Der Neue Realismus?

Während vor etwa 100 Jahren im Rahmen sogenannter Völkerschauen auf Europas und Nordamerikas Jahrmärkten, Volksfesten, Varietees oder Gewerbe- und Kolonialausstellungen sog. „Lippenneger“, „Kanaken der Südsee“ (Münchner Oktoberfest, 1931) oder „Eingeborene“ im Düsseldorfer Zoo (1937) gezeigt wurden, nimmt nun in Hamburg, “dem Ort der Gründung des Tierpark Hagenbeck durch den Völkerschauausrichter Carl Hagenbeck (1907)“ die Wiener Künstlergruppe God’s Entertainment die Technik des Zurschaustellens auf und präsentiert im Rahmen des Live Art Festivals Zoo 300 auf Kampnagel „sechs bis neun Randgruppen-Menschenarten“ (O-Ton):

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Für 3 Euro können bis zum 15.6.2013 allabendlich ab 18 Uhr ein Punk, ein Frührentner, ein HartzIV-Paar, eine Romni, eine alleinerziehende Mutter mit Sohn, ein Aysl-Bewerber (aus dem Senegal), ein Straftäter mit DDR-Vergangenheit und einige Obdachlose geschaut werden (gesucht wird noch ein Neo-Nazi), die in Bretterverschlägen mit Metallvergitterungen auf knapp 4 Quadratmeter eingesperrt sind.
Die sogenannten „Gehäge“ sind mit jeweilig stereotypisierten Assecoires ausgestattet:
mit rot-weiss-blau-karierten Tragetaschen, Kruzifixen, Leergutflaschen, Staubsaugern, Riesenflatscreen, Pirelli-Nacktkalenderblätter, Hanteln, Aldi-Tüten, Gesetzestexten. Deutlich wird diese signifizierende Markierung an einer Sicherheitsnadel, die vor der Zelle des Punks in musealer Attitüde des White-Cube auf einem Sockel und unter einer Glashaube präsentiert und nobilitiert wird und an ihre ikonische Karriere im 20. Jahrhundert erinnert. Und so werden in ähnlich stereotyper Form die jeweiligen Lebensweisen performiert, besser karikiert: die Obdachlosen betteln offensiv um etwas Kleingeld, das alleinerzogene Kind spielt Computerballerspiele, die Alleinerziehende staubsaugt, der Punk streichelt auf dem Boden sitzend seinen Hund…

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Jeder einzelne Verschlag ist mit Informationsaushängen ausgestattet, die systematisiert Auskunft geben über die Merkmale der „Menschenart“, deren Lebensweise, über Feinde, Ernährung und Formen der Finanzierung. Zwischendurch werden die Randgruppenpersonen in einem mobilen Bretterverschlag auf die Toiletten gefahren oder es finden Fütterungen durch die Betreiber/Initiatoren statt. Die Besucher können aber auch selbst Bananen, Möhren, Cola, Chips, Gummibärchen oder Schokoriegel aus einem Einkaufswagen erwerben (bei einer Frau, die mehreren Randgruppen angehört und deshalb nicht über eine eigene Zelle verfügt) und die Fütterung übernehmen.

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Die im kunsttheoretischen Jargon als eine peformative Installation zu bezeichnende Ausstellung endet White-Cube-stereotyp mit einem Museumsshop, in dem Bastelsets zu den jeweiligen ausgestellten Randgruppen (plus Bastelset ‚Hacker‘ inklusive Zigaretten und der obligatorischen Kaffeetasse) verkauft werden, ebenso wie Sicherheitsnadeln und T-Shirts.

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Die medialen Empörungen sind zu antizipieren: Menschenverachtung, beschämende Plakativität, Provokation, Voyerismus.
Im Ankündigungstext von God’s Entertainment heisst es, dass mit der Abbildung des Originals versucht werde, den Kreislauf der Stereotypen zu durchbrechen und die inszenierten Klischees die schon vorhandenen Vorstellungen der Zuschauer bestätigen und verstärken würden.

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