Wiederholen, um zu unterscheiden

Zu Anta Helena Reckes „Mittelreich“ und der Einladung zum Theatertreffen 2018.

Beinahe bedauernswert schien in der jüngeren Vergangenheit der Zustand der bildenden Künste:

Im und um das Theater entwickelte sich mit dem sog. Geflüchtetentheater, der Blackfacing-Debatte, den Erfolgen des postmigrantischen Theaters (unter anderem im Berliner Ballhaus Naunynstraße und im Maxim Gorki Theater) und zuvorderst mit den Ereignissen rund um die Berliner Volksbühne und den um sie geführten ideologischen Kulturkämpfen eine außerordentlich vitale Debatte, so dass Dirk Baecker zuzustimmen war, dass es sich (nur) beim Theater um einen „Erprobungsraum für soziales Handeln“ handeln würde.

Die bildende Kunst gab derweil auf dem Berliner Gallery Weekend 2018 nicht nur symbolischen Raum an den Konsum ab: Temporäre Shops loggten sich für das Wochenende in das Galerieareal der Potsdamer Straße, stylische Marketingstände wandten sich an die Kunstflaneure, Pistazien doch nun besser in Designverhüllung zu kaufen. Zuvor hatte bereits Jeff Koons die Schaufenster der Louis-Vuitton-Shops in den Prachteinkaufsstraßen Deutschlands mit seinen Manet-, Gauguin-, Poussin- und Monet-geprinteten Taschenkollektionen „verschönert“. Hier wurde demonstrativ die (historische) Verbindung von (bildender) Kunst und Marktwirtschaft vorgetragen und der Unterschied zwischen dem flanierenden, posierenden und sich zeigenden Kunstbesucher in Gallerien und Ausstellungen und den meist im Dunkeln abtauchenden und stundenlang konzentrierten Theaterbesuchern deutlich.

© Judith Buss. Mittelreich: Damian Rebgetz, Jochen Noch, Steven Scharf, Thomas Hauser, Annette Paulmann, Stefan Merki (liegend)

Wie wenig separiert grundsätzlich das Eine und das Andere zu denken ist, zeigt auf kunstbetrieblicher, auf formbildender, auf subjektkonstitutiver und auf identitätsstiftender Ebene die Inszenierung „Mittelreich“, die 2018 zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen wurde. Oder, um wiederum mit Baecker zu formulieren: Das Andere ist vom Einen ausgeschlossen, muss aber gleichwohl vorausgesetzt werden, damit es sein wollen kann, was es ist (Baecker, Wozu Systeme?, 2002, S. 12).

Die zum Theatertreffen 2018 eingeladene Inszenierung von Anta Helena Recke an den Münchner Kammerspielen basiert auf der Inszenierung von Anna-Sophie Mahler, die den autobiografischen Roman „Mittelreich“ von Josef Bierbichler 2015 ebenfalls an den Kammerspielen München auf die Bühne brachte. „Mittelreich“ erzählt die einhundert-jährige Geschichte einer Wirtshausfamilie am bayerischen Starnberger See, vorgetragen von Semi (dem Jüngsten der Seewirt-Familie), mal in der ersten, mal in der dritten Person, mal in leichten und erzählerischen Anekdoten, mal in wütenden und fluchenden Tiraden. Erzählt wird von körperlichen Verletzungen im Ersten Weltkrieg, von SS-Sondereinsätzen 1944, von Flüchtlingen nach dem Zweiten Weltkrieg, vom Wirtschaftswunder in den 50er Jahren und von leidigen Eigentums-, Traditions-, Erb- und Verantwortungsverstrickungen im „Mittelreichen“ dreier Generationen. Bierbichlers Text wurde von Mahler als streitbares Musiktheater inszeniert, indem der Text mit Johannes Brahms’Ein deutsches Requiem“ von 1869 bzw. 1871 startete und unregelmäßig unterbrochen wurde. Bereits Brahms vertonte das „Deutsche Requiem“ statt als Trauermusik in kämpferischer Zuversicht: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“ (Matthäus 5,4). Bendix Dethleffsen als musikalischer Leiter entschied sich, mit den Schauspielersolisten, einem Chor, zwei Konzertflügeln und einer Pauke diesen Tenor (wie er sich auch in der plakativen rot-weiß-schwarzen Revolutionsgrafik des Programmheftes zeigt) noch pointierter herauszustellen.

