Es gibt nur ein Phantasma – und das ist die Kunst.

In der achten Ausgabe der von Helmut Draxler, Professor für Kunsttheorie und Kunstvermittlung an der AdBK Nürnberg, und Christoph Gurk, Kurator am Hau, konzipierten Veranstaltungsreihe Phantasma und Politik am Hebbel am Ufer, Berlin stand mit dem Titel der zweitägigen Konferenz Die Kunst des Phantasmas am Freitagabend (6.6.2014) der Begriff des Phantasmas zur Diskussion, am Samstagabend (7.6.2014) wurden mit „der“ Realität und mit Hélio Oiticicas „Cosmococapolitics“ zwei weitere Begriffe ins Verhältnis zum Phantasma gebracht.

Ausgangspunkt der Veranstaltungsreihe ist der Befund Helmut Draxlers, dass auch die institutionskritischen Praxen wie zuvor die von ihr kritisierte autonome Ästhetik hermetisch und ideologisch zu werden drohe, „weil auch sie die Umstände und Bedingungen, unter denen sie arbeiten, kaum mehr reflektieren können“. Die diagnostizierte und kritisierte Ausblendung der Prämissen durch die autonome Ästhetik scheint sich bei ihren Kritikern zu wiederholen – zu ergänzen ist, dass nicht nur die Ausblendung der Prämissen, auch die Prämissen selbst von den „Kritikern“ fortgesetzt und weitergetragen werden, wir es hierbei nicht nur mit einer methodischen, sondern auch mit einer inhaltlichen Herausforderung zu tun haben.

Gefragt wurde im Rahmen der Konferenz, wenn weder eine autonome Ästhetik noch deren kritische Praxis „davor gefeit ist, phantasmatisch zu werden, wie könnte dann eine wahrhaft reflektierte Kunst aussehen?“ Sicher eine, mit dem normativen Einzug von „Wahrhaftigkeit“ recht eigenwillig modernistisch angehauchte Frage, die noch einen ganz anderen Komplex eröffnet, der auf der Konferenz allerdings nicht Thema sein sollte: Wie steht es eigentlich um die kritische Praxis der Autonomie-Kritiker? Oder noch einmal anders gewendet: Was ist eigentlich aus der Modernismuskritik geworden, mit denen jene Kunstkritiker einst antraten?

2014-06-07 Hau

Die Begriffe „Kunst und Phantasma“ nun aber zueinander in Bezug zu stellen, stellt eine interessante thematische Entfaltung und Formbildung in Aussicht, die einerseits von Überlappungen zwischen Kunst und Phantasma ausgeht (es gibt Schnittmengen, die in der Konstruktion ‚und‘ aufgehoben sind), andererseits ist sie von Differenzen bestimmt, die nicht als Gegensätze zu denken sind, sondern mithelfen, die (flexiblen) Grenzen beider Felder zu bestimmen. Draxler geht dabei im Sinne Bourdieus von unterschiedlichen Kulturen von Sinnproduktion und Sinndurchsetzung aus, so dass diese Felder immer wieder in Kontakt, aber auch immer wieder in Konkurrenz zueinander gebracht werden, und schlägt vor, das Komplementäre der Ausgangslage als Form von struktureller Spannung anzuerkennen und nicht als eine voluntaristisch zu überwindende zu begreifen (vgl. Draxler 2007: Gefährliche Substanzen, Berlin). Insbesondere die Zwischenräume und Übergänge stellten für das Gesamtprojekt „Phantasma und Politik“ produktiv nutzbare Anreize dar, die danach fragen lassen können, wie wir phantasmatische Elemente übertragen könnnen, ob und welche Möglichkeiten wir haben, die Realität zu überwinden und wie es um eine praktische Auseinandersetzung bestellt sei.

Zunächst definierte Mai Wegener, Psychoanalytikerin und Initiatorin des Psychoanalytischen Salons Berlinihren Beruf als den des Zerlegens (der assoziativ wunderbar historische und operationale Schnittmengen der Psychoanlayse mit dem Dada- und Surrealismus öffnete): Psychoanalytiker würden mit Laurence Bataille verschlossene und wirksame Archive, die unsere Handlungen steuern, auf Bruchstücke abtasten, um hochsubjektive Bedeutungsgebungen gemischt mit kulturellen Konstruktionen freizulegen. Mit Lacan würde sich die Psychoanalyse auf die Suche nach den Knotenpunkten eines in Netzen untergetauchten bzw. hängenden Subjekts begeben – allerdings, so Wegener selbstkritisch, mit nur begrenztem Erfolg: Zwar würde man in Regionen kommen, in die anders nicht vorzustoßen wäre, man käme aber eben auch nicht überall hin. Daher empfahl sie der Konferenz ein zusätzliches, gleichfalls zerlegendes Rüstzeug etwa in Form ästhetischer und/oder politischer Reflexionen.

