlers Richard Dehmel (1863 bis 1920) ist von existentiellen Themen geprägt. Fasziniert von Liebe, Nacht, Tod, Sturm, Licht, Glut, Lust und Dunkelheit entstanden in der Zeit von 1891 bis zum Ersten Weltkrieg eine Vielzahl von Lyriksammlungen und Dramen, Kinderreimen und Kinderbüchern (gemeinsam mit Paula Oppenheimer-Dehmel) sowie ein Roman in Versen (Zwei Menschen, 1903). Neben der dramatischen Themenausrichtung, die insbesondere die expressionistische Dichtung beeinflussen sollte, regte das musikalische Prinzip seiner Lyrik, der innere Rhythmus, die Metrik, der Wortklang und die Silbendauer eine Vielzahl von Zeitgenossen an, Dehmels Poesien in Musik zu übersetzen. Richard Strauss, Frederick Delius, Max Reger, Jean Sibelius, Hermann Zilcher, Anton Webern, Hans Pfitzner, Arnold Bax, Karol Szymanowski – Zeitgenossen von Dehmel und in den 1860er, 1870er und 1880er Jahren geboren– vertonten Dehmels Lyrik zu Liedkompositionen, Arnold Schönberg wurde 1899 von Dehmels Epos „Zwei Menschen. Roman in Romanzen“ zu dem Streichsextett „Verklärte Nacht“ op. 4 angeregt und auch Philip Mayers, Pianist und künstlerischer Leiter des Abends, komponierte zu den Texten Dehmels (Am Ufer, Manche Nacht, Nächtliche Scheu, Aufglanz) unter dem Titel „Nächtens“ ein Arrangement für Sopran (Anja Petersen), Violine (Henja Semmler) und ein Violincello (Anna Carewe), das an diesem Abend zur Uraufführung kam.

Dieser Abend, bei dem es sich um ein weiteres Konzert im Rahmen der ForumKonzerte handelte, die der RIAS Kammerchor „gemeinsam mit Freunden und Förderer“ veranstaltet, fand am 26. April 2018 im Berliner Landgerichtsgebäude in der Littenstraße statt, das um die Jahrhundertwende vom 19. ins 20. Jahrhundert, 1896 bis 1904, also als zeitgenössische Architektur Dehmels und der meisten Komponisten, als „Königliches Land- und Amtsgericht“ nach einem Entwurf von Paul Thoemer und Rudolf Mönnich gebaut wurde. Die fünfachsige und einige Hundert Meter lange Hauptfassade zur Littenstraße wird durch die 30,5 Meter hohe gewölbte Eingangshalle akzentuiert, in der das ForumKonzert stattfand. Die 30 Meter hohe Halle, die durch schlanke, profilierte Pfeiler, emporenartige Umgänge mit Balkonen, das Gewölbe und die Zwillingstreppen strukturiert wird, ist mit Ornamenten überfüllt, die Otto Schmalz zuzuschreiben sind: ein ovaler Grundriss, ein kleeblattförmiges Gewölbe, zwei schwingende doppelläufige Wendeltreppen, farbige Pfeilerbemalungen, roter und grüner Sandstein, goldene Wandintarsien, Kapitellverzierungen, Voutendecken, ornamentales Metallgeländer, durchmusterter Fliesenboden. Hier sind architektonische Referenzen an Gotik, Barock, Rokoko und Jugendstil in einer „der bedeutendsten Raumschöpfungen dieser Zeit in Berlin“ kombiniert.