Anta Helena Recke nun nimmt Anna-Sophie Mahlers Inszenierung von 2015 und „schwarzkopiert“ (Recke), indem sie die Inszenierung, die Dramaturgie (Julian Warner und Johanna Höhmann), die Bühne (Duri Bischoff), die Kostüme (Pascale Marin), das Licht (Jürgen Tulzer), das musikalische Programm (Bendix Dethleffsen), die schauspielerischen Verkörperungen durch Sprache, Mimik und Gestik (Thomas Hauser, Stefan Merki, Jochen Noch, Annette Paulmann, Damian Rebgetz, Steven Scharf) wiederholt bzw. wiederholen lässt – diesmal aber mit einem ausschließlich „Schwarzen Ensemble“ (die Großschreibung markiert in Texten der „Kritischen Weißseinsforschung“ die Wirksamkeit der Kategorie Schwarz und keine äusserliche Zuschreibung), sowohl auf der Bühne (Moses Leo, Jerry Hoffmann, Ernest Allan Hausmann, Isabelle Redfern, Victor Asamoah, Yosemeh Adjei) als auch im Orchestergraben (Sachiko Hara bzw. Romy Camerun, Miriel Cutino Torres, Jan Burkamp, Prisca Mbawala-Dernbach). Recke kopiert ihre Kollegin Mahler, in deren Regieassistenz sie an den Münchner Kammerspielen arbeitete, und verdeutlicht mit der Differenz der abweichenden Wiederholung, dass erstens ungeklärte Repräsentationalitätsfragen im Allgemeinen und auf den Bühnen deutscher Staats- und Stadttheater im Besonderen vorliegen, dass zweitens eine wesentliche Markierung, nämlich die der Whiteness in ihrem Konstruktionsstatus unsichtbar gehalten wird und dass drittens blinde Flecken eines „Schwarzes Deutschseins“ (Recke) etwa in der historischen Aufbereitung Schwarzer kämpfender Soldaten in beiden Weltkriegen existieren. Und so fiel Reckes Wahl (im Gespräch mit der Intendanz der Münchner Kammerspiele) auf die Inszenierung „Mittelreich“, um zum einen einen regionalen Bezug herzustellen und damit „breiter zu adressieren“, zum anderen, da bei der Regisseurin Anna-Sophie Mahler keine Abwehrhaltung gegenüber dem Experiment zu erwarten war. …obwohl sie, so Recke, der Vorwurf, dass es sich bei ihrem Verfahren um eine „imperiale Geste“ handele, sehr freue (Theater heute 10/2017, S. 51). Ein dritter, nicht benannter, intertextueller Grund scheint mir in der Wiederholungsanordnung des Generationenromans selbst angelegt.

© Judith Buss. Mittelreich: Yosemeh Adjei, Victor Asamoah, Moses Leo, Isabelle Redfern, Jerry Hoffmann, Ernest Allan Hausmann (liegend).    

Einige inszenatorische Momente einer ästhetischen Diskontinuität, Unterbrechung und Anschlussvermeidung arbeiteten dem Verfahren der abweichenden Wiederholung dabei eher zufällig zu: das zeitweise sporadische Stottern des (erwachsenen) Erzählers Semi (Moses Leo), dessen Whitefacing, als er sich zum Sauschlachten mit Kalk bestäubte sowie die Queerness des Fräulein Zwittau (Yosemeh Adjei), der in Travestiekostümierung zwischen Tenor und Countertenor lag und damit eine großartige Zwischenräumlichkeit kreierte. Differenzerzeugungen operieren nicht im Bereich der Illusionspolitik und setzen garantierte Effekte in Form von Verwerfungen und Instabilitäten in Gang. Die Signifikanten beginnen zu tanzen, Bedeutungs- und Sinnzusammenhänge entstehen, die zuvor nicht und nur lautlos existierten und die, so ist an den Publikumsreaktionen abzulesen, allein aufgrund der selten zu beobachtenden Diversität des Theaterpublikums keinen homogenen Publikumskörper formten, sondern individuell rezipiert wurden: (mit lautem Lachen) als Parodie, (mit hämischem Lachen) als Sarkasmus, (mit offenherzigem Lachen) als Freude, (mit Bewegungslosigkeit) als Skepsis …

© Judith Buss. Mittelreich: Isabelle Redfern, Ernest Allan Hausmann, Yosemeh Adjei, Jerry Hoffmann, Moses Leo.

