Grenzwertbestimmungen des Theatertreffens 2014: Zement von Dimiter Gotscheff

Vor der Pause wirkt „Zement“, Heiner Müllers Theaterstück von 1972 (uraufgeführt am Berliner Ensemble 1973 von Ruth Berghaus) in der Inszenierung von Dimiter Gotscheff wie aus der Welt gefallen: klassisches Sprechtheater, unspektakuläre Bühne und Kostüme, in skulpturalen Posen verhärtete Schauspieler, zäh und anstrengend für das Publikum – vielleicht auch, weil konzentrative Hörarbeit dem Theaterbesucher gegenwärtig nicht häufig abverlangt wird, Text zum Soundteppich umfunktioniert wird.

Nach der Pause ist klar: Das inszenatorische Prinzip ist inhaltliches Programm. Wir stecken, mit Müller formuliert, „bis zum Hals“ in Ideologien (Sozialismus, Kapitalismus, Demokratie) – Beweglichkeit ist ausgeschlossen. Selbst der Theaterboden versucht, Raum zu schließen, Raum zu nehmen und das Publikum zu erdrücken, indem er sich zur 4. Wand aufstellt. Einhergehend wird der Blick in den imaginären Raum (der Theaterbühne, der Utopie, der Zukunft) verstellt. Ein großartiger Einfall für die weiss-grau verstaubte Bühne Ezio Toffuluttis, denn dem Publikum werden gleichzeitig auch die Spuren des Geschehens als Leinwand gegenüber gestellt und ansichtig.

ZEMENT/Residenztheater
Foto: © Armin Smailovic

Zement – grundlegender, transkultureller Baustoff, das macht das Stück, das auf dem Revolutionsroman von Fjodor Gladkow aus dem Jahr 1925 zur Geschichte und den Folgen der russischen Revolution basiert, deutlich, ist zwar zunächst Bindemittel von Einzelelementen (von Personen, Wünschen, Ereignisse…), doch dann verfestigt er sich – bis hin zur maximalen Starre.

Müllers typische Verhandlung von als bürgerlich und problematisch markierten Themenkomplexen (Ehe, Familie, Eigentum, Privatheit) im Textfeld des sozialistischen Utopismus und in Verklammerung durch die griechische Mythologie (hier Prometheus, Herakles und Medea) stoßen mit Gotscheffs Inszenierung von „Zement“ am Münchner Residenztheater auf eine sehr eigene (räumliche) Kontextualisierung. Die aktuellen politischen Ereignisse in der Ukraine, der Gegend, in dem die rezitierten Mythen und „Zement“ spielen, stattet Müllers Dramatisierung, die in den frühen Jahre nach der Sowjetrevolution spielt, darüber hinaus mit einer kaum fassbaren Aktualität aus – nicht zu vergessen die inhaltlichen Bezüge zu nachrevolutionären Zeiten etwa in Ägypten oder Tunesien.

Beeindruckend sind Valery Tscheplanowas Sprach- und Gesangsvariationen (mit und ohne Dialekt, Gesang mit und ohne Text, in verzögerter und flutender Geschwindigkeit), mit denen sie einen Weg aus bzw. in dem Dilemma erprobt; ebenso die sich im Körper materialisierenden Rollen der verhärteten und knorrigen Bibiana Beglau als Dascha und des träumenden und verletzten Sebastian Blomberg als Gleb.

Zum Inhalt: http://www.residenztheater.de/inszenierung/zement

Weitere Besprechungen:

http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=8066:zement–dimiter-gotscheff-wagt-sich-in-muenchen-einmal-mehr-in-einen-woerter-steinbruch-seines-leibdichters-heiner-mueller&catid=38:die-nachtkritik&Itemid=40

http://www.tagesspiegel.de/kultur/interview-mit-bibiana-beglau-zum-theatertreffen-na-dann-mach-doch-die-mieze/9831640.html

http://www.tagesspiegel.de/kultur/eroeffnung-des-berliner-theatertreffens-die-kaempfe-der-gegenwart/9839632.html

Schreibe einen Kommentar