Kleiderbügel aus seiner 81-tägigen Haft 2011 in Beijing, nun in Kristall und Edelstahl, Handschellen aus seiner Haft mit mehr als 50 Verhören, nun in Jade, eine Atemschutzmaske aus Marmor gemeisselt auf einem Grabstein, eine Taxifensterkurbel aus Glas von 2012, da laut Parteibeschluss die Fensterkurbeln in den Taxen zu entfernen seien, um politische Kundgebungen via Flugblätter zu verhindern, das 2011 während seiner Inhaftierung konfiszierte Büromaterial (26 Rechner, 10 Laptops, Festplatten, Diktiergeräte, Mobiles, USB-Sticks…), die nachgebaute Zelle 81 (an der Tür steht 1135) und ihr komplett in Folie eingewickeltes Mobiliar, streng nach PVC riechend, deren Eingang nun vom Museumspersonal und einer roten Kordel koordiniert wird – dies alles wäre als humorvolle Anekdoten, als absurdes Dada oder mit surrealistischem Augenzwinkern rezipierbar, wäre die Ausstellung „Evidence“ von Ai Weiwei mit den 3 im vorletzten der 18 Räume plazierten Ready-mades eröffnet worden, die frühere Arbeiten von Ai zeigen: 2 Lederschuhe mit nur einem, gemeinsamen Hacken, die komplett entgegengesetzt ausgerichtet sind, 2 Regenmäntel, die zusammengenäht unverwendbar auf einem Garderobenhaken hängen, einem Junggesellenkoffer mit Zahnbürste, Zahnpasta und einem grösseren Schminkspiegel zur Selbstvergewisserung. Oder die Schau wäre mit den fotografischen „Perspektivstudien“ aus 40 Städten dieser Welt gestartet, auf denen Ai ikonischen Orten wie dem Petersdom in Rom, dem Pariser Eiffelturm, dem Weißen Haus in Washington… sich im Fluchtpunkt des Geschehens und als Fotograf positionierend den Stinkefinger zeigt.
Aber: Die Soloausstellung im Berliner Gropiusbau (noch bis 7.7.2014) eröffnet im Foyer mit Überwachungskameras aus Mamor, in der 3000 qm großen Halle mit 6.000 Holzschemeln, die, so heißt es auf dem erläuternden Saaltext, über Jahrhunderte seit der Ming Dynastie auf dem chinesischen Land verwendet worden seien, und mit einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel und Aussenminister Steinmeier mit der Forderung vieler Freunde Ais, dessen Reisefreiheit, u. a. zu seiner Ausstellung in Berlin zu garantierten. Dass dieser Brief hinter Glas ausgestellt ist und damit kuratorisch eine Absurdität herstellt, fällt hier schon nicht mehr ins Gewicht. In dieser Ausstellung kommt Ai, der Menschenrechtsvertreter, der Geschundene, der Inhaftierte, der Politische, der Heroe zu Wort. Die von ihm selbst verfassten Geschichten, die ohne Fakten, ohne Begründungen, ohne Quellen, ohne Belege als Textbestandteil in der Ausstellung wirkmächtig sind, sind ausschließlich als Dokumentation einer Realität und nicht als Fiktion rezipierbar und werden nicht in Zweifel gezogen – können nicht in Zweifel gezogen werden.
Hierzu tragen nicht nur das kuratorische Konzept und die Vorbedingungen der Rezeption, die mediale Markierung Ais als politischer Künstler durch die Medienpartner (Tagesspiegel, zitty, Monopol, Interview Magazine, Sleek Magazine, Weltkunst, Rolling Stone, Exberliner, Domus, H.O.M.E, radioeins, kulturradio, rbb fernsehen, ARTE) und andere Feuilleton-Diskussionen* bei, sondern unsere Erwartungshaltungen, die Ai vollumfassend bedient. Das dominierende Unterdrückungsnarrativ China setzt nur eine einzige Rezeptionsperspektive in Gang: Ai löst das imaginierte Bild ein, er bestätigt unsere Projektionen und unser Begehren nach einem höheren moralischen Selbstverständnis und löst so eine Identifikations-Logik aus, die mit Mitteln der Fiktion auf der Idee einer Realität niedergeschrieben ist.
Verstätigt wird diese Logik neben der erwähnten Anordnung der Exponate durch weitere unzweifelhafte Faktoren: der Titel der Show „Evidence“, die Nobilitierung durch das in Anspruch genommene Material (Jade, Marmor, Kristall…), die White-Cube-Präsentation mit Vitrinen, Spots, Absperrungen und Alarmierungen, der Ausstellungsort mit nachbarschaftlicher topografischer Bedeutung und die institutionelle Anbindung an die Berliner Festspiele und den Hauptstadtkulturfonds.
Die Ausstellung bedient unsere Klischees von China, sie macht uns unsere Klischees ansichtig, die in Form ausschließlich euphorischer Feedbacks bis ins Gästebuch Einzug halten. Ai ist ein (Re-) Enactment gelungen und zwar ein (Re-) Enactment der Imaginationen des deutschen Publikums, in Gegenständen materialisiert – eine kulturpolitische Konzept-Kunst-Ausstellung, die noch dazu unbemerkt in Form einer Appropriation europäischer Kunstgeschichte auftritt: Die Rezeptionsvorlage macht uns blind, z. B. Ais Videos „Beijing: The Second Ring“ und „Beijing: The Third Ring“ (2005) als Bezug zu Wagners Ring zu deuten, mit denen Ai die Systemstelle einer weiteren Perspektive einbaut: der zweite Ring ist an bedeckten Tagen fotografiert, der dritte Ring an sonnigen. Auch „150h beijng“ von 2003, das in ausgewählten 10 Stunden und 13 Minuten den Chang’an Boulevard in Beijing zeigt und sich geradezu aufdrängt, im Verhältnis zu Wagners Opus magnum mit einer Aufführungsdauer von etwa 16 Stunden und nicht als Dokumentation der Umweltverschmutzung in China rezipiert zu werden, verdeutlicht, dass hier besser wahrnehmungsphysiologische und -psychologische Aspekte, Apperzeption und Perzeption zu diskutieren wäre…
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