Das Verfahren des Wiederholens, um zu differenzieren, oder anders formuliert, das Markieren, Bezeichnen und Beobachten von Unterscheidungen, die sowohl dasjenige beinhalten, was (sichtbar) bezeichnet wurde, als auch das, wovon es (unsichtbar) unterschieden wird, ist dabei ein Vorgang, der in der Theorie bereits hinreichend auf das form-konstitutive und zentrifugal-expansive (Spencer-Brown), das sinn-destabilisierende und erkenntnis-fördernde (Derrida), das wahrnehmungs-katalysatorische (Deleuze), das feministische (Irigaray) oder auch das politisch-emanzipatorische (Butler) Potential untersucht wurde. Dabei verständigte sich die dekonstruktivistische Theorie mit der Umstellung auf eine differenzialistische Logik auf deren Reflexivitätspotenz, auf Kontingenzpotential, Komplexitätstauglichkeit und Prozessierbarkeitsdynamik. Auch die bildenden Künste haben sich mit ihren Mitteln dieses Themas angenommen: Reckes Verfahren der, wie sie es nennt, „Schwarzkopie“ ist ein in den bildenden Künsten unter dem Begriff der Appropriation be- und anerkanntes und daher bereits institutionalisiertes Verfahren der Konzeptkunst, das eng mit den selbstreferentiellen Prozessierungen der bildenden Künste im 20. Jahrhundert in Zusammenhang steht. Die Aneignungstechniken der bildenden Künste (Zitieren, Imitieren, Rekuperieren, Parodieren, Adaptieren, Simulieren, Camouflieren, Travestieren …) sind dabei in der Lage, die verschiedensten Zurichtungen durch die Künste plastisch zu perspektivieren, etwa kunstbetriebliche Aspekte wie die Mechanismen des White Cube oder den Marktwert, apparative Aspekte wie die Einteilung des Blickfeldes durch Rasterungen, ästhetische Aspekte wie die Medienwahl oder die Kontextwechsel oder auch systembildend tradierte Funktionsaspekte wie Autorschaft, Urheberschaft, Signatur, Genialität, Intention und Originalität.

Recke nimmt (appropriiert) die Aneignungstechnik der bildenden Künste – zuvor hat sie den Umweg über das Studium der Szenischen Künste an der Universität Hildesheim und  textliche Einflüsse der Cultural Studies, der Critical Whiteness, der Gendertheorien und der Postcolonial Studies genommen – und wendet sie für die darstellende Künste an. Anders als KollegInnen der Appropriation Art der sog. 2. Generation, die sich ebenfalls mit den Themen Differenz, Identität, Eurozentrismus, Kolonialisierung und Gender auseinandersetzen (ich erwähne an dieser Stelle Yasumasa Morimuras fotografische Aneignungen ausgewählter „Meisterstücke“ von Rembrandt, Manet, van Gogh und Frida Kahlo) nimmt Recke keine Mediatisierung, also keinen Wechsel der zum Einsatz gebrachten Medialitäten vor. Sie belässt ihr Konzept des „Schwarzkopierens“ im Medium des Theaters, obwohl ein konzeptueller Wechsel des Mediums durchaus denkbar gewesen wäre. Hätten eine Fotostrecke von appropriierenden Stills in „Theater heute“ oder ein Reenactment von Schlüsselszenen im Medium einer Performance Fragen etwa zum Leistungsvergleich der SchauspielerInnen und MusikerInnen vermeiden können, wie sie von verschiedenen TheaterkritikerInnen aufgeworfen wurden?

© Judith Buss.

An der Stelle der Medialisierung zieht Recke also keine Differenz, mit Derrida keine zeitliche und/oder räumliche Unterscheidung ein und nutzt die von Baecker für das Theater konstatierte Qualität, nur hier in Ruhe und Gelassenheit und ohne Selbstbeteiligung zuschauen zu können, also einvernehmlich verabredet in die Rolle des Beobachters 2. Ordnung wechseln und die Bedrängungen der SchauspielerInnen durch List, Lüge und Betrug erfahren zu können. In genau diesem Raum, und ich möchte ergänzen, in einer Ästhetik des Performativen und ihrer auch medialen Zwischenräumlichkeit wären damit die Voraussetzungen gegeben, das Andere und Ausgeschlossene zu benennen und verschiedene Wahrnehmungen zu katalysieren: etwa hinsichtlich eines Weiß- und Schwarzseins, hinsichtlich grundlegender Privilegien in Form eines weißen Universalismus, hinsichtlich repräsentationaler Aspekte eines „Schwarzen Deutschseins“ (Recke) in deutschen Staats- und Stadttheatern und auch hinsichtlich eines strukturellen Rassismus, wie er in der Besetzungspraxis städtischer Theater sichtbar wird. Oder wie Recke an anderer Stelle betont: „Fakt ist, schwarze Körper kommen vor.“