Hier erklangen auch der erstürmende und drängende Sopran von Anja Petersen und der strahlende und klagende Tenor von Minsub Hong, hier ertönte der Widerhall der Töne von Klavier, Violine und Violoncello des Sheridan Ensembles, hier tanzte das Duo SVEA Dance (Lea Hladka und Sven Gettkant) und fügte mit ihrem zeitgenössischen Tanz nicht nur eine weitere Kunst- und Übersetzungsform, sondern auch eine weitere Zeitachse hinzu. Die Choreografien orientierten sich dabei sowohl an den Texten Dehmels und den musikalischen Kompositionen als auch an dem Raum und waren dann am stärksten, wenn sie sich nicht einem Tanzstil verschrieben, sondern mit den Faktoren Raum, Gesang und Musik korrespondierten und diese narrativ und konzeptuell verdichteten – sie somit eine choreografische Variante der Konzeptkunst zeigten. So stand im Mittelteil des Abends Schönbergs „Verklärte Nacht“ op. 4, die Schicksalserzählung eines Paares, in einer Bearbeitung für Violine, Violoncello und Klavier von Eduard Steuermann. Zu dieser textlosen Komposition (von Dehmel inspiriert) durchtanzten Lea Hladka und Sven Gettkant die Eingangshalle auf engstem und auf weitem Raum (wunderbar klug und sensibel, dass sich hierfür die MusikerInnen aus der Symmetrieachse der Halle verrücken ließen und damit auch den Mosaikfußboden freigaben) und scheuten sich nicht vor klassischen Hebefiguren, Sprüngen und Drehungen des Pas de deux. Hladka und Gettkant kombinierten das klassische Ballett mit der abstrahierenden, improvisierenden, experimentellen und scheinbar zufälligen Körpersprache des modernen Ausdruckstanzes und fanden ihre Zeitgenossenschaft in den offenen Ausgängen, abrupten Abbrüchen, Unsicherheiten, Anziehungen und Abstoßungen. Das kunsthandwerklich dekorative Treppengeländer ertanzten sie sich auf einer der oberen Empore zu Dehmels Zeilen: „Gib mir deine Hand, nur den Finger, dann seh ich diesen ganzen Erdkreis als mein Eigen an!“  (noch einmal übersetzt und zwar in die englische Sprache) und schufen damit Bewegungs-, Blick- und Bedeutungsachsen in und durch den Raum.

Raum, der seit den 1970er Jahren (mit Henri Lefèbvre) nicht mehr als ein homogenes, bereits existierendes Gebilde gedacht wird, sondern als ein sich ständig im Prozess befindliches Produkt sozialer Beziehungen, sollte sich an diesem Abend von einem Zwischenraum (einem zwischenzeitlich von der Stadt Berlin zur Verfügung gestellten und temporär für die Künste genutzten Aufführungsraum) zu einem sozialen Raum wandeln: In den zwei, etwa zehn-minütigen Pausen zwischen den Aufführungssets eigneten sich die Kunstbesucher die Eingangshalle an: Zunächst zögerlich und reglementiert durch das uniformierte Sicherheitspersonal des Hauses, indem sie die Architektur als Handybildmotiv und damit auch jenseits ihrer Funktionalisierung als Rechtsraum (wieder-)entdeckten. Später sollten die Kunstbesucher das Haus zumindest im Erdgeschoss zu den Waschräumen durchqueren können, so dass sie sich zum dritten Aufführungsteil aus dem sortierten, frontal gesetzten Publikumskörper herauslösen konnten, um in der Eingangshalle individuelle Figurationen im Sitzen, Liegen, Lehnen und Hocken zu finden. Das Publikum fand in dem zur Verfügung gestellten und streng geordneten Zwischenraum im ästhetischen Resonanzraum der Performance aus Ort, Tanz, Musik und Gesang individuelle Konstellationen, ausserhalb der vor-/gegebenen An-/Ordnung. Diese Situationen erinnerten an Tino Sehgals Perzeptionsexperimente, in denen dieser ortsspezifische, unerwartbare und verhaltensuntypische Zeit- und Raumtexturen anlegt. Die Eingangshalle, tagsüber ein Ort der Konfliktverhandlung bzw. mit Niklas Luhmann der Absorption von Konflikten, dessen Durchquerung zunächst aus organisatorischen Gründen abgewiesen werden sollte, wurde an diesem Abend zu einen multimedialen, durch Musik, Gesang, Tanz, Architektur und eben auch Publikum hervorgebrachten Raum.

Das Konzert wird am 2. Mai ab 20.03 Uhr von Deutschlandfunk Kultur übertragen.

Die Reihe ForumKonzerte wird am 8. Juni 2018 im Krematorium Baumschulenweg fortgesetzt.

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