Wegener fokussierte sich in ihrem Vortrag auf Lacans Version von Phantasma: Phantasma sei zugleich weniger als auch mehr als Phantasie, weniger, weil es sich nur bruchstückhaft zeigt, und mehr, weil es etwas Wesentlichem auf die Spur kommt: der Ursache eines Begehrens. Ein Phantasma fixiere und verdecke zugleich, sein Bau (was es wie zusammenhält) sei unbewusst, seine Elemente (die wie Mytheme, Levi-Strauss‘ kleinste Elementarbausteine eines Mythos, funktionieren) können durchaus bewusst sein. Es sei, verkürzt, eine Ausarbeitung, eine Variation einer oder mehrerer Szenen, ein Arrangement. Lacans Grundbegriffe der Psychoanalyse bieten weitere Definitionen: Ein Phantasma beschützt in der Funktion eines Schirmes das Reale und vor dem Realen und es beschützt die Lust und vor der Lust.

Mit Marquis de Sades Die Philosophie im Boudoir (im Untertitel: Zur Erziehung junger Damen bestimmt) von 1795 wurde Wegener konkreter: Mit Lacans Text Kant mit Sade von 1963/66 kann (anders als George Batallie) Sades Werk als eine Inszenierung, eine Ent- und Ausfaltung eines Phantasmas im Raum der Schrift und der Kunst gelesen werden, allerdings eines Phantasmas an einer Stelle, an der wir nicht nicht konstruieren können und keine andere Chance haben, als zu erfinden, zu spinnen: ein Phantasma über die Frage des Geschlechtsverhältnisses und des Todes. Lacans Analyse läuft darauf hinaus, dass Sade die Konsequenz seines Phantasmas – im doppelten Wortsinn – realisiert: er bemerkt und er verwirklicht.

Ist ein Phantasma ein Bild, fragte Wegener zwischendurch, und stellte mit dieser Frage wie mit ihren Ausführungen zu Sades in der Schrift realisierten Kunst des Phantasmas die Verbindung zu den im Rahmen der Konferenz zu diskutierenden Zusammenhänge her: Ja, es hat bildliche, aber auch weiter gefasst Wahrnehmungs-Elemente, aber nicht nur, denn entscheidend ist, dass hier Zusammenhänge, Verknüpfungen hergestellt (und damit realisiert) werden. Die Frage nach dem Zusammenhang von Bild und Phantasma wurde in umgekehrter Richtung am Ende der Konferenz noch einmal gestellt…

Andrea Fraser, als Künstlerin und Autorin eine Schlüsselfigur der Institutional Critique, bezieht seit geraumer Zeit psychoanalytische Methoden in ihre künstlerische Praxis ein – zu erwähnen sind hier „Official Welcome“ von 2001, „Untitled“ von 2003 und „Projection“ von 2008. Ihren Vortrag nannte sie in fortgesetzter Folge ihrer Texte (2005 veröffentlichte sie ihren Aufsatz „From the Critique of Institutions to an Institution of Critique“) „From Critique to Analyse“. Seit Anfang der 00er Jahre, als sie sowohl als Patientin als auch als Leserin zur Psychoanalyse zurückkehrte (eine Zeit, in der Fraser überlegte, die Kunstwelt zu verlassen, vgl. Dziewior 2003, S. 86), versuche sie, die Analyse als eine Theorie und ein Modell ihrer künstlerischen Praxis zu praktizieren. Im Kontext der Institutional Critique würde sie dabei die Analyse als einen zweiten Schritt (ein-) schätzen, durch den die Anerkennung und Integration dessen erfolge, was in einem ersten Schritt, der Kritik, abgespalten und enteignet wurde – Frasers Vorschlag, um dem „Teufelskreislauf der Kritik“ zu entkommen, von dem sie ausgeht, dass sie eine Phantasie sei… Kunst verstehe sie in diesem Zusammenhang als einen „Verdauungstrakt“, aus dem zunehmend heterogene Produktionen ausgeschieden würden. Sie interessiere sich aktuell besonders für das Ungedachte, das sowohl vom Produzenten als auch vom Rezipienten erspürt, aber eben noch nicht gedacht sei. Das Kunstwerk wäre in diesem semantischen Kontext ein rezeptives Organ, das wiederum eine auslösende Funktion habe. Seit 8 Jahren unternimmt Fraser diesen Transfer auch in der Lehre, indem sie ihre Kurse nicht didaktisch, sondern erfahrungsgeleitet ausrichtet und damit versucht, klassische und begrenzende Muster bei Werkvorstellungen wie Verteidigung, Intention, Rechenschaft etc. beiseite zu schieben, das Schweigen zu thematisieren und Aufmerksamkeiten zu performieren (eine von ihren Studierenden geschätzte Technik).

