Das Reenactment eines Enactments: Der Sturm auf den Reichstag 2017

Teil 2 des Gastspiels Milo Raus in Berlin startete am 7. November 2017 um 15 Uhr auf der Wiese vor dem Bundestag.

Nachdem vom 3. bis 5.11.2017 in der Berliner Schaubühne das „erste Weltparlament der Menschheitsgeschichte“ tagte, 70 Abgeordente aus 20 Ländern zu Kriegen, Sanktionen, Migration, Drohnen, Klimaschäden, Grenzregimen, Landgrabbing, Korruption, Genoziden, Kolonialfolgen, Überwachungssoftware, Gedächtnispolitiken, Naturparks, Freihandel, genveränderten Maissorten und Antinatalismus vortrugen und über 15 Anträge abstimmten, die Teil der „Charta für das 21. Jahrhundert“ werden sollen, sollte am 7. November 2017, 100 Jahre nach der Einnahme des Winterpalasts, Sitz der russischen Zaren in St. Petersburg, der „Sturm auf den Reichstag“ stattfinden.

Wer annahm, dass hier eine politische Aktion stattfinden sollte, indem das Berliner Reichstagsgebäude gestürmt, Rechte eingefordert und ggf., wie anfänglich wohl auch geplant, den Bundestagsabgeordneten die „Charta für das 21. Jahrhundert“ übergeben würde, damit womöglich wie vor 100 Jahren ein Paradigmenwechsel in Gang gesetzt werden könne, musste enttäuscht sein: Knapp 200 Interessierte waren dem Aufruf gefolgt und fanden sich auf der Wiese vor dem Bundestag, genau genommen an der westlichen Flanke der Wiese (Heinrich-von-Gagern-Straße) mit mehr als einhundert Metern Abstand zum Bundestagsgebäude, ein, versammelten sich um einen mit weiß-roten Plakaten beklebten Kleintransporter („Demokratie für alle und alles“) , verstanden aufgrund schlechter Tonqualität zunächst erst einmal nichts, hörten dann Milo Raus Zusammenfassung der „Generalversammlung“ am Wochenende zuvor und die Aussicht auf eine „Charta für das 21. Jahrhunderts“ in etwa zwei Wochen, vernahmen die Reden einiger Abgeordneter der Generalversammlung und erfuhren nach etwa einer Stunde, dass der „Sturm auf den Reichstag“ ab Mitte der Wiese bis zum Absperrzaun vor dem Reichstag stattfände und man sich abschließend hier wieder zu einem Konzert einfinden würde.

Idee und Ziel des „Sturms auf den Reichstag“ war demnach weniger eine (politische oder soziale) Aktion mit In-situ-Potential, die bildlich dokumentiert würde, sondern hier sollte die repräsentative Dokumentation das Ergebnis sein, die die In-situ-Aktion als Bildmaterial benötigte. Gleiches Verfahren fand vor genau 97 Jahren statt, als der russische Theaterregisseur und -theoretiker Nikolaj Evreinov 1920 den Auftrag erhielt, zum 3. Jahrestag der Oktoberrevolution die Einnahme des Winterpalais nachzustellen. Der Winterpalast, der als Sitz der Regierung unter Ministerpräsident Kerensky diente (heute u. a. Sitz der Museumssammlung Eremitage), wurde in der Nacht zum 7. November 1917 von militärischen Truppen der Bolschewiki um Trotzki, Dserschinski und Stalin reibungslos und unblutig eingenommen, die Wachen legten ohne Widerstand ihre Waffen nieder, Kerenski floh, die anderen Regierungsmitglieder erklärten schriftlich, sich aus der Politik zurückzuziehen und die Regierungsgeschäfte wurden bereits um fünf Uhr morgens von den Bolschewiki unter Führung von Wladimir Iljitsch Lenin übernommen. Evreinov verlegte für sein Enactement drei Jahre später die Einnahme des Regierungssitzes in den helllichten Tag, in eine dynamische und spektakuläre Gruppenatmosphäre sowie zentral vor das Gebäude, obwohl der Haupteingang am linken Ende der Fassade lag. Mit 10.000 Mitwirkenden wurde hier eine mehrstündige Aktion theatral in Szene gesetzt und inhaltlich als „Sturm“ inszeniert und medialisiert, der ein revolutionäres Moment statt einen Putsch einiger Weniger verbildlichte. Aus der einen Fotografie des Theaterereignisses wurde durch die Publikationspolitiken in Schulbüchern, Zeitungsreportagen und Ausstellungen ein historisches Dokument, das mit Eisensteins Spielfilm „Oktober. Zehn Tage, die die Welt erschüttern“, mit Musik von Schostakowitsch 1928  zum bildlichen Gründungsmythos der Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917 werden sollte.

Während die Oktoberrevolution mit einem Schuss aus dem Panzerkreuzer Aurora startete, begann der Sturm  auf der Wiese vor dem Bundestag mit „one, two, run“. Die etwa 200 Beteiligten, mit Fahnen und Plakaten ausgestattet und von Rau zu einem schmalen Keil choreografiert, liefen in, über und an Film- und Fotokameras vorbei und stoppten ihren Lauf laut jubelnd vor den Absperrgittern des Bundestagsgebäudes. „Komm wir machen mit, das macht doch Spaß, mal über die Wiese zu rennen“, war als ein Motiv für die Aktion zu hören, aus dem später repräsentationales Material entstehen wird, dessen Ergebnis noch unbekannt ist, dem aber die Dekonstruktion von Geschichte bereits  über das Reenactment eingeschrieben ist.

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