Womöglich ist damit auch eine wesentliche Differenz von darstellenden bzw. szenischen und bildenden Künsten benannt, die womöglich auch ihren Beitrag zu den Kulturkämpfen im Zusammenhang der Volksbühne führte und die Chris Dercon, der am dem Hause mit dem Repertoire sowohl der bildenden als auch der darstellenden Künste arbeiten bzw. genau genommen deren Kapazitäten er zunächst erst einmal an dem  Ort des Theaters erproben wollte, nicht zugestanden wurde. Währenddessen in der bildenden Kunst kein mediales Primat (eher temporäre und tradierte Hierarchien) existiert, finden sich in dem Medium des Theaters unterschiedliche Medien wie Text, Video, Sound, Musik, Licht etc. ein, werden aber in dem prozessorientierten, szenischen und temporären „Herrensignifikanten“ (Lacan) Theater verarbeitet. Womöglich scheiterte Dercon daran, den sogenannten Polsterstich (Lacan) auflösen zu wollen, legte damit aber auch konstituierende, allerdings noch unbenannte Unterschiede frei. So stellt sich die Frage, wer wohl das „Theater um das (Volksbühnen-)Theater“ auf die Bühne bringen mag, um mit den Mitteln des Theaters die Fallstricke, die Bedenken, das Zögerliche und das Ideologische für die sich zurücklehnenden TheaterbesucherInnen herauszuarbeiten. Und noch eine weitere Frage drängt sich angesichts des schwarzkopierenden Verfahrens von Recke auf: Wie wäre mit Dercon umgegangen worden, wäre er Schwarz?

Eine weitere Appropriationsgeste wirkt dabei konzept-verstärkend und ist m. E. konzeptionell und referentiell nicht weniger klug als Reckes Technik: Auch die Jury des Theatertreffens 2018 (Margarete Affenzeller, Eva Behrendt, Wolfgang Höbel, Andreas Klaeui,,Dorothea Marcus, Christian Rakow, Shirin Sojitrawalla) appropriierte die Entscheidung der Jury des Theatertreffens 2016 (Till Briegleb, Barbara Burckhardt, Wolfgang Huber-Lang, Peter Laudenbach, Bernd Noack, Stephan Reuter, Andreas Wilink), das Stück „Mittelreich“ als eines der zehn bemerkenswertesten deutschsprachigen Inszenierungen einzuladen. Damit wurde eine weitere Dimension der Ästhetik des Performativen, nämlich die performative Dimension des Ensembles und des Publikums wie auch die katalysatorische Wirkung der Rezeption durch Anschlussoperationen wie Besprechungen, Diskussionsrunden, Kritiken, Hausarbeiten … registriert und honoriert. Oder wie Recke in einem Interview sagte: „Je größer die Bühne, desto größer die Aneignungsgeste und die Dreistigkeit, die in der Überschreibung steckt.“

In dieser quantitativen Größe sind dann auch weitere offengelegte Fragen zu verhandeln: Welchen Anteil hatte die institutionelle Rahmung von „Mittelreich’“ durch Lilienthals Kammerspiele? Welche Autorenschaft haben die DarstellerInnen der Mahler-Inszenierung auf ihre performative Dimension? Wie kann ein Unterschied bestimmt werden, ohne zwangsläufig zu vergleichen? Oder anders: Wie kann der Prozess der Vergleichung Differenzen oder Ähnlichkeiten modifizieren? Wie ist überhaupt mit Ählichkeiten umzugehen, die im Prozess der Alteration doch per se hintertrieben werden (sollen)? Welches Selbst-Verhältnis findet über/durch/mittels des Anderen statt? Wie sind Vernachlässigungen sichtbar zu machen, ohne zu moralisieren? Ist das Gegenteil des Anderen nicht etwa das Selbst, sondern die dem Unterschiedlichen gegenüber gleichgültige Homogenität? Hieße demnach das Gegensatzpaar Differenz versus In-Differenz? Hat Recke eine Autorschaft auf das Verfahren des Schwarzkopierens? Oder auf den Begriff? Handelt es sich überhaupt um das Verfahren des Kopierens? Oder wird hier vielmehr imitiert? Welche (ethnologischen) Bezüge existieren zu Jean Rouchs „Les Maitres Fous“ (1955, 36min), in denen Rouch ein Besessenheitsritual der Hauca bei Accra (Ghana) filmt, das das Erinnern der Kolonialherrschaft als Prozess der Aneignung, der Verschiebung und damit der Konstruktion nutzt? Kann jedes Theaterstück „schwarzkopiert“ und jedes „schwarzkopierte“ Theaterstück wieder „weißkopiert“ werden? Wann und wodurch erschöpft sich das Verfahren? Oder ist einzig die Endlosigkeit des Spiels mit seinen unendlichen Verweisungen (Derrida) dasjenige, dessen wir uns sicher sein können?

Birte Kleine-Benne

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