Die abschließende Vertiefung gemeinsam mit Isabelle Graw, Kunstkritikerin und Herausgeberin von Texte zur Kunst, drehte sich um die Frage, ob der Begriff Kunst selbst Phantasmen (z. B. der Autonomie, der Authentizität) einziehe, wobei Graw den Begriff der Kritik verteidigte und als Instrument jeder künstlerischen Agenda stark machte. Dabei wurde die Diskussion mit Rahel Jaeggis Konzept der immanenten Kritik, den diese am Begriff der Lebensformen als Typus der „immanenten Kritik“ (neben denen der internen und externen Kritik) entwickelt (vgl. „Kritik von Lebensformen“, 2013) und damit Kritik neukonfiguriert hat, angereichert. Für das Publikum wurde neuerlich sichtbar, dass eine institutionskritische Auseinandersetzung mit der Rolle der Kunstkritik im Rahmen der Institutional Critique, die als Gegenmacht erst einmal unverdächtig gilt, angesichts der terminologischen, konzeptionellen und empistemologischen Ungeklärtheiten noch immer bzw. längst überfällig ist (bei Interesse bitte Kontakt aufnehmen).

Diedrich Diederichsen, der an der Akademie der Bildenden Künste Wien Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst lehrtführte mit seinem Vortrag „Reality used to be a friend of mine“ zwei weitere Begriffe ein, indem er die Realität und die Politik als eine ihrer Erscheinungsformen in einen Zusammenhang mit dem Phantasma stellte: Zunächst präsentierte er seinen Befund, dass eine Realitätsbesessenheit aller Künste zu beobachten sei, ein übermäßiger Wunsch, mittels einer Kunst mit unmittelbarem Realitätsbezug direkt Politik zu machen („GSG9-Kunst“). Diese „Real-Kunst“ wolle „raus aus der Kunst, rein in die Realität, das aber mit Mitteln der Kunst“ und würde damit eine Umkehrung und Negation des vermeintlichen Paradigmas des Ready-made praktizieren: „Pissoir zurück in die Toilette“. Dabei würde übersehen, dass seit dem Ready-made das Kunstwerk durch Nominierung und Deklaration statt durch Ontologie bestimmt würde, und es auf die Anschlussfähigkeit ankäme, ob ein Publikum etwas als Kunst diskutieren will. Diederichsen mahnte – und hier verwies er noch einmal auf die Einsicht durch das Ready-made, dass der Gegenbegriff von Kunst nicht Nicht-Kunst ist, sondern graduell bestimmt werden muss -, den Kunstbegriff nicht normativ, sondern deskripitv zu verhandeln, was angesichts seines Vortrags im D.D.-Style („GSG9-Kunst“) eigenwillig anmutete. Die Differenzsetzung von Kunst und Realität stützte Diederichsen dabei argumentativ mittels des Begriffs des Aufschubs: Kunst sei Aufschub – im Gegensatz zur Realität, die keinen Aufschub dulde („Pinkeln ist nicht aufschiebbar“).

Anhand des Kriteriums der Konsequenzialität verdeutlichte er, dass Begriffe wie Realität und Politik Kunst undialektisch auf eine Konsequenzlosigkeit des Fiktiven und Imaginären verkürzen würden, ohne dabei das Fiktive und Imaginäre von Realität und Politik selbst zu berücksichtigen. Allerdings würde gerade der „Reality-Check“ der Kunst (mit dem Indikator, auf der Höhe der Zeit zu sein) einen konsequenzenreichen Ultra-Zugriff der Kunst auf die Realität praktizieren, die damit nicht mehr politisch, sondern ästhetisch sei. Aktuell würden wir uns in einer Ära des Handelns aufhalten, deren Aktualisierungsleistung der „Realität etwas abtrotzt“: So würden heutige Studierende queer, feministisch, transdisziplinär gebildet, wissensfähig… sein – ein educational turn als Folge der Kritik der 70er Jahre und der Zeit danach, der (auch angesichts der Produktion von Marktkunst) nicht zwingend Teil ihrer Kunstwerke sein müsse, d.h. nicht zwingend in eine kapitalistische Verwertung überführt würde/werden müsse.

Éric Alliez, Philosoph und Mitbegründer des Magazins Multitudes, erprobte am Beispiel von Hélio Oiticicas „Block-Experiments in Cosmococa“ eine Re-Lektüre lateinamerikanischen Konzeptualismus: Während Oiticica (1937-1980) seine Karriere mit neo-konkreten Bild- und Objektproduktionen startete, wechselte er im Verlauf seiner Karriere zu opulenten, sensuellen, großformatigen, partizipativen, supra-sensoriellen Environments, die er im Kontext des „Tropicálismo“, einer übergreifenden Bewegung politischer Aktivisten, Musikern, Filmemachern und bildenden Künstlern im Brasilien der 60er Jahre produzierte. Alliez bezeichnete daher die Berlin Biennale 2012 als eine exemplarische „Hélio-Oiticica-Biennale“.

In seinem „Program in Progress“ entwickelte Oiticica in Kooperation mit Künstlerkollegen zwischen 1973 und 1974 die sog. „Block-Experiments in Cosmococa“, die er als ein offenes Programm bestehend aus einer Werkgruppe von 8 Proposals für Environments anlegte (allein die ersten fünf entstanden in Kooperation mit dem Brasilianischen Filmemacher Neville D’Almeida). Jedes umfasste dabei eine installative Kombination aus Diaprojektionen, Soundtracks, Zeichnungen (mit Kokain als Pigment), Matrazen, Kissen oder Hängematten und Instruktionen für die Besucher. Den hier zum Einsatz gebrachten Bildern und Zeichen einer Spektakelgesellschaft (u. a. durch Büchern, Plattencovern und Zeitschriften entnommenen Abbildungen etwa von Marilyn Monroe, Jimi Hendrix, Yoko Ono oder John Cage) würde cinematographisches Leben eingehaucht – das „Quasi-Cinéma“ als disruptives und supra-sensorielles Wahrnehmungsfeld schaffe in einer exponentiellen Beschleunigung sog. „instant moments“. Alliez stellte fest, dass diese Environments sich „beyond the representation“ einer Formatierung (z. B. als Konsum) entreißen, sie mit den narrativen Temporalitäten brechen, dem Objekt-Subjekt-Dualismus entkommen und das Sensorische entterritorialisieren könnten und sich damit (von der Fetischisierung von Partizipation seit den 90er Jahren abgesehen) jenseits der Register von Affirmation und Kritik aufhalten. Damit wäre „Cosmococa“ ein paradigmatischer Hinweis, wenn gefragt würde, was mit uns um und nach 1968 geschah: Zu diesem Zeitpunkt fand mit der Bio-Politik eine Neudefinition von Politik und mit dem Bruch mit der bildlichen Phänomenologie und der bürgerlichen Sublimation eine Neudefinition von Kunst statt.

Eine abschließende Diskussion, zu der Christoph Menke, Professor für Praktische Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt, dazu kam, band an das Thema des Phantasmas zurück und fragte, ob gerade jene „instant moments“ Phantasmen seien, ob es sich gerade hierbei um das imaginäre Szenario handele, „eine Art Stütze, um die Leere zu füllen“, eine Repräsentation der konstitutiven Faktoren durch Leugnung? Das würde in Ableitung danach fragen lassen, ob Kunst phantasmatische Bilder bzw. Endprodukte produziere – oder ob Kunst selbst ein Phantasma sei, deren Institutionen als Stützen helfen, das Szenario sicht- und lesbar zu machen. Zur Erinnerung: Ein Phantasma fixiert und verdeckt zugleich. Und wie verhält es sich mit der Kritik? Welche Funktion hat die Kritik in dem Prozess des Stützens? Und was ist, wenn die Stützen übernehmen? Welche Phantasmen re-/produzieren wir seit den 60er Jahren? Das Phantasma des Politischen? Das Phantasma des Bruchs? Zur Erinnerung: Ein Phantasma beschützt das Reale und vor dem Realen. Wozu dient uns das Konzept der modernen Kunst? Um eine Spaltung in den 60er Jahren zu konstruieren? Zur Erinnerung: Ein Phantasma ist eine Ausarbeitung, ein Arrangement. Und welche neuen Phantasmen entstehen, welche Referenzen produzieren sie? Hier sei die Klärung von Terminologien sowie von immanenten Begriffspolitiken erforderlich, um nicht das Phantasma des Phantasmas zu reproduzieren…

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